Der Frühsommer 1959 war der erste Vorbote einer bevorstehenden Zeitenwende. Zur 41. Ausgabe der Tourist Trophy auf der Isle of Man reiste ein Team aus neun Personen von Japan auf das kleine Eiland in der Irischen See. Ihren Reisedokumenten zufolge waren sie Angestellte der Okura Trading Co. Ltd. Tatsächlich war es das Honda-Werksteam. Erstmals wollte sich ein japanischer Rennstall auf internationaler Bühne mit den etablierten Europäern messen. Und das gleich beim damals prestigeträchtigsten und größten Motorradrennen der Welt.

Die Motorrad-Weltmeisterschaft ist die älteste Rennserie der Welt. 1949 wurde sie gegründet. Das Prädikat Weltmeisterschaft war damals jedoch relativ weit von der Realität entfernt. Fast ausschließlich europäische Fahrer fuhren auf europäischen Strecken Rennen mit europäischen Motorrädern. A.J.S., Gilera, Norton oder MV Agusta hießen die dominierenden Hersteller dieser frühen Jahre. Ein rein italienisch-britischer Schlagabtausch. Und so sollte es auch bleiben, ging es nach den Dominatoren dieser Epoche. Hondas neunköpfige Delegation gab sich alle Mühe, um ihr Unternehmen und damit ihre gesamte Nation auf der Isle of Man würdig zu vertreten. Die Mannschaft, bestehend aus Projektleiter, Manager, vier Fahrern und zwei Mechanikern wurde vom Amerikaner Bill Hunt begleitet, der in einer Doppelrolle als Fahrer und Dolmetscher fungierte. Die Japaner bekamen im Vorfeld einen Crash-Kurs in europäischer Etikette, erlernten etwa eigens für ihre erste Dienstreise das Essen mit Messer und Gabel.

Wer sonst? Motorrad-Legende Giacomo Agostini war der erste 500ccm-Weltmeister auf japanischem Bike (Yamaha), Foto: Frank Bischoff
Wer sonst? Motorrad-Legende Giacomo Agostini war der erste 500ccm-Weltmeister auf japanischem Bike (Yamaha), Foto: Frank Bischoff

Der Empfang in Europa war dennoch frostig. In ihrer Unterkunft auf der Ilse of Man wurde den Japanern der Besuch der Hotel-Bar verboten. Diese sei den Einheimischen vorbehalten. Auch im Fahrerlager wurde die Honda-Mannschaft maximal belächelt. Motorräder aus dem Land der aufgehenden Sonne galten zu dieser Zeit als minderwertige Maschinen. Und tatsächlich verlief Hondas WM-Debüt in der 125ccm-Klasse bescheiden. Mehr als sieben Minuten verlor Naomi Tanaguchi als stärkster Fahrer des Quintetts auf die Siegerzeit. Aller Anfang ist bekanntlich schwer, doch diese Tourist Trophy fungierte als Initialzündung für den Aufstieg der Japaner. Schon ein Jahr später war die Honda deutlich konkurrenzfähiger, 1961 gelangen bereits die ersten großen Erfolge. Der Australier Tom Phillis gewann den 125ccm-WM-Titel, Mike Hailwood triumphierte in der Klasse bis 250ccm.

