"Ich werde es vermissen, Rennen zu fahren. Ich werde es vermissen, zu gewinnen. Und ich werde die Leute hier vermissen. Diese Familie, die zusammen um die Welt reist - auf der Suche nach Glück und Ruhm." Als Jorge Lorenzo am 17. November in Valencia diese Worte fand, um seine Gefühlswelt nach dem letzten MotoGP-Rennen seiner über 18 Jahre hinweg so erfolgreichen Karriere zu beschreiben, hatten nicht wenige Anwesende in der Honda-Hospitality am Circuit Ricardo Tormo einen dicken Kloß im Hals.

Es waren die letzten Worte in der Laufbahn eines großen Champions. Und sie waren sinnbildlich für die Wandlung, die Jorge Lorenzo in seinen Jahren im MotoGP-Paddock vollzogen hat. Als er 2008, im Alter von gerade einmal 20 Jahren, die ganz große Bühne der Königsklasse betrat, stand da ein zweifacher 250ccm-Weltmeister mit dem Anspruch, die Königsklasse im Sturm zu erobern. Aber auch ein unsicherer Charakter im Umgang mit der Öffentlichkeit, mit den Medien und nicht zuletzt mit seinen Rivalen. Diese Unsicherheit versuchte Lorenzo zu überspielen, um keine unnötige Angriffsfläche zu bieten. Markige Sprüche und martialische, teilweise eigenartig anmutende Siegesfeierlichkeiten wurden zu seinen Markenzeichen. Ein Schuss, der für ihn kräftig nach hinten losging. Der Schutzmantel, den sich Lorenzo aufbauen wollte, wurde von vielen Fans als Arroganz missinterpretiert. Vor allem im Vergleich mit Strahlemann Valentino Rossi auf der anderen Seite der Yamaha-Box erntete Lorenzo damit nur wenige Sympathien.

Das wenig charmante zwischenmenschliche Auftreten Lorenzos fand auf der Strecke seine Ergänzung. Die Leistungen des Mallorquiners sprachen von Beginn an für sich: Pole Position in seinen ersten drei MotoGP-Qualifyings, Sieg beim dritten Auftritt in Estoril. Lorenzos Erfolge waren aber selten spannend mitanzusehen. Meist waren es regelrechte Machtdemonstrationen, in denen er der Konkurrenz vom Start weg keine Chance ließ und in denen die Rennen früh entschieden waren. Nicht das, was sich der Motorsportfan vor dem Fernsehgerät und an den Strecken dieser Welt erhofft. Lorenzo überzeugte nicht durch waghalsige Manöver und spektakuläre Aufholjagden, wie sie etwa Valentino Rossi und später auch Marc Marquez zeigten. Er erarbeitete sich seine Vorteile durch beinahe manischen Perfektionismus und unglaubliche Konstanz.

Seine dadurch möglichen Darbietungen auf der Strecke in Verbindung mit dem kühlen Eindruck, den Lorenzo abseits davon vermittelte, zeichneten das Bild eines herausragenden Rennfahrers, aber auch eines wenig liebenswerten Menschen. Für beide Seiten des Jorge Lorenzo trug ein Mann den größten Teil der Verantwortung: Vater Chicho Lorenzo. Erst kurz vor der Geburt des Sohnemannes kam Chicho aus Galicien nach Mallorca und brachte die durchaus raue Seefahrermentalität von der spanischen Atlantikküste mit auf die Mittelmeerinsel. Und mit genau dieser erzog und trainierte er den kleinen Jorge. Methoden waren da im Spiel, bei denen jeder moderne Pädagoge wohl nur schockiert mit dem Kopf schütteln kann. "Ich habe Jorge fahren lassen, bis er geweint hat. Und dann noch eine halbe Stunde", erklärte Chicho Lorenzo vor Jahren in einem Interview. "Ich war immer sehr streng im Training. Um das Beste aus einem Menschen herauszupressen, muss man ihn in Grenzsituationen bringen und bestimmte Situationen eben erzwingen." Ein Trainingsregime, das Jorge hart werden ließ. Hart im Umgang mit anderen Menschen, hart aber auch im Umgang mit sich selbst. Lorenzo schrieb Geschichten, die lange über seine Karriere hinaus in den Köpfen der MotoGP-Fans verankert sein werden. Wie etwa bei der Dutch TT im Jahr 2013, als er im 2. Freien Training stürzte, sich das Schlüsselbein brach, zur Operation nach Barcelona flog und weniger als 48 Stunden später wieder in Assen auf seiner Yamaha saß. Lorenzo beendete das Rennen als Fünfter. Zurück an der Box musste er unter Tränen vom Motorrad gehoben werden. Ein heroischer Ritt, der sinnbildlich für die Karriere von Jorge Lorenzo steht. Nichts, aber wirklich gar nichts, ließ er unversucht, um noch schneller, noch konstanter, einfach noch besser zu werden. Als er sich in seinen frühen Jahren mit schlechten Rennstarts immer wieder das Leben schwer machte, ließ er sich ein Übungsgerät bauen, mit dem er seine Reaktionszeit an der Ampel Stück für Stück verringern konnte. Lorenzo verbrachte unzählige Stunden damit - und wurde zu einem der besten Starter, den die Königsklasse je gesehen hatte. Zur gleichen Zeit forderte er von seinem damaligen Ausstatter Dainese ständig neue Details an seinen Lederkombis - und trieb die Damen und Herren in Italien damit in den Wahnsinn. Wie Motorsport-Magazin.com Jahre später bei einem Besuch der Firmenzentrale in Vicenza erfuhr, machte sich ein Gefühl von Erleichterung breit, als Lorenzo zu Alpinestars wechselte. Seine Forderungen waren aber nie vergebens, er wusste stets was er zu tun hatte.

