Es war eine der diskutabelsten Situationen während des 6-Stunden-Rennens der WEC in Spa-Francorchamps: Zur Rennmitte sorgte Ferrari für Aufsehen und Stirnrunzeln, als die beiden 499P der späteren Sieger Antonio Giovinazzi, Alessandro Pier Guidi und James Calado in der Boxengasse plötzlich die Plätze mit dem bis dato führenden Schwesterauto #50 (Fuoco, Molina, Nielsen) tauschten.
Der #50 Ferrari mit Miguel Molina am Steuer lag während der zweiten Safety-Car-Phase vor dem Schwesterauto, fuhr in der Boxengasse aber kurz rechts zur Seite und ließ den nachfolgenden Markenkollegen Antonio Giovinazzi passieren. Den 'Swap' (Wechsel) hatten die Ferrari-Strategen angeordnet, um die beiden Autos bei der Boxenanfahrt in die richtige Reihenfolge zu führen: Weil der Boxenplatz des #51 Autos direkt hinter dem des Schwesterautos positioniert war, wäre es andersherum eng geworden bei der Abfertigung.
Stunden nach Rennende: Ferrari entgeht Strafe
Ferraris Aktion war durchaus heikel, schließlich gilt in den engen Boxengassen samt viel Personal das höchste Sicherheitsgebot. Die Rennleitung schaute sich den Vorfall an, ließ die Öffentlichkeit aber lange Zeit im Unklaren. Erst zwei Stunden nach dem Rennende entschieden die Sportkommissare, dem später Zweitplatzierten #50 Ferrari eine Verwarnung zu erteilen, die keine sportlichen Konsequenzen nach sich zog.
Dabei deuteten Auszüge aus der Urteilsbegründung der Stewards durchaus auf einen Verstoß der schwereren Sorte hin. So hieß es: "Nach Ansicht der Sportkommissare stellt dies einen Missbrauch der Boxengasse dar, da diese kein Ort ist, an dem Überholmanöver zwischen Konkurrenten stattfinden sollten. Darüber hinaus stellten die Sportkommissare fest, dass das Manöver unter Missachtung der Sicherheit in der Boxengasse und ohne Zustimmung oder gar Wissen der Rennleitung durchgeführt wurde."
Zudem habe der #50 Ferrari nach seinem Ausweichmanöver beim Wiedereinfädeln in die Fast Lane den nachfolgenden #20 BMW M Hybrid V8 von Robin Frijns behindert, sodass der Niederländer bremsen musste, um eine Kollision zu vermeiden. Die Auswertung der Videoaufnahmen und des Funkverkehrs habe eindeutig gezeigt, dass das Ferrari-Manöver den Zweck eines Positionstauschs in der Boxengasse gehabt habe, nachdem die beiden Autos während der laufenden Safety-Car-Phase dies nicht auf der Rennstrecke vornehmen konnten.
Alle Hintergründe zum WEC-Rennen in Spa findest du in unserem aktuellen News-Video! Weitere Infos aus der Welt der Langstrecken-WM, DTM und Co. findest du auf unserem neuen YouTube-Kanal
Boxengassen-Tausch in Spa: Auch BMW kommt heil davon
Ferrari war in dieser Situation nicht der einzige Hersteller, der einen kontrovers diskutierten Boxengassen-Swap vollführte. Auch BMW entschied sich aus den gleichen Beweggründen für eine solche Aktion, wobei hier Kevin Magnussen nach der Einfahrt in die Boxengasse kurz im Scrutineering-Bereich stoppte, um Markenkollege Frijns passieren zu lassen. Der frühere Formel-1-Fahrer Magnussen kam ebenfalls mit einer Verwarnung davon.
Bei Ferrari schien man nicht zu 100 Prozent sicher zu sein, ob der Boxengassen-Tausch eine echte Bestrafung nach sich ziehen würde. "Es gab eine Verwarnung, aber es hätte auch eine Strafe sein können", räumte Ferraris Chef-Renningenieur Giuliano Salvi während einer Medienrunde nach dem Rennen ein. Eine mögliche 5-Sekunden-Zeitstrafe habe eine Rolle in den Überlegungen zum weiteren Rennverlauf gespielt, erklärte der frühere Formel-1-Ingenieur.
Ferrari erklärt: Falsche Boxenanfahrt wäre "Desaster" gewesen
Eine Strafe, die man bei Ferrari offenbar bereit war in Kauf zu nehmen, denn: Wären die Autos in verkehrter Reihenfolge an die Boxenplätze gefahren, hätte das in einem "Desaster" enden können. Salvi: "Wenn man es in der falschen Reihenfolge macht, dauert das sehr lange, weil man das Auto in Position bringen muss. Man muss beide Autos auf Rollhebern verschieben, und das zweite Auto muss nach dem Service wieder zurückgezogen werden. Das wäre ein Desaster für uns gewesen."
Während die meisten Beobachter verblüfft waren über das höchst ungewöhnliche und von den TV-Kameras eingefangene Ferrari-Manöver, "haben wir so etwas schon in der Vergangenheit gesehen", versicherte Salvi. "Das ist etwas, über das wir vermutlich sprechen müssen."
Erlaubt oder nicht? WEC-Reglement weist Lücken auf
Im Sportlichen Reglement ist nicht genau formuliert, ob ein solches Verhalten erlaubt ist. Ferrari und BMW hatten allgemein gegen den Artikel 4.1.1 ("Unsportliches Verhalten") verstoßen. Laut Artikel 12.1. dürfen Autos ihren Boxenplatz nicht so anfahren oder verlassen, dass es für Boxengassen-Personal oder andere Wettbewerber gefährlich sein könnte. Darüber kann man bei Molinas Fahrt über die sogenannte 'Blending Lane', die blaue Spur zwischen der Fast Lane und dem Arbeitsbereich, durchaus streiten.
In der WEC ist die Boxengasse je nach Beschaffenheit in drei Bereiche aufgeteilt: die 'Fast Lane', die 'Blending Lane' - auch Beschleunigungs- und Verzögerungs-Linie genannt - sowie die 'Working Area', in der die Boxencrew-Mitglieder die Autos abfertigen. Laut Reglement haben Autos in der Fast Lane Priorität gegenüber Autos in der Blending Lane und im Arbeitsbereich. Ferrari hatte womöglich Glück, dass BMW-Fahrer Frijns nach seinem Bremsmanöver gegen die #50 direkt an seinen eigenen Boxenplatz abbog und somit nicht wirklich aufgehalten wurde.
Hätte der #50 Ferrari anstelle der Verwarnung etwa eine 5-Sekunden-Strafe kassiert, hätte sich das - unabhängig vom möglicherweise veränderten Rennablauf - aufs Ergebnis ausgewirkt. Schlussfahrer Nicklas Nielsen, der sich mit 0 Prozent verbleibender, virtueller Stint-Energie und 0,919 Sekunden Vorsprung als Zweiter über den Zielstrich geschleppt hatte, wäre hinter den #36 Alpine A424 von Mick Schumacher auf den dritten Platz zurückgefallen.
Ob Mick Schumacher und Alpine wirklich die Chance hatten, Ferrari den Sieg in Spa-Francorchamps abspenstig zu machen, haben wir in diesem Artikel analysiert:
diese WEC Nachricht