Pramac Ducati erlebt im Jahr 2023 die beste MotoGP-Saison der Teamgeschichte. Zwei Rennwochenenden vor Schluss hält der italienische Rennstall bei 598 Punkten und steht damit kurz vor dem Gewinn der Team-Weltmeisterschaft. Das Ducati-Werksteam folgt nach Malaysia mit 100 Zählern Rückstand auf Platz zwei, VR46 Racing liegt 104 Zähler zurück. Da 2023 nur 134 WM-Punkte noch zu vergeben sind, könnte der Titelgewinn bereits in Katar klargemacht werden. Es wäre ein Novum, denn in der 2002 eingeführten WM-Wertung setzte sich zuvor noch nie ein Privatier durch, es triumphierte bislang immer ein Werksteam von Honda (10x), Yamaha (7x), Ducati (3x) oder Suzuki (1x).

Darüber hinaus befindet sich Pramac Ducati auch in der Fahrer-Weltmeisterschaft mit Jorge Martin auf Geschichtskurs. Der 25-jährige Madrilene steht aktuell bei 398 WM-Punkten und liegt damit nur 14 Zähler hinter WM-Leader Francesco Bagnaia. Er hat realistische Chancen, nach 2018 in der Moto3 seinen zweiten WM-Titel zu gewinnen, zumal die Form der vergangenen Wochen und Monate ohnehin für ihn spricht. Der 'Martinator' gewann acht der letzten 13 Rennen und sammelte in dieser Zeit 188 Punkte, 36 mehr als Rivale Bagnaia.

Jorge Martin bejubelt den Sieg im MotoGP-Sprint in Indonesien
Wird Jorge Martin erster Privat-Weltmeister der MotoGP-Ära?, Foto: LAT Images

In der MotoGP-Ära konnte sich bislang noch kein Fahrer eines Privatteams zum Weltmeister krönen, auch hier wurden die Champions immer von den offiziellen Herstellern Honda (10x), Yamaha (8x), Ducati (2x) und Suzuki (1x) gestellt. Das bedeutet aber nicht, dass es in der Geschichte der Königsklasse noch nie einen Privatier-Weltmeister gab. Im Gegenteil: Seit Beginn der Motorrad-Weltmeisterschaft im Jahr 1949 haben durchaus einzelne Kundenteams den Fahrer-Weltmeister gestellt. Zur genauen Anzahl kursieren verschiedene Zahlen, schließlich gibt es unterschiedliche Wertungsmöglichkeiten und entsprechend unterschiedliche Ergebnisse. Motorsport-Magazin.com erklärt, wie diese unterschiedlichen Ansichten zu Stande kommen und welche Resultate sie liefern können.

Kenny Roberts: Erster Privat-Weltmeister oder Werksfahrer?

Eines ist zunächst einmal klar: Von Anbeginn der Motorrad-WM im Jahr 1949 bis einschließlich 1977 ging der jeweilige Fahrer-Weltmeister immer für ein Werksteam an den Start. Angefangen mit Leslie Graham und dem britischen Motorradbauer AJS, über Geoff Duke (Gilera), John Surtees und Mike Hailwood (beide MV Agusta) oder Barry Sheene (Suzuki), bis schließlich Steve Baker auf Yamaha - sie alle standen bei einem Hersteller unter Vertrag.

Erst im Jahr 1978 lässt sich dann erstmals diskutieren: Kenny Roberts, der in jener Saison auch zum ersten Rookie-Weltmeister der Geschichte aufstieg, stand zwar bei Yamaha unter Vertrag, fuhr aber nicht für das japanische Werksteam, sondern Yamaha USA. 'King Kenny' startete deshalb auch in der gelb-weiß-schwarzen Hummel-Lackierung der amerikanischen Importeure, während die Motorräder der Werksfahrer Johnnie Cecotto und Takazumi Katayama die traditionellen rot-weißen Werksfarben von Yamaha trugen. Zudem erhielt Roberts seinerzeit auch nur eine Yamaha 0W35 500, während Cecotto und Katayama jeweils zwei Modelle zur Verfügung hatten.

