Jorge Martin kam in weltmeisterlicher Form aus der MotoGP-Sommerpause 2024 zurück. In sieben Rennen - vier Sprints und drei Grand Prix in Silverstone, Spielberg, Aragon und Misano - sammelte er 99 von 123 möglichen WM-Punkten. Martin wurde zurecht mit Lob überschüttet. Er bewies in diesen Wochen nicht nur den für ihn üblichen Speed, sondern handelte auch beeindruckend reif und abgebrüht. Nichts schien ihn aus der Bahn werfen zu können. Ein Gefühl, dem er sich wohl auch selbst nicht verwehren konnte.
Jorge Martin: Der fast perfekte Rennfahrer
Martin ist mit allen Eigenschaften gesegnet, die große Rennfahrer ausmachen. Er ist selbstbewusst. Er ist stur. Und er ist mutig. Befindet er sich in einem Erfolgslauf, können ihn diese für einen Athleten positiven Charakterzüge aber auch zu sehr beherrschen und zum Hemmschuh werden. So auch im MotoGP-Rennen am Sonntag in Misano.
Bei einsetzendem Regen befand sich Martin in idealer Position. Er lag auf Platz zwei hinter seinem direkten WM-Rivalen Francesco Bagnaia, der in der Gesamtwertung mit 26 Punkten Rückstand unter Zugzwang stand. Das machte die grundsätzlich schwierige Entscheidung für oder gegen einen Boxenstopp im Fall von Martin eigentlich einfach. Er hätte lediglich Bagnaias Strategie folgen müssen und hätte so wohl schlimmstenfalls eine Hand voll Punkte auf ihn verloren.
Jorge Martin geht volles Risiko
Doch Martin dachte, die Bedingungen besser lesen zu können als Lokalmatador Bagnaia, der wenige Kilometer vom Misano World Circuit Marco Simoncelli entfernt in Tavullia lebt. Ein Irrglaube, der sich rächen sollte. Bagnaia blieb mit Slicks auf der Strecke, während Martin auf Regenreifen wechselte. Die Strecke war dafür aber nie nass genug, Martin musste seinen Fehler schnell einsehen und kam zum erneuten Boxenstopp an die Box. Ein enttäuschender 15. Platz und 19 verlorene Punkte auf Bagnaia waren das Ergebnis.
Martin ist immer dann am verwundbarsten, wenn er scheinbar unantastbar ist. Dann trifft er unnötig riskante Entscheidungen wie am Sonntag in Misano oder im Vorjahr beim Rennen auf Phillip Island, als er sich für eine konträre Reifenwahl zu seinen Rivalen entschied und in der Schlussphase völlig unterging.
Jorge Martins Kampf um Anerkennung
"We are not here to take part. We are here to take over", hat sich Martin auf seinen Oberarm tätowieren lassen. "Wir sind nicht hier, um teilzunehmen. Wir sind hier, um zu übernehmen." Manchmal wirkt es so, als wolle er sich selbst und der gesamten Welt etwas beweisen. Doch das muss der Mann, der in bescheidenen Verhältnissen im Madrider Vorort San Sebastian de los Reyes aufwuchs, nicht mehr. Die Zeiten, in denen sich der junge Jorge und die in der Finanzkrise 2008 arbeitslos gewordenen Eltern mit finanziellen Darlehen von Freunden und Verwandten durchschlagen mussten, sind längst vorbei. Niemand zweifelt an den Fähigkeiten und der Resilienz des 'Martinator'.
Was Martin aber noch beweisen muss ist, dass er in entscheidenden Situationen seinen Stolz beiseitelegen kann. Gelingt ihm das, steht dem 26-Jährigen zweifelsohne noch eine große Karriere in der MotoGP bevor. Dass es möglich ist, solche charakterlichen Wandlungen durchzumachen, haben schon zahlreiche Fahrer vor Martin bewiesen. Aus einem Ackergaul kann man bekanntlich kein Rennpferd machen. Sehr wohl aber kann man einen feurigen Vollblüter zähmen und zum besten Pferd im Stall machen.
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