Der Artikel wurde in der 79. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 01. Juli 2021 veröffentlicht.

McLaren drohte vor wenigen Jahren in seinem eigenen Schatten zu verschwinden. Aus dem einstigen Top-Team war nach dem Abschied von Ron Dennis eine Chaostruppe geworden, die den Erfolgen und der Aura des Briten in keiner Lebenslage mehr gerecht wurde. Dennis hatte das Ruder über 30 Jahre fest in der Hand gehabt, nachdem er 1981 beim sportlich angeschlagenen Rennstall eingestiegen war. Der mit seiner militanten Art nicht immer einfache Visionär erfand McLaren neu und feierte in Partnerschaften mit Porsche, Honda und Mercedes WM-Titel in Serie. Ende 2009 leitete sein Rückzug als Teamchef und der Ausstieg von Mercedes als Anteilseigner den langsamen Niedergang der Legende ein.

2018 erreichte McLaren den Tiefpunkt. Nach der gescheiterten zweiten Honda-Ehe zeigte der Wechsel zu Renault die Versäumnisse in Woking auf, die über Jahre hinweg in die Krise geführt hatten. Die Berichte über die Zustände innerhalb des Teams nahmen bizarre Züge an. Schlagzeilen über Schokoriegel als Boni für Mitarbeiter und eine vermeintliche Revolte des Personals zur Absetzung des Managements machten die Runde. Drei Jahre später ist von diesem Scherbenhaufen nichts mehr zu sehen. McLaren spielt wieder im Konzert der Großen mit, wenn auch nur mit der kleinen Geige.

Der Reality-Check vor vier Jahren war ein nicht zu überhörender Weckruf. 2019 wurde der Resetknopf gedrückt und Altlasten wichen frischem Wind aus allen Richtungen. Plötzlich war McLaren Best of the Rest. Ein Standing, welches das Team auch im Folgejahr verteidigte und in der laufenden Saison erneut mit aller Macht behauptet. Mit Lando Norris als Gast auf dem Podium ist das Versagerimage Schnee von gestern. Stattdessen sind Siegermentalität und Säbelrasseln mit Mercedes und Red Bull angesagt.

Was die Fahrer auf der Strecke zeigen, spiegelt sich in einem neuen Teamspirit wieder, der McLaren zum Sympathieträger macht. Norris war anders als sein neuer Teamkollege Daniel Ricciardo schon Teil des Teams, als es bis zur Nasenspitze in der Krise steckte. "Das was sich am meisten verändert hat, sind die Moral, die Motivation und die Energie. Alle sind einfach happy und lachen mehr. Sie sind mehr darauf aus, den nächsten Schritt zu machen und die Lücke zu Mercedes und Red Bull zu schließen. Erfolg kommt durch Freude", sagt der 21-Jährige.

Der britische Shooting-Star und Publikumsliebling Ricciardo sind die Aushängeschilder eines neuen Teamspirit, der mit einer scheinbar belanglosen Maßnahme seinen Anfang nahm. Als das Team im freien Fall dem Abgrund entgegenraste, übernahm Zak Brown Ende 2016 als CEO die Führungsrolle der Organisation - und verordnete Orange als neue Corporate Identity. Seine Vision von der neuen 'McLaren Brand', wie der US-amerikanische Unternehmer zu sagen pflegt, nahm still und leise Fahrt auf.

Lando Norris bestätigte seinen Ruf als Supertalent, Foto: LAT Images
Lando Norris bestätigte seinen Ruf als Supertalent, Foto: LAT Images

Stück für Stück baute er McLaren von innen heraus neu auf. Der dauerfrustrierte Erfolgsgarant Fernando Alonso wich der Jugend in Form von Lando Norris und Carlos Sainz. Die Entscheidung erforderte Mut zum Risiko. Der 2017 ins Juniorprogramm aufgenommene Norris hatte ein nicht von der Hand zu weisendes Erfahrungsdefizit, während Sainz' Karriere nach einem gescheiterten Gastspiel bei Renault auf der Kippe stand. Doch die neuen Fahrer bewährten sich genauso wie die Führungsriege. An der Spitze des Rennteams wurde Andreas Seidl als neuer Teamchef platziert. Der Bayer räumte hinter den Kulissen mit einem souveränen, transparenten und vor allem kompetenten Führungsstil auf.

Erst dieser Umstand führte dazu, dass Ricciardo sich Anfang 2020 zur Unterschrift entschied. Zwei Jahre zuvor hatte er McLaren in der Krise noch einen Korb gegeben und sich für Renault entschieden. "Es waren nicht nur die Resultate. Ich sehe hier auch eine sehr gute Stabilität innerhalb des Teams und der Infrastruktur. Als ich 2018 mit McLaren sprach, war Andreas [Seidl] noch nicht da. Es gab da ziemliche Unklarheiten. Sie waren noch dabei, ihre eigene Struktur zu errichten und die haben sie jetzt wirklich etabliert", so der siebenmalige Grand-Prix-Sieger, der bis einschließlich 2023 unter Vertrag steht.