Auch Yamaha und Suzuki stiegen in die Weltmeisterschaft ein und eroberten die kleineren WM-Kategorien im Sturm. Von 1962 bis 1967 teilten sich die drei japanischen Hersteller alle Titel in den Klassen bis 50-, 125-, 250- und 350ccm untereinander auf. Nur in der Königsklasse bis 500ccm war lange Zeit kein Kraut gegen MV Agusta und seinen überlegenen Dreizylinder-Viertaktmotor gewachsen. Erst Mitte der Siebzigerjahre zeichnete sich der Niedergang der Viertakter ab, Rekordweltmeister Giacomo Agostini wechselte auf die Zweitakt-Yamaha und bescherte 1975 einem japanischen Hersteller den ersten Titel in der Königsklasse. Was sich damals kaum jemand vorstellen konnte: Es sollte bis ins Jahr 2007 dauern, ehe wieder ein europäischer Hersteller in der Königsklasse, die mittlerweile den Namen MotoGP trug, den Gesamtsieg einfahren konnte. Ducati und Ausnahmetalent Casey Stoner waren im ersten Jahr der neuen 800ccm-Bikes nicht zu schlagen. Es sollte aber nur ein kleiner Fleck auf der weißen Weste der Japaner bleiben, denn die nächsten 14 Titel teilten sich wieder Honda, Yamaha und Suzuki untereinander auf.

Casey Stoner war bis 2022 über vier Jahrzehnte lang der einzige Weltmeister auf einem nicht-japanischem Bike, Foto: Ducati
Casey Stoner war bis 2022 über vier Jahrzehnte lang der einzige Weltmeister auf einem nicht-japanischem Bike, Foto: Ducati

Damit sind wir in der Gegenwart angekommen. Und in dieser zeichnet sich zum zweiten Mal eine Wachablösung unter den Herstellern ab. Die drückende Dominanz der Japaner ist gebrochen und die Europäer laufen der Konkurrenz aus Fernost den Rang ab. Vom zweiten Portimao-Rennen 2021 bis zum Amerika-Grand-Prix 2022 konnten europäische Hersteller saisonübergreifend sechs MotoGP-Events in Serie für sich entscheiden. Ducati siegte vier Mal, KTM gewann ein Rennen und auch Aprilia gelang im achten Jahr seit dem Wiedereinstieg endlich der erste Sieg. Kein japanischer Sieg in den ersten vier Saisonrennen, das gab es seit 1972 nicht mehr - damals gewann Giacomo Agostini für MV Agusta die vier GPs zum Auftakt. Im weiteren Saisonverlauf 2022 blieben die Japaner von der Dutch TT bis zum Thailand Grand Prix sogar sieben Mal in Folge ohne Sieg, ehe Alex Rins zum Saisonende noch zweimal für Suzuki triumphierte.

Alex Hofmann: Japaner in der Entwicklung zu träge

"Die japanischen Werke sind aktuell mit einer Drucksituation konfrontiert, die sie nicht gewohnt sind. Daran verzweifeln sie ein wenig", verrät Alex Hofmann im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. Der Deutsche bestritt 106 Grands Prix für Yamaha, Honda, Aprilia, Kawasaki und Ducati. "Die Werke aus Europa attackieren extrem. Ducati hat damit begonnen und in den vergangenen Jahren extremes Tempo angeschlagen. Dann ist KTM nachgekommen, wo man auch in einer Geschwindigkeit entwickeln konnte, die man nicht erwartet hatte."

Derartige Agilität vermisst Hofmann bei den Werken aus Fernost: "Die Abläufe bei den japanischen Herstellern sind teilweise nicht mehr zeitgemäß. Das betrifft vor allem die Entwicklungsabteilungen, wo es oft einfach zu lange dauert, bis Updates an die Rennstrecke kommen. Aber auch budgetäre Entscheidungen werden teilweise nicht schnell genug getroffen. Die japanischen Hersteller wirken wie ein Öltanker auf hoher See, der ein Manöver schon jetzt einleiten muss, wenn er in fünf Meilen links abbiegen will. So kannst du einfach nicht mehr arbeiten, wenn du um dich herum nur noch superschnelle Speedboats hast. Das fällt ihnen jetzt auf den Kopf. Ihre Strukturen sind nicht auf das Entwicklungstempo ausgelegt, das man heutzutage in der MotoGP braucht. Es muss ein Umdenken stattfinden."

