Nachdem man lange Zeit den Eindruck gewinnen konnte, dass die DTM-Saison 2020 etwas vor sich hin plätscherte, alle etwas netter als sonst üblich miteinander umgingen und man schon froh sein musste, dass Rennen unter der schwelenden Corona-Krise überhaupt ausgetragen werden können, ist im Endspurt des Jahres erstmals öffentlich Feuer unterm Dach.

Im Sonntagsrennen von Zolder war Jamie Green der Stein des Anstoßes. Der erfahrene Brite und Rosberg-Teamkollege von Rene Rast setzte sich beherzt gegen dessen Titelrivalen Nico Müller zur Wehr und brachte damit sogar den sonst so besonnenen Abt-Teamchef Thomas Biermaier am Kommandostand auf die Palme.

Während es in der Vergangenheit der DTM Gang und Gäbe war, dass sich Hersteller und Teams gegenseitig mit Taktikspielchen auszubremsen versuchten, war das in dieser Saison bislang kein großes Thema gewesen. Die Titelkandidaten standen ohnehin schon nach wenigen Rennen fest, während der Rest des Audi-Feldes dank reglementiertem Teamorder-Verbot weder 'Freund noch Feind' kannte und BMW konkurrenzlos hinterherhechelte.

Greens Aktion gegen Müller war sozusagen der erste Aufreger überhaupt im Titelkampf zwischen den Audi-Teams Abt Sportsline (Müller, Frijns) und Rosberg (Rast, Green) - wobei der jahrelange DTM-Titelgeheimfavorit als Einziger in diesem Quartett überhaupt nichts mit der Meisterschaft zu tun hat.

DTM-Chef Berger: Green hat übertrieben

War Greens Einsatz gegen Müller zu hart? DTM-Chef Gerhard Berger schaltete sich in die Diskussion ein und wurde in einer Pressemitteilung zitiert: "Das Duell zwischen den beiden Audi-Teams Abt und Rosberg ist hochspannend, obwohl es Jamie Green heute mit der Schützenhilfe für Rene Rast aus meiner Sicht etwas übertrieben hat. Ich bin der Meinung, dass man Fahrer, die im Titelkampf sind, frei kämpfen lassen sollte."

Dass sich Green nach seinem Boxenstopp in Runde 14 mit kalten Reifen gegen den heraneilenden Müller (Boxenstopp in Runde 12) verteidigte, war aus sportlicher Sicht sein gutes Recht. Aber: In der ersten Schikane (Turn 5) kürzte der Brite ab und behielt dadurch die Führung. Während sich Müller sofort am Funk aufregte ("Fucking Idiot"), verteidigte Green weiter und ließ den Schweizer nach einer vorigen Anordnung der Rennleitung auf der Start/Ziel-Geraden vor Kurve 1 passieren.

DTM Zolder: Feuer-Unfall und Dreifach-Crash im Video (02:06 Min.)

Auffällig späte Ansage an Green

Green versicherte, dass er die Anweisung zum Platztausch erst auf Start/Ziel von seinem Renningenieur erhalten habe. Dieser Weg ist der übliche Vorgang, nachdem die Rennleitung das Team und nicht den Fahrer kontaktiert. Der späte Zeitpunkt des Funkspruchs an Green verwundert allerdings: Zwischen dem Abkürzen in der Schikane und dem Vorbeilassen lagen sechs Kurven und praktisch die Hälfte der 4 Kilometer langen Rennstrecke.

Aufgrund der relativ eindeutigen Situation (Abkürzen in der Schikane mit Vorteil) muss man davon ausgehen, dass die Anweisung der Rennleitung das Rosberg-Team wesentlich früher erreichte und möglicherweise erst auf Nachdruck ausgeführt wurde. Green dazu: "Am Samstag hat Glock die letzte Schikane abgekürzt, fuhr dann hinter mir und ich musste den Platz zurückgeben. Diesmal war ich nach der Schikane vorne. Diese Situation sind nie wirklich klar, man muss auf das Urteil des Renndirektors warten."

