Nach mehr als zwei Jahren Abwesenheit ist der frühere Audi-Motorsportchef Dieter Gass jetzt an den Kommandostand zurückgekehrt. Beim Saisonstart der WEC in Sebring an diesem Wochenende gibt der gebürtige Hesse sein Debüt als Teamchef beim ambitionierten Team JOTA. Der erfolgreiche Rennstall aus Großbritannien startet in den ersten Rennen der diesjährigen Langstrecken-Weltmeisterschaft mit LMP2-Autos und wechselt im weiteren Verlauf der Saison mit einem Porsche 963 in die Hypercar-Topklasse.
Mit der WEC ist Gass, der am Montag, 20. März seinen 60. Geburtstag feiert, bestens vertraut: Als Audi-Einsatzleiter gewann er drei Mal die 24 Stunden von Le Mans (2012, 2013, 2014) sowie zweimal die Fahrer- und Hersteller-Meisterschaft bis zum Werksausstieg Ende 2016. Unter Gass' Führung als Audi-Motorsportchef folgten vier Fahrer- und fünf Markentitel in der DTM sowie eine Team-Meisterschaft in der Formel E, bis er am 30. November 2020 völlig überraschend durch Julius Seebach abgelöst wurde.
Mit dem zweiten Startplatz in der LMP2-Klasse ist JOTA und Neuverpflichtung Gass in Sebring ein hoffnungsvoller Auftakt in die WEC-Saison 2023 gelungen, in der das baldige Porsche-Kundenteam auf Schwergewichte wie Ferrari, Peugeot oder die fünfmaligen Le-Mans-Sieger von Toyota treffen wird. Ein weiterer Coup: Mit der Bekleidungsmarke von Football-Legende Tom Brady hat JOTA neben dem Mietwagenunternehmen Hertz noch einen höchst prominenten Sponsor an Land gezogen.
Herr Gass, willkommen zurück am Kommandostand! Wie fühlt es sich an, als WEC-Teamchef von JOTA wieder aktiv im Motorsport zu sein?
Dieter Gass: Es ist sehr schön, wieder im Motorsport tätig zu sein, und das in einer verantwortlichen Position. Sicherlich hat es meine Frau sehr genossen, dass ich auch mal zuhause bin, und die Kinder haben sich genauso gefreut. Irgendwann musste es aber auch beruflich weitergehen. Für mich war klar, dass ich auf jeden Fall im Motorsport bleiben will. Ich stoße bei JOTA zu einem Team mit einer bestehenden Struktur und in den ersten Rennen der WEC-Saison setzen wir zwei LMP2-Autos ein, während im Hintergrund die Arbeiten am LMDh-Projekt mit dem Porsche 963 laufen. Das bietet eine gute Gelegenheit, um mich einzuarbeiten und das Team noch besser kennenzulernen. Ich würde also von einem 'Soft Landing' sprechen.
Wie kam es zum neuen Job bei JOTA, das im weiteren Verlauf der WEC-Saison 2023 mit einem LMDh-Porsche 963 antreten wird?
Dieter Gass: David Clark (JOTA-Mitbesitzer; d. Red.) hatte mich schon Mitte des Jahres 2021 kontaktiert. Damals war seitens JOTA mit Porsche noch nichts unterschrieben, aber er hatte die Vision, mit einem LMDh-Auto von Porsche in der WEC antreten zu wollen. In der gesamten Zeit war David der Einzige, der immer genau das gemacht hat, was er gesagt hat. Aus einem losen Kontakt hat sich das Thema weiterentwickelt und wir haben uns häufiger ausgetauscht. Übrigens: David war der Besitzer des Audi R8, an dem ich im Jahr 2000 als Renningenieur gearbeitet habe!
Sie kehren zu einer Zeit in die WEC zurück, in der dank Marken wie Ferrari, Porsche oder Peugeot aktuell ein großer Hype herrscht. Wie nehmen Sie die Atmosphäre beim 'Super Sebring', dem gemeinsamen Rennwochenende von WEC und IMSA, wahr?
Dieter Gass: Das ist Wahnsinn! Das Fahrerlager hier ist riesengroß und ewig lang mit all den Teams aus der WEC und der IMSA. Die Anzahl der Fahrzeuge ist wirklich beeindruckend. Der Wettbewerb auch in der LMP2-Klasse ist extrem eng. Im Prolog und bei den Freien Trainings haben wir die eine oder andere kleine Änderung vorgenommen, die große Auswirkungen auf das Ergebnis hatte. Es ist neu im Reglement, dass die Reifen nicht mehr vorgewärmt werden dürfen. Das ist ein großes Thema im Fahrerlager und man muss aufpassen, sowohl die Vorder- als auch die Hinterachse zur gleichen Zeit ins richtige Temperaturfenster zu bekommen.
In einem der beiden JOTA-LMP2 startet mit David Beckmann der einzige Deutsche in dieser Kategorie. Wie kam es dazu?
