Die MotoGP wird schneller und schneller. Rundenrekorde und neue Topspeed-Bestwerte fallen am laufenden Band. Das bedeutet extreme Anforderungen für die Bremssysteme der Königsklasse. Diese werden für alle fünf Hersteller und von Brembo geliefert. Motorsport-Magazin.com traf Brembos MotoGP Race Engineer Mattia Tombolan zum Interview über die entstehenden Herausforderungen.

Motorsport-Magazin.com: Mattia, in der Vergangenheit waren überhitzte Bremsen immer wieder ein Problem. Maverick Vinales musste etwa nach einem Defekt in Spielberg von seiner Yamaha springen. Gibt es diese Probleme nach wie vor?
Mattia Tombolan: Die Performance der MotoGP-Bikes nimmt weiter zu, was natürlich auch eine zusätzliche Belastung für unsere Bremssysteme bedeutet. Wir haben deshalb den maximalen Durchmesser unserer Bremsscheiben von 340 auf 355 Millimeter erhöht, außerdem sind die Bremsbeläge und Bremssättel mit Finnen ausgestattet, um die Hitze von der Reibungsfläche besser ableiten zu können. Im Moment haben wir mit den 355er-Scheiben alles unter Kontrolle, aber das kann sich von Jahr zu Jahr ändern. Man darf sich hier nie zu sicher sein und muss immer weiter arbeiten, um für die Zukunft gerüstet zu sein.

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Kannst du konkrete Geschwindigkeiten nennen, bei denen ihr in Probleme geraten könntet?
Mattia Tombolan: Es geht nicht nur um Höchstgeschwindigkeiten, sondern auch um das Streckenlayout. Wenn die Bikes schneller werden, bleibt weniger Zeit, um die Bremsen zwischen den einzelnen Kurven abzukühlen. Nehmen wir Spielberg als Beispiel: In der Vergangenheit hatten wir dort drei harte Bremszonen. Durch die Schikane sind die Geschwindigkeiten im Vorjahr gesunken, aber wir haben jetzt noch eine Bremszone mehr, vor der die Fahrer ebenfalls hohe Geschwindigkeiten erreichen.

Gibt es für euch ein Limit bei der Größe beziehungsweise Masse der Bremsscheiben?
Mattia Tombolan: Ja, die aktuell verwendeten 355 Millimeter sind für uns das Maximum, das wir an einem MotoGP-Rad unterbringen können. Wir bitten die Teams deshalb darum, für die bestmögliche Belüftung der Bremsen zu sorgen. Du kannst noch so viele Kühlfinnen anbringen - wenn sie nicht richtig angeströmt werden, bringen sie gar nichts.

Ihr kommt mit euren Bremsen an das Limit. Die Fahrer erklären uns regelmäßig, dass auch die Reifen absolut am Limit sind. Müssen MotoGP-Bikes langsamer werden?
Mattia Tombolan: Das ist aktuell natürlich ein heißes Thema. Unser Ziel ist es, für alle Rennen und jeden einzelnen Bremsvorgang ein korrektes Arbeiten unserer Systeme zu garantieren. Die Frage, die sich stellt ist, ob das gesamte Motorrad für diese Kräfte ausgelegt ist. Wenn ein Fahrer beim Anbremsen ans Limit geht, wird es immer einen Stoppie geben. Unser Fokus ist deshalb nicht Performance, sondern das Temperatur-Management. Der Fahrer soll vom Start bis ins Ziel eine gleichbleibende Performance zur Verfügung haben.

Vor einigen Jahren hat Brembo damit experimentiert, das Karbon in den MotoGP-Bremsen zumindest teilweise durch andere Materialen zu ersetzen, um Kosten zu sparen. Ist das bei den aktuellen Belastungen noch ein Thema?
Mattia Tombolan: Karbon ist immer noch das Material, das uns die größtmögliche Effizienz ermöglicht. Deshalb konzentrieren wir uns aktuell auf Karbon.

Die Art und Weise, wie Fahrer bremsen, hat viel mit den Reifen zu tun. Sie hat sich vollkommen verändert, als Michelin das MotoGP-Reifenmonopol von Bridgestone übernommen hat. Jetzt arbeitet Michelin an einem völlig neuen Vorderreifen. Wisst ihr über diese Entwicklungen im Vorhinein Bescheid oder könnt ihr erst reagieren, wenn der neue Reifen im Einsatz ist?
Mattia Tombolan: Eher Zweiteres. Es gibt natürlich immer Gerüchte über derartige Neuerungen, aber du kannst eine Entwicklung nicht auf Gerüchten aufbauen. Deshalb warten wir, bis es offiziell ist. Aber natürlich: Reifen und Bremsen sind immer miteinander verbunden. Wenn du eine Komponente änderst, wird das Auswirkungen auf die andere haben. Als wir die 355-Millimeter-Scheiben eingeführt haben, hatte das einen Einfluss auf die Reifentemperatur, weil die Scheiben so nah an die Reifen heranragen. Es kann also manchmal zu Effekten kommen, die man nicht möchte und mit denen man auch nicht rechnet. Vielleicht müssen wir also unser Bremssystem für einen neuen Vorderreifen anpassen.