Mit Yamaha stand Jorge Lorenzo viele Male auf dem Podium, Foto: Yamaha
Mit Yamaha stand Jorge Lorenzo viele Male auf dem Podium, Foto: Yamaha

Das galt insbesondere auch in der Entwicklung von Motorrädern. Bis heute haftet dem dreifachen MotoGP-Champion das Image an, in diesem Bereich keine Größe zu sein. Genau das Gegenteil ist aber der Fall, da sind sich viele Experten im Fahrerlager einig. Wohl kein Fahrer in der Geschichte war bislang in der Lage, die so schwierig zu kontrollierenden MotoGP-Raketen derart exakt und konstant zu fahren wie Jorge Lorenzo. Wie ein Metronom spulte er Runde um Runde deckungsgleich ab - egal ob im Rennen, im Training oder bei Testfahrten. Lorenzo fuhr immer dieselben Linien, wählte dieselben Bremspunkte und erzielte am Ende auch dieselben Zeiten. Alteingesessene MotoGP-Fotografen waren stets erstaunt, als sie Bilder von der Startnummer 99 auf ihre Rechner luden. Jede Aufnahme glich exakt der vorangegangenen und der nachfolgenden. So, als hätte man sie einfach weiterkopiert. Dadurch war Lorenzo in der Lage, den Ingenieuren besonders aufschlussreiche Daten und persönliches Feedback zu liefern. Und die Fakten untermauern die These über den grandiosen Entwicklungspiloten Lorenzo. In seiner letzten Yamaha-Saison holte das Werksteam mit ihm und Valentino Rossi sechs Siege und 20 Podiumsplatzierungen. Nach seinem Abgang sanken diese Werte auf vier Siege und zwölf Podien 2017 und nur noch einen Sieg beziehungsweise zehn Podien im Jahr 2018. In der abgelaufenen Saison holte man noch weniger Podien (neun), nur bei den Siegen ging es durch die beiden Erfolge von Maverick Vinales in Assen und Sepang wieder leicht bergauf. Auch die Tatsache, dass Yamahas erfolgreiche Satelliten-Piloten Johann Zarco und Fabio Quartararo in den vergangenen Saisons stets auf Maschinen setzten, die in puncto Chassis stark den von Lorenzo verwendeten glichen, ist ein Beweis seiner herausragenden Arbeit.