Dieter Gass: Wir haben geschaut, welche guten Fahrer mit einer Silber-Einstufung verfügbar sind. Dabei ist uns David ins Auge gestochen. Er hat sich sehr gut ins Team eingefügt und startet auch beim zweiten Saisonrennen in Portimao für uns. Ich kannte David noch aus der Vergangenheit, als wir ihn für die Formel E bei Audi auf dem Radar hatten, es aber nicht zu einer Zusammenarbeit kam.
Wie sehen Sie ihre kommenden Jahre im Motorsport?
Dieter Gass: Mit 59 Jahren bin ich in einer Phase, in der es aus beruflicher Sicht nicht mehr ewig weitergehen wird. Das bringt mich in eine Position, in der es in erster Linie darauf ankommt, dass ich etwas mache, was mir wirklich Spaß bereitet - und wo ich mich mit möglichst wenigen oder am besten mit gar keinen Nebenkriegsschauplätzen beschäftigen muss, die überhaupt nichts mit meinem Business zu tun haben. Das ist in einem großen Unternehmen naturgemäß der Fall. Diese Lockerheit habe ich in meinem Leben bislang nur einmal gehabt, nämlich bei meiner ersten Arbeitsstelle nach dem Studium bei Bugatti. Und wissen Sie was?
Ja, bitte?
Dieter Gass: Ich wäre 1994 beinahe bei den 24 Stunden von Le Mans gefahren! Michel Hommell hatte damals die Idee, mit Bugatti nach Le Mans zurückzukehren. Ich war zu dieser Zeit als Projektkoordinator für den Renn-Bugatti EB 110S tätig und saß wegen meiner Vergangenheit als Rennfahrer bei mehreren Testfahrten selbst am Steuer. Für das 24-Stunden-Rennen waren Eric Hélary, Alain Cudini und Jean-Pierre Malcher als Fahrer vorgesehen. Dann kam plötzlich ein Fax von Malcher, in dem stand, dass er krank sei und nicht fahren könne. Hélary und Cudini wollten das Rennen nicht zu zweit bestreiten und es kam die Idee auf, dass ich einspringen könnte. Wir haben sogar bei der ONS (heute als DMSB bekannt; d. Red.) angefragt, ob ich eine B-Lizenz haben könne, weil ich damals nur eine C-Lizenz hielt. Da hieß es allerdings, dass meine motorsportlichen Erfolge schon zu weit zurücklägen und so wurde die Ausstellung verweigert. Nachdem mein einstiger Traum, in der DTM zu fahren, nicht geklappt hatte, wäre Le Mans natürlich toll gewesen. Rückblickend war es aber wahrscheinlich besser, weiter meinem eigentlichen Job bei Bugatti nachzugehen.
Vom Motorsportchef eines großen Autobauers zum Teamchef eines Kundenteams: Muss man das als beruflichen Abstieg verstehen?
Dieter Gass: Auf dem Papier kann man das so sehen, wenn man möchte. Aber wie gesagt: Ich wollte etwas machen, das mir Spaß bereitet. Und ich bin sicher, dass das bei JOTA in dieser Struktur und mit den handelnden Personen auch der Fall sein wird. Das ist eine super Challenge und eine sehr interessante Aufgabe. Mein Herz hängt sowieso am Sportwagen-Motorsport. Und wissen Sie, was mein Lieblings-Rennwagen ist?
Wir hätten jetzt auf den Prototypen-Audi R8 getippt...
Dieter Gass: Tja, so kann man sich täuschen. Es ist der Porsche 917! Daran sieht man, wie weit die Liebe für den Sportwagen-Sport bei mir zurückführt. Und für eine noch zu bestimmende Zeitdauer sehe ich wirklich wieder eine Hochphase kommen für diese Kategorie. Die Anzahl der Hersteller, die sich am LMDh- und LMH-Konzept beteiligt, ist faszinierend.
Porsche hat angekündigt, dass die LMDh-Kundenautos Ende April an die Teams ausgeliefert werden. Ist der erste Renneinsatz beim 6-Stunden-Rennen in Spa-Francorchamps am 27. April 2023 realistisch?
Dieter Gass: Spa ist der Plan. Ich hoffe, dass alles rechtzeitig mit dem Porsche klappt. Es wird eine große Herausforderung, das Auto innerhalb kurzer Zeit kennenzulernen und sich darauf einzustellen.
Kann das Team mit dem Porsche 963 vor Spa überhaupt testen?
Dieter Gass: Wir haben noch keine genauen Termine. Vor Spa werden wir das voraussichtlich nicht schaffen. Vor dem 24-Stunden-Rennen in Le Mans sind aber Testfahrten vorgesehen.
Wie sehen die Synergien mit Porsche Motorsport aktuell aus?
Dieter Gass: Zunächst habe ich Kontakt zu Urs Kuratle (Porsche-Leiter Werksmotorsport LMDh; d. Red.) aufgenommen, den ich aus gemeinsamen Zeiten in der Formel 1 kenne. Es geht im ersten Schritt darum, den technischen Kontakt und Austausch aufzubauen, um das Auto vernünftig einsetzen zu können.
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