Warum Green im Zweikampf mit Müller in der Turn-5-Schikane abgekürzt hatte, erklärte er mit seinem Unfall im Samstagsrennen, als er an gleicher Stelle von Philipp Eng abgeräumt worden war: "Am Samstag habe ich versucht, in Turn 5 außen zu fahren, wurde aber gedreht. Ich wollte nicht, dass das noch einmal passiert und entschied deshalb, nicht einzulenken."

Abt-Teamchef Biermaier: Das ärgert mich

Abt-Teamchef Biermaier blieb auch einige Stunden nach dem Rennende bei seiner Meinung und empfand Greens Manöver als unfair. In einer kleinen Medienrunde sagte er: "Ich habe meine Meinung nicht geändert. Bis zur ersten Schikane war es okay, dann hat er sie geschnitten. Es war klar, dass er die Position zurückgeben muss. Es macht keinen Sinn, so gegen Nico zu kämpfen. Das ärgert mich. Nico hat viel Zeit verloren und auch Jamie hat Plätze verloren. Die Aktion war nicht korrekt."

Während Müller hinter Zolder-Vierfachsieger Rene Rast auf den zweiten Platz fuhr, erzielte Green mit Platz fünf sein bestes Ergebnis seit zehn Rennen (P4 in Lausitzring 4).

Biermaier weiter: "Wir haben die ganze Saison fair gespielt. Es gab viele Male, wo wir mit Rene und der Strategie ein bisschen unfair hätten sein können. Das haben wir aber nicht gemacht. Wenn wir in Hockenheim gewinnen wollen, dann fair. Das ist unser Ziel und wir geben nicht auf."

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Frijns: Werde Nico das Leben nicht schwer machen

Vor dem großen Saisonfinale auf dem Hockenheimring (06.-08. November, ohne Zuschauer) führt Rast die Meisterschaft mit 19 Punkten Vorsprung auf Müller an. Die Rolle der jeweiligen Teamkollegen dürfte bei den letzten beiden Rennen des Jahres noch einmal ganz genau unter die Lupe genommen werden.

Müller-Teamkollege Robin Frijns, der nach zwei Ausfällen in Zolder mit 42 Punkten Rückstand nur noch rechnerische Titelchancen hat: "Das könnte nach dem ersten Rennen schon vorbei sein. Ich kann Nico dann nicht helfen, wenn er Probleme hat. Wenn es aber um Positionen geht, werde ich ihm das Leben nicht so schwer machen, wie es andere heute (Sonntag) gemacht haben."

Müller selbst wollte Green nicht öffentlich vorwerfen, Rast im Titelkampf zu unterstützen. Von der Aggressivität unter Audi-Markenkollegen - es soll zu zwei Berührungen gekommen sein - zeigte sich der Schweizer aber enttäuscht: "Für mich war das über der Grenze. Ich werde mich mit ihm darüber unterhalten. Er hatte kein leichtes Jahr und wenn er die Chance aufs Podium sieht, dann fährt er eben die Ellbogen aus."

Jetzt ist endlich Feuer im Titelkampf

Die Green-Müller-Aktion sorgte für rege Diskussionen unter Experten und Beobachtern der Szene. Einheitliche Meinung: Jetzt ist endlich Feuer drin im DTM-Titelkampf! Unterdessen versuchte der erfahrene Audi-Pilot Mike Rockenfeller etwas Ruhe reinzubringen. Er selbst hatte nach seinem Boxenstopp in Runde 13 mit kalten Reifen auf harte Manöver gegen seine Audi-Markenkollegen verzichtet.

Der DTM-Champion von 2013 aus dem Phoenix-Team: "Ich verstehe beide Seiten. Für Nico ist es keine leichte Situation, weil ihm die Meisterschaft ein bisschen davonläuft. Ich war fair zu ihm und wollte nicht so hart eingreifen wie Jamie. Das ist aber auch anders, denn er ist Renes Teamkollege. Und niemand gibt den Titel so einfach weg. Es war klar, dass es harte Fights geben würde. Andersherum wäre es genauso gewesen und Jamie kann Nico nicht einfach vorbeiwinken. Ich will nicht der Fahrer sein, der in dieser Phase der Meisterschaft eingreift, aber für mich ist das keine große Story."