Kenny Roberts startete 1978 und 1979 für Yamaha USA, Foto: Milagro
Kenny Roberts startete 1978 und 1979 für Yamaha USA, Foto: Milagro

Dadurch lässt sich also durchaus dafür argumentieren, dass Roberts als erster Privat-Weltmeister in die Geschichte der Königsklasse eingehen sollte, schließlich fuhr er nicht für das japanische Werksteam von Yamaha. Allerdings lassen sich auch die Anliegen der Gegenseite nachvollziehen: Roberts startete 1978 noch immer für das Unternehmen Yamaha. Das Team wurde nicht von einem Kunden-Rennstall geführt, sondern von Angestellten der US-amerikanischen Fraktion Yamahas. Außerdem erhielt Roberts im Saisonverlauf auch zusätzliche Unterstützung aus Japan, als klar wurde, dass er im Titelkampf mit Suzukis Barry Sheene die besten Chancen hatte. Somit kann auch ein valider Punkt dafür gemacht werden, dass Roberts als Werksfahrer gelten sollte. Gleiches gilt für das Jahr 1979, in dem 'King Kenny' seinen WM-Titel erfolgreich verteidigte und dabei noch immer für Yamaha USA fuhr. Erst bei seinem dritten Titelgewinn 1980 startete er offiziell für Yamaha Motor Japan.

Lucchinelli und Uncini: Streitpunkt Suzuki

Klarer wirken da die Fälle von Marco Lucchinelli und Franco Uncini in den Jahren 1981 und 1982 - allerdings auch nur auf den ersten Blick. Die beiden Italiener gewannen ihre WM-Titel damals jeweils auf einer Suzuki RG500 im Gallina-Team unter der Leiter von Ex-500ccm-Rennfahrer Roberto Gallina. Dabei handelte es sich um einen italienischen Kunden-Rennstall, weshalb beide Piloten auf den ersten Blick auch als Privat-Weltmeister gelten sollten.

Offiziell verfügte Suzuki zu dieser Zeit auch über gar keine Werksteams in der Königsklasse des Zweirad-Motorsports mehr. Der japanische Hersteller hatte sich 1976 nach abgeschlossener Entwicklung der Suzuki RG500 nämlich dazu entschlossen, die Kontrolle über die eigenen Werksteams in der 500ccm-Weltmeisterschaft abzugeben, um sich stattdessen voll auf die Entwicklung der ersten Viertakt-Maschine, der Suzuki GS, konzentrieren zu können. Erst 1987 kehrten die Japaner mit offizieller Werksunterstützung in die Königsklasse zurück.

Franco Uncini scheiterte 1983 an der Titelverteidigung, nachdem er in Assen schwer stürzte, Foto: Milagro
Franco Uncini scheiterte 1983 an der Titelverteidigung, nachdem er in Assen schwer stürzte, Foto: Milagro

Der Haken an der Sache: Suzuki hatte die Kontrolle über die eigenen Werksteams offiziell zwar abgegeben - allerdings nur an die britischen Kollegen von Suzuki GB. Somit wurden auch nach 1976 noch sämtliche Teams, die eine Suzuki RG500 einsetzten, vom Hersteller aus Hamamatsu unterstützt - nur eben nicht direkt aus Japan, sondern aus Großbritannien. Erst, als sich Uncini im Jahr 1983 bei der Dutch TT schwer verletzte und seinen Titel nicht verteidigen konnte, zog sich auch Suzuki GB aus der 500ccm-Klasse zurück. Auch hier sind also beide Zählrichtungen möglich: Lucchinelli und Uncini können, müssen aber nicht als Privat-Weltmeister gewertet werden.

Eddie Lawson: Der wahre "erste Privat-Champion"

Ähnlich, aber doch etwas eindeutiger ist dann der Fall von Eddie Lawson sieben Jahre später. Der US-Amerikaner war zu diesem Zeitpunkt schon dreimaliger 500ccm-Weltmeister mit Yamaha in den Jahren 1984, 1986 und 1988 geworden. Dann zerstritt er sich jedoch mit Teambesitzer Giacomo Agostini und wechselte zur Saison 1989 zum Honda-Kundenteam des legendären Erv Kanemoto, welches lediglich über fünf Angestellte verfügte. Das offizielle Werksteam von HRC setzte seinerzeit auf Wayne Gardner und Rookie Mick Doohan. Damit scheint eigentlich schnell klar: Lawson muss der erste unstrittige Privat-Weltmeister der Geschichte sein. Oder etwa doch nicht?