Das neue Teamgefüge und die Achtungserfolge der jüngsten Vergangenheit haben die nächste Stufe in McLarens Wiederaufbau eingeleitet. Sowohl Seidl als auch Brown treten bei politischen Debatten zunehmend selbstbewusst auf, um die Interessen ihres Teams gegen die Werksteams durchzusetzen. Vor allem mit Blick auf das 2022 neue technische Reglement ist ihnen daran gelegen, eine günstige Ausgangslage zu schaffen. Als Best of the Rest steht McLaren mit Blick auf den Reset sowie die seit diesem Jahr geltende Budgetobergrenze als heißester Anwärter darauf, die Lücke zu den Top-Teams zu schließen.

Als Einzelkämpfer sieht sich das Team allerdings in einer schwierigen Position, die Weichen für die Zukunft zu stellen. Die in der Königsklasse mittlerweile weitverbreitete Konstellation aus Werks- und Kundenteams blockiert mit Absprachen die Interessen eigenständiger Wettbewerber wie McLaren. Haas und Alfa Romeo stimmen in der Formel-1-Kommission regelmäßig im Sinne von Partner Ferrari ab. Die Lagerbildung findet nicht nur bei den Italienern statt. Mercedes steht im Technologietransfer mit Aston Martin und Williams, während Red Bull durch AlphaTauri seit jeher ein zweites Team sein Eigen nennt. Brown sah sich deshalb im Frühjahr zu einem offenen Brief gezwungen, indem er die Bündnisse öffentlich anprangerte.

Die Orangenen stellen auch abseits der Strecke wieder Ansprüche, Foto: LAT Images
Die Orangenen stellen auch abseits der Strecke wieder Ansprüche, Foto: LAT Images

"Der Anstieg an Partnerschaften zwischen Teams ist ungesund für den Sport. Es ist nicht im besten Interesse des Wettbewerbs, wenn zwei oder sogar drei Rivalen ihren Einfluss teilen und sich strategisch gleichschalten", so der 49-Jährige. Wenn McLaren aus eigener Kraft wieder um die Weltmeisterschaft fahren will, muss die Formel 1 seiner Meinung nach wieder die Mentalität der Ära Bernie Ecclestones verinnerlichen. Beim Briten galt die Devise friss oder stirb. Wer bei seinen Regeln nicht mitspielen wollte, konnte zuhause bleiben.

Brown will klare Verhältnisse statt Lobbyarbeit der Hersteller: "In anderen Sportarten haben die Offiziellen die Entscheidungsgewalt, denn ihr Fokus liegt immer darauf, was im besten Interesse des Sports ist. Dies sollte auch in der Formel 1 der entscheidende Faktor sein." Spätestens seit dieser Ansage ist klar, dass Brown nicht nur der kalifornische Kumpeltyp eines CEO ist, den Norris während seines Twitch-Streams mal eben anruft, um Jokes am Telefon zu machen. Der ehemalige Amateurrennfahrer und erfolgreiche Geschäftsmann teilt seinen Ehrgeiz und die politische Sattelfestigkeit mit Kalibern wie Mercedes-Boss Toto Wolff.

Die Einflussnahme der Teams ist nicht Browns einziger Kritikpunkt. Dass die Rivalen gerne mit technisch veranlagtem Personal versuchen, in die Entscheidungen einzugreifen, ist ihm ebenfalls ein Dorn im Auge. "Wenn ich mir die zehn Leute, die um den Tisch sitzen, ansehe, dann haben diese mehrheitlich einen technischen Hintergrund. Da gibt es wenig kommerzielle Expertise für Menschen, die viele große Entscheidungen treffen müssen", sagt er. "Die kommerziellen Seite, die Wichtigkeit der Fangemeinde und Unterhaltung sind genauso wichtig, ihnen wird aber nicht dieselbe Zeit gewidmet."

Seinem eigenen Background entsprechend hält er sich aus Fragen des technischen Reglements heraus und überlässt dieses Spielfeld dem Teamchef. Seidl war von 2000 bis 2009 als Ingenieur bei BMW in der F1 tätig und leitete danach unter anderem das LMP1-Projekt von Porsche. Der 45-Jährige ließ sich zu Beginn seiner Amtszeit im Hause McLaren ähnlich wie Brown viel Zeit zur Orientierung. Mittlerweile hat sich auch bei ihm der Wind gedreht. Als zwischen Mercedes und Red Bull der Streit um flexible Flügel losgetreten wurde, blieb Seidl kein stiller Beobachter.