Alex Hofmann muss Marc Marquez zur Zeit unangenehme Fragen zu Honda stellen, Foto: Red Bull Content Pool
Alex Hofmann muss Marc Marquez zur Zeit unangenehme Fragen zu Honda stellen, Foto: Red Bull Content Pool

Beweise für Alex Hofmanns Theorie gibt es genug. Als 2016 etwa die Einheitselektronik von Magneti Marelli die hochkomplexen Systeme der Hersteller ersetzte, erkannte Ducati die Zeichen der Zeit und baute rechtzeitig einen guten Draht zum neuen Zulieferer auf. Honda und Yamaha wollten die neue Herausforderung auf eigene Faust lösen und büßten gegenüber Ducati deutlich an Performance ein.

Ducati machts vor: Mehr aktuelle Bikes zum Testen = Mehr Erfolg

Das Werk aus Borgo Panigale sorgte auch in der Ausrüstung seiner Kundenteams für einen Paradigmenwechsel. Als erster Hersteller erkannte man Vorteile in der Entwicklung durch eine größere Anzahl an eingesetzten Maschinen mit demselben technischen Paket. Daraufhin stellte man den Satellitenrennställen Material zur Verfügung, welches mit kleinsten Ausnahmen auf dem Stand der Motorräder im Werksteam war, während Honda und Yamaha noch Altmaterial weitergaben. Es ist kein Zufall, dass in dieser Saison sechs Kunden-Ducatis aus drei Teams am Start stehen und so zusammen mit der Werkstruppe ein Drittel des Feldes ausmachen. Ebenso bezeichnend für die jahrelange Rückständigkeit der Japaner in diesem Bereich war die Trennung zwischen Tech3 und Yamaha. 19 Jahre lang war das Team von Herve Poncharal Yamaha treu geblieben. Ende 2018 warf man aber schließlich entnervt das Handtuch. Man wollte nicht mehr länger Bittsteller sein, sondern gleichwertiger Partner. Genau diese Perspektive konnte KTM bieten, wo man sein Line-Up in der Folgesaison von zwei auf vier Maschinen aufstockte - in Full-Factory-Spezifikation versteht sich. "Uns wurde ein Deal angeboten, der etwas beinhaltet, was wir uns seit den Anfängen von Tech3 gewünscht haben. Da konnte ich nicht Nein sagen", verriet Teamchef Poncharal nach der Vertragsunterzeichnung. Honda stellte schließlich ebenfalls auf vier aktuelle Bikes um, im Yamaha-Lager muss sich bis heute in jedem Jahr ein Fahrer mit altem Material herumschlagen. 2019 war es Fabio Quartararo, 2020 und 2021 traf dieses Schicksal Franco Morbidelli, in der abgelaufenen Saison war es Darryn Binder. 2023 bringt Yamaha nach dem Aprilia-Wechsel von RNF sogar nur noch die beiden Maschinen des Werksteams an den Start.