Eddie Lawson kehrte 1990 nach dem Triumph mit Kanemoto Honda als amtierender Weltmeister zu Yamaha zurück, Foto: Milagro
Eddie Lawson kehrte 1990 nach dem Triumph mit Kanemoto Honda als amtierender Weltmeister zu Yamaha zurück, Foto: Milagro

Auch hier lassen sich wieder Kritikpunkte finden, wenn auch deutlich weniger und von schwächerem Ausmaß. Spätestens mit einem Sieg im vierten Saisonrennen in Jerez hatte sich Lawson nämlich als klarer Titelfavorit Hondas positioniert, die offiziellen Werksfahrer schienen nicht in der Lage, mit Yamahas Wayne Rainey mithalten zu können. Deshalb verlagerte HRC sämtliche Priorität auf das Kundenteam von Kanemoto und behandelte es wie ein Werksteam: Es wurden zahlreiche neue Teile geliefert, darunter Rahmen, Schwinge, Federung oder Lenkstange und Bremse aus Karbon. Zudem wurden beide Teams finanziell von Hauptsponsor Rothmans unterstützt. Lawson wurde also wie ein Werksfahrer behandelt und sah wie einer aus, daher das Argument: Der US-Amerikaner sollte entsprechend auch nicht als Weltmeister eines Privatteams gelten, obwohl er es de facto war. Die MotoGP selbst zählt ihn übrigens als einen von nur zwei offiziellen Privat-Weltmeistern.

Valentino Rossi: Der letzte Weltmeister eines Privatteams

Der andere ist der seither einzige und bislang auch letzte Satelliten-Weltmeister: Valentino Rossi. Die MotoGP-Legende dominierte die Saison 2001, gleichzeitig die letzte der 500ccm-Ära, nach Belieben und gewann dabei 11 von 16 Rennen. Bereits zwei Wochenenden vor Schluss stand sein erster von insgesamt sieben Titelgewinnen in der Königsklasse fest - als Fahrer des Nastro Azzurro Teams. Dabei handelte es sich um einen italienischen Kundenrennstall, welcher von Honda Europe gemanagt wurde und nichts mit dem Werksteam Repsol Honda zu tun hatte.

Valentino Rossi dominierte 2001 im Nastro Azzurro Team, Foto: Milagro
Valentino Rossi dominierte 2001 im Nastro Azzurro Team, Foto: Milagro

Zum Einsatz kam eine Honda NSR500, die auch den offiziellen Werkspiloten Alex Criville und Tohru Ukawa zur Verfügung stand. Anders als Rossi konnten diese beiden 2001 jedoch kein Rennen gewinnen und gemeinsam nur drei Podestplätze erzielen. Am Jahresende standen enttäuschende WM-Ränge acht (Criville, 120 Punkte) und zehn (Ukawa, 107 Punkte), womit beide Werksfahrer auch von den Honda-Kunden Loris Capirossi (210) und Alex Barros (182) aus dem Pons-Team deutlich geschlagen wurden. Die logische Folge: Zur Saison 2002 wurde Rossi ins Werksteam befördert und bescherte Repsol Honda prompt zwei WM-Titel, ehe er 2004 zu Yamaha weiterzog.

In der Übersicht: Alle möglichen Satelliten-Weltmeister der Motorrad-WM

JahrFahrerTeamHersteller
2001Valentino RossiNastro Azzurro HondaHonda
1989Eddie LawsonTeam Rothmans/Kanemoto HondaHonda
1982Franco UnciniGallina-SuzukiSuzuki
1981Marco LucchinelliNava Gallina-SuzukiSuzuki
1979Kenny Roberts Yamaha USAYamaha
1978Kenny Roberts Yamaha USAYamaha