Brembos MotoGP Race Engineer Mattia Tombolan im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com, Foto: Tobias Linke
Brembos MotoGP Race Engineer Mattia Tombolan im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com, Foto: Tobias Linke

Wie lange dauert es dann, bis ihr ein neues System einsatzbereit habt?
Mattia Tombolan: Das kommt natürlich darauf an, wie groß der Unterschied ist. Wenn das neue System nicht allzu weit vom bisherigen entfernt ist, geht das relativ schnell, weil wir ja schon auf viel Wissen zurückgreifen können. Wir versuchen in so einem Fall, das Update innerhalb von drei bis sechs Monaten allen Teams zur Verfügung zu stellen. Wenn wir in dieser Zeit viele Rennen haben, kann es länger dauern. In den Pausen passiert alles etwas schneller.

Ist es für einen Hersteller, ein Team oder einen Fahrer möglich, spezielle Teile bei Brembo anzufordern?
Mattia Tombolan: Grundsätzlich haben wir eine Auswahl an Teilen und Materialien, die jeder Hersteller nützen kann. Unsere Kunden können natürlich immer nach besonderen Dingen fragen . Kommt der Wunsch nur aus einer Richtung, wird es für uns schwierig, weil die Entwicklung und Herstellung neuer Teile viel Geld kostet und sich so kein Skalierungseffekt einstellt. Einfacher ist es, wenn mehrere Parteien denselben Wunsch äußern. Dann versuchen wir selbstverständlich, dem zu entsprechen.

Ihr beliefert in der MotoGP ja fünf Hersteller mit teilweise völlig unterschiedlichen Konzepten was Motor oder Rahmen angeht. Ist es schwierig, da alle zufrieden zu stellen?
Mattia Tombolan: Es ist sehr schwierig! Nicht nur was die Hersteller betrifft. Auch die unterschiedlichen Stile der einzelnen Fahrer machen einen gewaltigen Unterschied. Manche bevorzugen das Gefühl bei geringeren Bremstemperaturen, andere das bei höheren - natürlich alles innerhalb des von uns vorgegebenen Fensters. Deshalb kommen bei manchen Fahrern andere Bremsscheiben zum Einsatz als bei ihren Kollegen. Auch am Hauptbremszylinder gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, um dem Fahrer das gewünschte Gefühl zu bieten. Manche Fahrer mögen eine Bremse, mit der sie den Druck gut modulieren können. Andere bevorzugen eher ein An/Aus-Gefühl.

Wir sprechen hier vor allem vom Gefühl am Vorderrad. Gibt es auch bei der Hinterradbremse Unterschiede?
Mattia Tombolan: Ja! Manche Fahrer nutzen die Hinterradbremse kaum oder gar nicht. Andere verwenden sie viel, um das Motorrad in den Kurven zu kontrollieren, da bei großen Schräglagen ein Bremsen am Vorderrad natürlich sehr gefährlich ist. Für die Hinterradbremse gibt es einige Einstellungsmöglichkeiten: Wie am Vorderrad können wir mit unterschiedlichen Scheibendurchmessern spielen. Die Fahrer haben auch die Möglichkeit, eine Finger-, Daumen- oder Fußbremse zu verwenden. Außerdem stehen unterschiedliche Reibungsmaterialen zur Verfügung, die mehr oder weniger aggressiv sind.

ABS für die MotoGP: Sicherheitsplus oder Racing-Killer? (07:06 Min.)

Du hast angesprochen, dass manche Fahrer kühlere Bremsen bevorzugen. Können zu geringe Temperaturen auch zum Problem werden?
Mattia Tombolan: Wenn die Bremse zu kalt ist, erreicht Karbon natürlich nicht den gewünschten Reibungskoeffizient. Mit den Abdeckungen, die mittlerweile alle Hersteller verwenden, lässt sich das aber verhindern. Die Hersteller haben drei bis vier unterschiedliche Varianten zur Verfügung, die einen kleineren oder größeren Teil der Bremsscheibe abdecken. So können sie sich immer im richtigen Fenster bewegen und Karbonscheiben sogar im Regen verwenden.

Marc Marquez' heftiger Crash mit Miguel Oliveira und Jorge Martin in Portimao wurde durch ein blockiertes Vorderrad ausgelöst. Aprilia-Teammanager Paolo Bonora hat daraufhin ein Antiblockiersystem für die MotoGP angeregt. Was hältst du davon?
Mattia Tombolan: Meiner Meinung nach ist ein ABS eher etwas für den Komfortbereich und die Nutzung im Straßenverkehr. Sobald es auf die Rennstrecke geht, empfinden das die Fahrer meist eher als Einschränkung, die gegen dein natürliches Gefühl arbeitet. Die Piloten wollen den Bremsvorgang vollständig in ihrer Hand haben. Ich denke deshalb, dass ABS nicht der richtige Weg für die MotoGP ist. Vielleicht können wir eine andere Lösung finden, die einen weniger starken Eingriff bedeutet. In den nächsten Jahren würde ich damit aber nicht rechnen.