Bei Ducati brauchte der feinfühligste unter allen MotoGP-Fahrern länger, um die Desmosedici seinen Bedürfnissen anzupassen. Kein Wunder, verlangte die Rakete aus Borgo Panigale von ihm doch eine vollkommene Kehrtwende. Seinen einmaligen, sanften Fahrstil mit unglaublichen Kurvengeschwindigkeiten, den er auf der Yamaha M1 so perfektioniert hatte, konnte er bei Ducati nicht mehr anwenden. Die Maschine verlangte völlig andere Dinge von ihm, wollte mit viel Körpereinsatz in die Kurven gedrückt und anschließend wieder hinausbeschleunigt werden. Lorenzo stürzte in die erste große Krise seiner MotoGP-Zeit. In 18 Saisonrennen stand er nur drei Mal auf dem Podium und gewann in seinem zehnten Jahr in der Königsklasse erstmals keinen einzigen Grand Prix. Kritiker waren sich sicher, dass die Partnerschaft zwischen Lorenzo und Ducati nie eine glückliche werden würde. Spätestens nach einem desaströsen Start in sein zweites Jahr in Rot schien sich das zu bewahrheiten. Doch Lorenzo biss sich einmal mehr durch. Nach unzähligen Anpassungen und Tests mit unterschiedlichsten Anbauteilen gelang es ihm doch noch, mit der Ducati Desmosedici zu einer Einheit zu verschmelzen. "Ich musste in den letzten eineinhalb Jahren so viel Kritik einstecken", redete er sich nach seinem ersten Ducati-Sieg, ausgerechnet beim großen Heimspiel in Mugello, den Frust von der Seele. "Als die Ergebnisse schlecht waren, haben nicht mehr viele an mich geglaubt. Leute sagen oft, ich würde nur Ausreden suchen. Aber das stimmt nicht. Wenn ich sage, dass ich nur die richtigen Modifikationen brauche, um schnell zu sein, dann lüge ich mit solchen Aussagen ja nicht. Das ist nur die Wahrheit." Und so wurde Lorenzo einmal mehr zum größten Gegenspieler von Marc Marquez. Ehe im September 2018 beim Aragon-Grand-Prix seine unfassbare Verletzungsserie begann, die ihn gut ein Jahr später zum Karriereende veranlasste.

Jorge Lorenzo schreckte in seiner Laufbahn nie vor Herausforderungen zurück. 2008 wagte er als Rookie den Aufstieg ins Yamaha-Factory-Team an die Seite von Valentino Rossi. Dem Mann, der zu diesem Zeitpunkt fünf der letzten sieben Weltmeistertitel in der Königsklasse geholt hatte und der weithin als größter Motorradfahrer aller Zeiten gesehen wurde. Sich in dieser Position zu etablieren, war eine echte Mammutaufgabe. Doch Lorenzo biss sich durch, ließ sich von psychologischen Spielchen wie der Trennwand inmitten der Yamaha-Box nicht verunsichern und krönte sich 2010 erstmals zum MotoGP-Champion. In einem Team, welches immer noch zu großen Teilen auf Rossi zugeschnitten war und nach dessen Vorstellungen arbeitete. Eine Leistung, die man kaum hoch genug einschätzen kann. Rossi sah seine Felle in diesem stallinternen Duell davonschwimmen, packte entnervt seine Koffer und entschied sich zu einem erfolglosen zweijährigen Abenteuer bei Ducati. Dort sollte sechs Jahre später auch Lorenzo andocken und ein Motorrad fahren, das all das verlangte, was er in seiner bisherigen Karriere mied: Aggressivität, körperbetontes Fahren und damit eine grundlegende Umstellung seines Stils. Lorenzo schaffte auch das. Und wer weiß, vielleicht wäre er ein viertes Mal MotoGP-Weltmeister geworden, hätte er sich nicht just am Wochenende seines ersten Ducati-Sieges für die nächste große Herausforderung, den Wechsel zu Repsol Honda an die Seite von Dominator Marc Marquez, entschieden.

Für zwei Jahre war Jorge Lorenzo Ducati-Pilot, Foto: Tobias Linke
Für zwei Jahre war Jorge Lorenzo Ducati-Pilot, Foto: Tobias Linke