MotoGP-Innovationen von Ducati und KTM, nicht mehr aus Japan

Unterdessen nutzt Ducati seine Armada, um mehr Daten als die Konkurrenz zu sammeln. Das ist vor allem dann hilfreich, wenn man im großen Stil Updates an das Motorrad bringt. Diese können im Ducati-Lager auf unterschiedliche Fahrer und Teams verteilt werden. Zuletzt fungierte etwa Johann Zarco an den Grand-Prix-Wochenenden als Testpilot für das umstrittene Front-Ride-Height-Device. Nach demselben Muster ging Ducati in den letzten Jahren immer wieder vor, sobald man neue Teile unter Rennbedingungen testen wollte. Und die Liste der Innovationen 'Made in Borgo Panigale' ist vor allem seit der Verpflichtung von Gigi Dall'Igna Ende 2013 lange. Der raffinierte Ingenieur dachte MotoGP-Bikes von Grund auf neu, setzte mit der Aerodynamik den Fokus auf einen bislang sträflich vernachlässigten Bereich der Motorräder, verbaute Systeme wie die höhenverstellbaren Fahrwerke an seiner Desmosedici. Mit geschickter Auslegung des Reglements zwang er die MotoGP-Macher immer wieder zu Zugeständnissen, so etwa zur Saison 2014, als er seinen Hersteller kurzerhand in die neu geschaffene Open-Klasse einschrieb, die eigentlich nur für finanzschwache Privatteams gedacht war. In dieser Unterkategorie der MotoGP musste schon damals die Elektronik aus dem Hause Magneti Marelli genutzt werden, im Gegenzug waren aber im Rennen vier Liter mehr Sprit erlaubt und man durfte zwölf anstatt fünf Motoren pro Fahrer und Saison einsetzen. Diese Vorteile für einen Hersteller konnten die Verantwortlichen der MotoGP nur schwer argumentieren. Kurzerhand stampfte man das Concessions-Reglement aus dem Boden, welches die genannten Vorteile Herstellern zusprach, die zuletzt erfolglos geblieben waren. Ducati behielt die Zugeständnisse bis zum Ende der Saison 2016 und leitete damit seine Rückkehr in das Spitzenfeld der Königsklasse ein, die nun mit dem Titel für Francesco Bagnaia gekrönt wurde.

Mastermind Gigi Dall'Igna brachte Ducati auf Vordermann, Foto: Ducati
Mastermind Gigi Dall'Igna brachte Ducati auf Vordermann, Foto: Ducati

Auch KTM ging in der MotoGP von Beginn an einen eigenen Weg. Mit Stahlrahmen und Fahrwerken aus dem hauseigenen Subunternehmen WP Suspension hob man sich deutlich von der Konkurrenz ab und konnte Lösungen finden, die der Konkurrenz nicht möglich waren. "Wenn ich von WP etwas brauche, muss ich nur auf die andere Straßenseite hinüber", erklärt KTM-Motorsportchef Pit Beirer das Prinzip der kurzen Wege im Unternehmen. Abläufe, die sich in den japanischen Werken nicht erkennen lassen. Yamaha verärgert seine Fahrer seit Jahren durch technischen Stillstand. "Die japanischen Ingenieure hören uns Fahrern zwar zu, am Ende machen sie aber erst wieder, was sie wollen. Für sie steht schon vorher fest, was sie tun werden", schimpfte Valentino Rossi schon Ende 2020. Suzuki verpasste im Vorjahr an der Ride-Height-Front völlig den Anschluss. Und auch Honda fehlte es jahrelang an Innovationsgeist. Seit der Einführung der pneumatischen Ventilsteuerung ging kein technischer Quantensprung der MotoGP mehr auf das Konto der HRC. Das war übrigens im Jahr 2008.

Mittlerweile scheint man die Versäumnisse der vergangenen Jahre zumindest in einzelnen Werken erkannt zu haben. Yamaha schlafwandelt auch in der MotoGP-Saison 2022 von Rennwochenende zu Rennwochenende, Suzuki gab für technische Entwicklung trotz ihres Ausstiegs zum Ende der Saison mehr zeitliche und finanzielle Ressourcen frei und Honda stellte mit der RC213V in diesem Jahr überhaupt ein völlig überarbeitetes Bike in die Box. Wichtige Weichenstellungen, die aber keine sofortige Erfolgsgarantie bedeuteten. In der Königsklasse will jeder Fortschritt hart erkämpft sein. Und das braucht Zeit, wie unser Geschichtsexkurs zu Beginn dieses Artikels eindrucksvoll zeigt.

Dieser Artikel erschien erstmals in Ausgabe 84 unseres Print-Magazins. Dort blicken wir natürlich nicht nur auf die technischen Entwicklungen der MotoGP, sondern auch auf die Formel 1, DTM & Co. Auf den Geschmack gekommen? Das Motorsport-Magazin könnt ihr seit neuestem nicht nur abonnieren, sondern auch an eure motorsportbegeisterten Liebsten verschenken.