Valentino Rossi ist eine herausragende Person in der Welt des Sports. Seine sensationellen Erfolge und die denkwürdigen Showeinlagen in Verbindung mit einem ebenso verrückten wie liebenswerten Charakter haben den schlaksigen Jungen mit Wuschelkopf einst weit über die Grenzen der Motorrad-WM hinaus bekannt gemacht. Auch Beobachter und Athleten aus anderen Bereichen verpassten ihm bereits das Prädikat 'Ausnahmekönner'. Hand in Hand mit solch verbalen Ritterschlägen zeigen derartige Sportler oft Leistungen, die für Außenstehende wie für direkte Konkurrenten gleichermaßen schwer begreiflich sind. Für einen derartigen Knalleffekt sorgte der mittlerweile zum Mann gereifte Rossi in dieser Saison.

Die vergangenen vier Jahre waren nicht leicht für 'The Doctor'. 2009 sicherte er sich noch seinen siebten Weltmeistertitel in der Königsklasse und die Fachwelt war sich so gut wie einig, dass Rossi den Rekord von Giacomo Agostini, der sich acht Mal zum Champion auf 500ccm krönen konnte, bald einstellen oder gar brechen würde. Doch dann folgte die Saison 2010. Ausgerechnet im zweiten Training zu seinem Heim-GP in Mugello stürzte er schwer und erlitt einen doppelten, offenen Schienbeinbruch. Rossi verpasste vier Rennen und war in diesem Jahr gegen die deutlich jüngere Generation rund um Jorge Lorenzo, Dani Pedrosa und Casey Stoner chancenlos.

Dieser Abflug wurde Rossi zum Verhängnis, Foto: Milagro
Dieser Abflug wurde Rossi zum Verhängnis, Foto: Milagro

2010 hatte er aber nicht nur eine Weltmeisterschaft verloren, sondern etwas, das für ihn von viel größerer Bedeutung war als ein einziger Titel: seine Ausnahmestellung im Werksteam von Yamaha. Diese hatte nämlich nun der frisch gekrönte Weltmeister Lorenzo inne. Rossi erkannte die Zeichen der Zeit. Er sah, dass es an der Zeit für einen Tapetenwechsel war und verließ Yamaha aus freien Stücken. Eine Rückkehr zu Honda, wo er seine ersten vier Jahre in der Königsklasse verbracht hatte, stand nach dem unrühmlichen Ende der Zusammenarbeit im Jahr 2003 nicht zur Debatte. So blieb nur der Wechsel zum dritten, einigermaßen konkurrenzfähigen Werksteam, nämlich dem von Ducati.

Ein Transfer, der sich als größte Fehlentscheidung in der langen und erfolgreichen Karriere des Valentino Rossi herausstellen sollte. Was folgte, war nicht die erhoffte Rückkehr zu alten Erfolgen, sondern die Demontage eines Denkmals. Gerade einmal drei Podiumsplatzierungen konnte Rossi in zwei Jahren auf der zickigen Desmosedici einfahren, ein Sieg blieb ihm verwehrt. Logische Folge war die Flucht aus Bologna - in der Saison 2013 zog es ihn zurück zu Yamaha. Dort ging es für den ehemals Unbesiegbaren wieder langsam bergauf. In Assen konnte er seinen ersten Sieg seit fast drei Jahren feiern, vom Glanz alter Tage war er aber nach wie vor weit entfernt. Zu stark war das spanische Spitzentrio mit Marc Marquez, Jorge Lorenzo und Dani Pedrosa, das dem Italiener meist nicht den Hauch einer Chance ließ.

2013 war Rossi meist nur vierte Kraft, Foto: Milagro
2013 war Rossi meist nur vierte Kraft, Foto: Milagro

Doch 2014 meldete sich Valentino Rossi sensationell zurück! Schon beim Saisonauftakt in Katar lieferte er sich ein sehenswertes Duell mit Marc Marquez und verpasste den Sieg nur hauchdünn. In dieser Tonart ging es für den mittlerweile 35-jährigen Routinier weiter. In Jerez, Le Mans, Mugello und Barcelona ließ er vier weitere Podiumsplatzierungen folgen. Mit 295 Weltmeisterschaftspunkten bestritt er seine beste Saison seit 2009, dem Jahr seines letzten Titelgewinns.

Wie aber schaffte es Rossi, in seinem Alter innerhalb weniger Monate wieder zum Schreck seiner um viele Jahre jüngeren Konkurrenz zu werden? Esteve Rabat, aktuell Führender der Moto2-Weltmeisterschft, glaubt, dass Jugend kein Muss für den Erfolg in der MotoGP ist: "Bei anderen Sportarten hängt viel vom Alter ab, bei uns meiner Meinung nach mehr vom Kopf. Man kann sehen, dass er unbedingt gewinnen will und deshalb ist er an der Spitze. Er kämpft, gibt immer alles und lässt nichts unversucht."