Eine Herausforderung, an der Lorenzo schlussendlich aufgrund zweier Faktoren scheitern sollte: Zum einen wäre da sein unglaubliches Verletzungspech. Zur Erinnerung: Lorenzo brach sich innerhalb von gut neun Monaten eine Zehe und renkte sich eine weitere aus (Aragon-GP 2018), verletzte sich einen Knöchel und brach sich die Speiche (Thailand-GP 2018), zog sich eine Fraktur im Bereich des linken Kahnbeins zu (Wintertraining 2019), demolierte eine Rippe (Katar-GP 2019), zog sich Verletzungen am Oberkörper zu (Barcelona-Test 2019) und brach sich schließlich zwei Rückenwirbel (Dutch TT 2019). Diverse Knochenbrüche steckte er noch souverän weg, doch der schwere Sturz im 1. Freien Training zur Dutch TT in Assen bedeutete ein Umdenken in der Vollgasmaschine Jorge Lorenzo. "Wir alle wissen, welche Konsequenzen unser Sport haben kann", sagt er. "Als ich nach diesem Sturz aufgestanden bin, habe ich mich aber zum ersten Mal gefragt, ob es das alles wirklich noch wert ist. Ich habe mich dennoch entschieden, es noch einmal zu versuchen. Der Berg war für mich aber bereits zu groß. Ich hatte nicht mehr die Motivation und Leidenschaft, um ihn zu erklimmen." Ein zweifacher Wirbelbruch, wie ihn sich Lorenzo in Assen zuzog, hat ganz andere Auswirkungen auf die Psyche eines Fahrers als die Standard-Blessuren an Schlüsselbeinen, Schultern oder Handgelenken. Wirbelverletzungen können ein Leben im Rollstuhl bedeuten. Wayne Rainey ist dafür das bekannteste und traurigste Beispiel in der Geschichte der Motorrad-Weltmeisterschaft. Auch er wirkte in den Jahren vor seiner lebensverändernden Verletzung unantastbar, beinahe übermenschlich - wie Lorenzo Dekaden später. Es sind Situationen wie diese, die auch den Piloten selbst klar machen, dass sie trotz ihrer teilweise außerirdisch wirkenden Leistungen nur Menschen sind. Und als solche haben auch sie Ängste, die ein Vorankommen in ihrem Sport unmöglich machen können. Für Jorge Lorenzo wurde dieses Gefühl im Sommer 2019 real.

Lorenzo zerbrach aber nicht nur an seinen Verletzungen, sondern auch an den gewaltigen Erwartungen, die von außen und von ihm selbst an ihn gestellt wurden. Marc Marquez und Jorge Lorenzo - das war das logische Dream-Team der MotoGP. Zusammen hatten sie acht der letzten neun Weltmeistertitel in der Königsklasse gewonnen. Und im Sommer 2018 waren Marquez und Lorenzo die stärksten Fahrer im Feld. Nach all seinen Verletzungen war Lorenzo aber eben nicht mehr derselbe wie zuvor, an der Erwartungshaltung änderte das aber nichts. Seine Ergebnisse - kein einziges Top-Ten-Resultat 2019 - waren nicht das, wofür ein Mann seiner Klasse Rennen fährt. Und auch nicht das, wofür Honda ihn an Bord geholt hatte. "Es tut mir leid für Honda, dass es so gelaufen ist", meinte er deshalb auch in seiner Rücktrittspressekonferenz. "Vor allem tut es mir Leid für Alberto (Teamchef Puig, Anm.). Er war derjenige, der mir diese Chance gegeben hat. Ich habe ihm bei einem unserer ersten Gespräche über den Wechsel gesagt, dass er sich das gut überlegen und nicht den falschen Fahrer holen soll. Er meinte nur: 'Wir werden es sicher nicht bereuen!' Aber ich habe sie enttäuscht."

Was bleibt, ist dennoch der Fakt, dass der Mann mit der Nummer 99 die größten Fahrer seiner Ära allesamt schlagen konnte. 2015 entriss er als bislang einziger Pilot Marc Marquez einen Titel in der Königsklasse und gewann das dramatischste Duell der letzten Jahre gegen Teamkollege Rossi. Zuvor hatte er bereits Superstars wie Casey Stoner oder Dani Pedrosa schachmatt gesetzt. Und so saß am 14. November ein fünffacher Weltmeister im Pressekonferenzraum des Circuit Ricardo Tormo von Valencia und verkündete seinen Rücktritt. Keine Spur war an diesem Tag mehr vom unsicheren und sozial ungelenken jungen Mann, der viele Jahre zuvor die MotoGP im Sturm erobert hatte. Lorenzo war, spät aber doch, auch menschlich gereift. Die Souveränität, mit der er seinen Abschied aus dem Sport bekanntgab, gepaart mit viel Emotion und weise gewählten Worten, rang allen Anwesenden Respekt ab: Journalisten, Teammitgliedern und Fahrerkollegen.

Im Rahmen des Grand Prix von Spanien 2020 wird Jorge Lorenzo offiziell zur MotoGP-Legende. Kaum jemand hat es mehr verdient als er.

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