McLaren setzte 2021 mit Sonderlackierungen auch optisch Zeichen, Foto: LAT Images
McLaren setzte 2021 mit Sonderlackierungen auch optisch Zeichen, Foto: LAT Images

Die FIA räumte den betroffenen Teams eine Frist von rund zwei Monaten ein, bis die Flügel die verschärften Tests zwingend bestehen müssen. Für McLaren ein Unding, denn Nachteile gegenüber den Großen will sich die Truppe schon jetzt nicht gefallen lassen. "Sie hatten den Vorteil bereits für einige Rennen, darüber sind wir nicht glücklich. Ihnen jetzt zu erlauben, für einige Rennen weiterhin einen Vorteil daraus zu ziehen, damit sind wir ebenfalls nicht glücklich. Ich bin kein großer Fan davon. Wir sind im Dialog mit der FIA. Wir müssen sicherstellen, dass die Teams, die solche Teile designt haben, diese von jetzt an nicht mehr nutzen dürfen", so Seidl.

McLaren hat allen Grund, auch ohne WM-fähiges Auto auf sein Recht zu bestehen. Die Ingenieure meisterten beim MCL35M den Umstieg von Renault auf Mercedes reibungslos und mit Norris in Top-Form lag dieses Jahr schon mehrfach eine kleine Sensation in der Luft. In Imola hätte er beinahe die Pole Position geholt und stand am Sonntag als Dritter auf dem Podest. In Monaco brillierte er bei seiner nächsten Fahrt auf das Treppchen ebenfalls. Das Supertalent ist in seinen zwei Jahren mit McLaren zum Teamleader herangereift.

Der 21-Jährige will das in ihn gesetzte Vertrauen langfristig zurückzahlen: "Ich will der Kerl sein, der das Team anführt und für viele Jahre da war. Der durch die schlechten Zeiten gegangen ist und der es war, der für die guten Zeiten gesorgt hat. Ich habe da schon dieses Jahr einen Schritt gemacht. Ich bin jetzt ein anderer Fahrer und übernehme mehr Verantwortung." Nicht aus Mangel an Perspektiven bei den Top-Teams, sondern aus Überzeugung unterzeichnete Norris im Mai eine langfristige Vertragsverlängerung.

Er will McLaren zurück zu alter Größe führen und in den Farben des Teams sein ultimatives Ziel erreichen. Anstelle krampfhaft nach einer Abkürzung in Form eines Vertrages bei Mercedes oder Red Bull zu suchen, akzeptiert er, dass es unter diesen Voraussetzungen länger dauern könnte. "Ich bleibe gerne ein paar Jahre. Es muss nicht gleich die nächsten Jahre passieren. Das ist mehr ein Endziel", so Norris. Neben der guten Perspektive der Organisation setzt er dabei auch auf Nestwärme, die ihm bisher die Möglichkeit gab, zu lernen und zu wachsen: "Das ist für mich ein großer Teil. So sehr ich gerne Rennen und Meisterschaften gewinnen will, will ich auch genießen, wo ich bin."

Seidl ist überzeugt, dass Norris es mit Kalibern wie Lewis Hamilton oder Max Verstappen aufnehmen kann: "Es ist beeindruckend und es super zu sehen, welche Schritte er gemacht hat. Das muss er auch, wenn er ein Großer werden will in diesem Sport. Ich bin glücklich darüber, die nächsten Jahre mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir werden noch viel Freude an ihm haben." Das Ausnahmetalent aus Bristol ist bei McLaren trotz der Lobeshymnen nicht das Äquivalent zu den Superstars wie bei Mercedes oder Red Bull.

Zak Brown hat McLaren wieder salonfähig gemacht, Foto: LAT Images
Zak Brown hat McLaren wieder salonfähig gemacht, Foto: LAT Images

Mit Ricciardo ist erstmals seit Alonsos Abschied wieder ein Grand-Prix-Sieger unter Vertrag, der zudem Erfahrung aus einem Top- und einem Werksteam mitbringt. Die Anlaufschwierigkeiten des Neuzugangs lassen Seidl nicht im Geringsten an dessen Qualitäten zweifeln. Der Blick ist auch in dieser Hinsicht unbeirrt auf die Zukunft gerichtet: "Wir wissen alle, dass er es kann, und er hat viel Vertrauen ins Team und wir schaffen das schon. Es braucht nur Zeit. In ein paar Rennen werden wir über diese Probleme nicht mehr reden."

Die neugewonnene Stärke lässt McLaren zu Recht daran glauben, jedes Hindernis überwinden zu können. Das Orange mutete zunächst wie eine fixe Idee an, doch die Rückkehr zu den Farben von Gründer Bruce McLaren steht für viel mehr. Durch die Verwandlung schüttelte er zwar die erfolgreiche Identität von Dennis ab, aber auch die von dessen gescheiterten Nachfolgern. Die Mischung aus britischer Tradition und dem von Brown vorgelebten American Way of Life steht für eine neue Ära in der langen Geschichte des legendären Rennstalls. Das Imperium ist zurück.

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