Für Andrea Dovizioso, einem langjährigen Kontrahenten Rossis in der MotoGP-Klasse, liegt die Wahrheit eher auf der Strecke als im Kopf seines Landsmannes. "Valentino hat seinen Fahrstil verändert, das hätte ich nicht erwartet. Er war in der Lage, daran zu arbeiten und konnte sich an das anpassen, was der Rennsport gerade braucht. So ist er wieder konkurrenzfähig geworden", erklärt Rossis Nachfolger bei Ducati im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. Dovizioso lobt jedoch auch das Team hinter dem Superstar: "Ich denke, dass sich Yamaha im Vergleich zum letzten Jahr ein wenig verbessert hat. Sie haben mit dem neuen Spritlimit beim Speed auf der Geraden keine Einschränkungen mehr."

Rossi eignete sich den modernen MotoGP-Fahrstil seiner jüngeren Gegner an, Foto: Milagro
Rossi eignete sich den modernen MotoGP-Fahrstil seiner jüngeren Gegner an, Foto: Milagro

Ob die Yamaha M1 im Vergleich zur Honda RC213V in diesem Jahr tatsächlich ein besseres Motorrad geworden ist, lässt sich schwer beurteilen. Wenn man allerdings die Leistungen Rossis denen seines strauchelnden Teamkollegen Jorge Lorenzo gegenüberstellt, drängt sich eher der Verdacht auf, dass die diesjährige Evolutionsstufe der M1 einfach dem Fahrstil des Routiniers besser entgegen kommt.

Rossi ist dafür bekannt, ein einzigartiges Talent zu haben, wenn es darum geht, ein Motorrad auf seine Bedürfnisse hin zu entwickeln und abzustimmen. Das hatte er bereits 2004 unter Beweis gestellt, als er von Honda kommend binnen weniger Monate aus der in der Vorsaison ohne Podiumsplatzierung gebliebenen Yamaha M1 ein Siegmotorrad machte und sich zum Weltmeister krönte. Sein neuer Renningenieur Silvano Galbusera zeigt sich von dieser Gabe Rossis beeindruckt: "Valentino ist ein kluger Pilot und macht nichts unüberlegt. Er versteht sehr gut, was das Motorrad macht. Sein Gefühl wird immer durch die Daten bestätigt. Das ist etwas, das nicht viele Fahrer können. Auch wenn er voll pusht, schafft er es immer, einen Teil seiner Konzentration abzuzweigen, um das Verhalten des Bikes zu analysieren." Das scheint ihm auch mit seinem Motorrad für 2014 gelungen zu sein.

Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte dabei aber auch Galbusera selbst gespielt haben. Die Brillanz von Jeremy Burgess, Rossis Renningenieur in den ersten 14 Jahren seiner MotoGP-Karriere, ist zwar unbestritten, dennoch überschreitet fast jede zwischenmenschliche Partnerschaft im Sport früher oder später ihr Ablaufdatum. Daraus machte Rossi auch keinen Hehl: "Es war okay mit Jeremy, aber mit Silvano ist es sehr gut." Ein wichtiges Detail sei dabei die gemeinsame Sprache. "Manchmal ist es sehr wichtig, Italienisch zu sprechen. Man kann schneller eine Entscheidung treffen, wenn man dieselbe Sprache spricht."

Rossi und Galbusera sind mittlerweile ein eingespieltes Team, Foto: Yamaha
Rossi und Galbusera sind mittlerweile ein eingespieltes Team, Foto: Yamaha

So geht Rossi als großer Jäger von Marc Marquez in die Saison 2015. Die momentane Führung im Stallduell gegen Jorge Lorenzo scheint ihm zusätzliche Lockerheit und das Überlegenheitsgefühl, welches er in den letzten Jahren oft vermissen ließ und das ihn einst so stark machte, zu verleihen. Gegen Lorenzo hatte sich Rossi in seiner ersten Yamaha-Phase noch ein erbittertes Duell auf und abseits der Strecke geliefert. Trotz dem wieder gefundenen Selbstvertrauen führt er einen beinahe aussichtlosen Kampf gegen Überflieger Marc Marquez. Das meint auch Andrea Dovizioso: "Auf dem Motorrad kann alles passieren. Wenn ich aber realistisch sein will, muss ich sagen, dass momentan niemand gegen Marquez ankämpfen kann."

Während also doch Zweifel daran herrschen, ob Rossi noch einmal einen Weltmeistertitel einfahren kann, gibt es zu einem anderen Thema keine zweite Meinung: 'The Doctor' ist die Nummer eins bei den Fans. Kein Pilot wird derart verehrt, ja beinahe vergöttert. Aleix Espargaro versucht für Motorsport-Magazin.com den Mythos Rossi zu beschreiben: "Er ist ein sehr charismatischer Fahrer. Er lacht immer und hat stets Spaß mit den Leuten. Wenn er seinen Helm vom Kopf nimmt, ist er genauso besonders wie davor. Für die Fans ist es wichtig, sich dem Fahrer nahe zu fühlen und Valentino ist dabei einfach der Beste."

Dieses einzigartige Standing macht Rossis Rückkehr auf die Straße des Erfolgs auch zu deutlich mehr, als dem einfachen Comeback eines Piloten. Denn was Michail Gorbatschow für Glasnost, Madonna für Popmusik oder Papst Johannes Paul II. für die katholische Kirche waren, ist der Mann mit der gelben Nummer 46 für den Motorradrennsport: ein unvergleichliches Leitsymbol.

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