Rote Flaggen waren in der MotoGP in der Vergangenheit eine absolute Seltenheit. Oftmals wurden sie nur wegen einsetzendem Starkregen gebraucht. Seit einigen Jahren geht die Tendenz aber zunehmend nach oben. Negativer Höhepunkt: Das Rennwochenende in Jerez 2023 mit gleich zwei Roten Flaggen nach Startkollisionen in der zweiten Kurve.

Wo liegen die Gründe für die steigende Anzahl Roter Flaggen in der MotoGP? Die Fahrer der Königsklasse haben mehrere Vermutungen. Luca Marini sieht das Problem in erster Linie bei der Streckencharakteristik des Circuito de Jerez, der mit einer Breite von elf Metern zu den schmälsten Kursen im Kalender zählt. Der VR46-Pilot hat deshalb eine klare Forderung: "Wir brauchen breitere Rennstrecken."

MotoGP-Stars verzweifeln: Strafen-Krisengipfel mit Stewards (08:18 Min.)

Bestätigt sieht er sich durch die kleineren Klassen. Dort sind die Motorräder zum einen nicht so groß und breit wie die MotoGP-Bikes, zum anderen ist das Feld aber auch nicht so eng beisammen. "Das Level ist nicht so ausgeglichen. Es gibt starke Fahrer, dann aber auch eine große Lücke zum hinteren Feld. Hier [in der MotoGP, Anm.] starten Quartararo und Rins, die Rennen gewonnen haben, von den Plätzen 15 und 18. Natürlich versuchen sie, ein weiteres gutes Resultat zu erzielen."

Fehlende Breite stellt MotoGP-Pilot in Jerez vor Probleme

Argentinien-Sieger Marco Bezzecchi teilt die Meinung seines Teamkollegen: "Es gibt Strecken, da ist es schlimmer als auf anderen. In Austin war es kein Problem, obwohl es auch dort einige enge Kurven gibt. Hier kannst du in Turn 1 viele unterschiedliche Linien fahren. Im Sprint war ich außen und habe wir vier oder fünf Positionen gutgemacht. Das Feld kann sich verteilen. Aber in Turn 2 gibt es maximal zwei Linien. Das ist das Problem."

Auch Joan Mir fand am Sonntag ähnliche Worte: "Diese Strecke ist sehr eng. Zu Beginn fühlt es sich an, als wärst du in einem Stau. Du musst fast in der Mitte der Strecke bremsen. Das führt zu viel Unruhe im Feld." Zusätzlich dazu sieht der Weltmeister des Jahres 2020 aber auch im aggressiver gewordenen Fahrverhalten seiner Kontrahenten eine Ursache für die steigende Anzahl Roter Flaggen. Denn das führt seiner Meinung nach unweigerlich zu mehr Berührungen und Unfällen. "Ich war dort hinten und habe es miterlebt. Bezzecchi war außer Kontrolle. Selbst beim zweiten Restart hat er jeden berührt. Jeder war besorgt, was er tun würde. Überall flogen Carbonteile herum. Es war ein Desaster", übt Mir harsche Kritik.

Jerez zählt zu den schmälsten Strecken im MotoGP-Kalender, Foto: LAT Images
Jerez zählt zu den schmälsten Strecken im MotoGP-Kalender, Foto: LAT Images

Überholen immer schwerer: Erste Runde von enormer Bedeutung

Bezzecchi selbst wollte von überharten Fahrverhalten nichts wissen. Er glaubt, nicht anders gefahren zu sein als andere. Das eigentliche Problem sieht der VR46-Pilot vielmehr darin, dass Überholmanöver immer schwieriger werden. "Wir kämpfen hier alle um das gleiche Ziel, wir wollen gewinnen. Dazu sind die ersten Runden jetzt von großer Bedeutung. Die ersten vier Kurven sind der Schlüssel zu einem erfolgreichen Rennen", sagt er und liefert direkt ein Beispiel: "Beim zweiten Start war ich etwas vorsichtiger und habe mein Rennen dadurch zerstört."

Bezzecchi war in den ersten zwei Sektoren von Startplatz 13 auf den 16. Rang zurückgefallen. Bis zu seinem Sturz in Runde 17 konnte er sich von dort nur bis auf Platz neun zurückarbeiten, hatte dabei aber auch noch von den Stürzen von Alex Rins und Johann Zarco sowie den Longlap-Penalties der beiden Yamaha-Piloten profitiert. Markenkollege Jorge Martin, der über weite Strecken des Spanien-GP hinter Jack Miller und Francesco Bagnaia festhing, teilt die Einschätzung von Bezzecchi: "Alle sind zu aggressiv. Es ist schwer, zu überholen, deshalb will jeder in der ersten Runde in Führung gehen. Du musst das Rennen in der ersten Runde gewinnen."

In der ersten Runde geht es in der MotoGP verdammt eng zu, Foto: Tobias Linke
In der ersten Runde geht es in der MotoGP verdammt eng zu, Foto: Tobias Linke

Morbidelli sieht Hauptschuld bei Reifenhersteller Michelin

Auch Franco Morbidelli, am Samstag selbst Auslöser einer Roten Flagge, sieht ein Aggressionsproblem in der MotoGP. Die Hauptschuld dafür sieht er allerdings nicht bei den Fahrern, sondern bei Reifenhersteller Michelin. Schließlich neigt speziell der Vorderreifen im Verkehr zur Überhitzung, was Überholen fast unnmöglich macht. Der Yamaha-Pilot fordert deshalb: "Sie müssen daran arbeiten. Die Technologie muss in allen Bereichen auf dem gleichen Level sein. Beim Motorrad ist sie aber deutlich besser als bei den Reifen. Sie sind sehr gut, haben aber eben einen Schwachpunkt. Das müssen sie lösen."

Das aggressivere Fahrverhalten der MotoGP-Stars hält Morbidelli nur für eine logische Schlussfolgerung der Reifenproblematik: "Mit dieser Reifensituation ist jede Position von enormer Bedeutung. Jeder riskiert am Anfang viel, um nach vorne zu kommen. Du wärst vorsichtiger, wenn du wüsstest, dass du dein Potenzial im Rennen trotzdem noch abrufen kannst. So startet aber jeder mit dem Ziel, am Anfang so viele Positionen gutzumachen, wie möglich, weil du sie wahrscheinlich nicht mehr verlierst."

Michelin-Reifen neigen im Verkehr zur Überhitzung, Foto: LAT Images
Michelin-Reifen neigen im Verkehr zur Überhitzung, Foto: LAT Images

Miller: Michelin nicht an schlechtem Qualifying Schuld

Eine Einschätzung, die die Top Drei des Spanien Grand Prix nicht teilt. "Das ist eine enge Kurve. Es liegt nicht an den Reifen, sondern an den Umständen. Du musst in dieser Phase auf deine Linie achten. Außen ist es gefährlich. Fabio war etwas optimistisch auf der Bremse und hat Bezzecchi berührt. Das kommt nicht von den Reifen", sagt etwa Rennsieger Bagnaia.

"Du kannst nicht den Reifen beschuldigen, wenn du ineinander reinfährst", analysiert auch Sprintsieger Brad Binder. KTM-Teamkollege Jack Miller noch deutlichere Worte in Richtung des Yamaha-Duos, die die Startunfälle ausgelöst hatten: "Sie waren beide zu optimistisch, Fabio und Morbidelli. Es ist nicht die Schuld von Michelin, wenn sie sich auf Platz elf oder schlechter qualifizieren. Michelin macht einen tollen Job."