Selbstbewusst und mit erhobenem Haupt betritt Jorge Lorenzo die Yamaha-Hospitality. Mit einem Strahlen im Gesicht begrüßt er seine Teammitglieder und belohnt die zahlreichen wartenden Fans mit Autogrammen und Erinnerungsfotos. Für jeden einzelnen, der sich für seinen Zustand interessiert, nimmt sich der 26-Jährige Zeit, um zu erklären, wie überraschend gut es ihm doch gehe. Ohne zu zögern setzt er sich an einen der vielen Tische und verzieht bei keiner Bewegung auch nur eine Miene. Lorenzo strahlt Zufriedenheit und Glück aus. Auch im Gespräch mit dem Motorsport-Magazin glänzen seine Augen voller Vorfreude auf das Rennen.

Jorge Lorenzo biss auf die Zähne und fuhr in Assen zu Platz fünf., Foto: Yamaha Factory Racing
Jorge Lorenzo biss auf die Zähne und fuhr in Assen zu Platz fünf., Foto: Yamaha Factory Racing

Kaum zu glauben, dass der amtierende Weltmeister erst fünf Tage zuvor unter quälenden Schmerzen eines der wichtigsten Rennen seiner Karriere als Fünfter beendet hatte. Lorenzo war im zweiten Freien Training zum Grand Prix der Niederlande am Donnerstagnachmittag - exakt eine Woche zuvor - heftig von seiner M1 geflogen und hatte sich beim Aufschlag das linke Schlüsselbein gebrochen. Entgegen aller Erwartungen flog er noch am Sturz-Tag nach Barcelona zurück und legte sich in der Nacht auf den OP-Tisch. Nach nur kurzer Erholungsphase brachte ihn der gecharterte Privatjet am Freitag wieder zum TT Circuit, wo er am Renntag grünes Licht von den Ärzten bekam, um in Warm-Up und Rennen zu starten.

Assen steht definitiv nicht auf Lorenzos Glücksbringer-Liste. Schon im letzten Jahr war das Rennen des Mallorquiners auf dem historischen Kurs im Kies der ersten Kurve beendet - abgeräumt von Alvaro Bautista. Eine Katastrophe im Kampf um den Titel. Dennoch gelang es Lorenzo am Ende der Saison 2012 als erstem Spanier, einen zweiten WM-Kampf in der Königsklasse für sich zu entscheiden. "Wir wussten genau, wie schwierig es sein wird, gegen Fahrer wie Casey [Stoner] und Dani [Pedrosa] und gegen einen Hersteller wie Honda zu kämpfen. Es war so hart. Wir wussten, dass wir extrem konstant sein mussten, keine Fehler machen durften, die Rennen immer beenden mussten und sehr konzentriert sein mussten", erklärte er nach dem Titelgewinn im vergangenen Jahr auf Phillip Island.

Doch wie sieht es in diesem Jahr aus? Beim Hauptkonkurrenten Honda hat sich, was die Konkurrenzfähigkeit angeht, definitiv nichts verändert. Im Gegenteil: Mit Marc Marquez kommt sogar noch einmal frischer Wind, gepaart mit einer Menge Talent und dem Willen, den Titel in der Königsklasse schon im ersten Jahr mitzunehmen. Nach einer starken zweiten Saisonhälfte 2012 hat Pedrosa ebenso wenig an Biss verloren, obwohl er wie Lorenzo von einem Schlüsselbeinbruch eingebremst wurde. Als wäre die starke Konkurrenz im Repsol Honda Team nicht schon genug, klopfen auch Valentino Rossi und Cal Crutchlow aus dem eigenen Lager an die Hintertür. Dachte Lorenzo 2011 noch, dass das Verteidigen der Weltmeisterschaft dank Stoner so gut wie unmöglich sei, so sind seine Chancen zur Titelverteidigung auch in diesem Jahr alles andere als gestiegen.

Nach einem ermutigenden Auftaktsieg folgte für den Yamaha-Piloten schon in Texas ein erster Schlag ins Gesicht: Rookie Marquez siegte, für Lorenzo reichte es nur zum dritten Rang. Die zweite Klatsche gab es beim Spanien GP in Jerez: Marquez stach á la Rossi-Gibernau 2005 in der letzten Kurve rein, bremste zu spät, drängte Lorenzo von der Ideallinie ab und sicherte sich vor dem amtierenden Weltmeister den zweiten Rang. Als sich die Wogen nach dem spanischen Grand Prix gerade erst geglättet hatten, schlug ein beschädigter Reifen in Le Mans neue Wellen. Mit einem Triumph in Mugello und einem emotionalen Heimsieg in Barcelona schien es für Lorenzo endlich wieder bergauf zu gehen. Doch dann kam Assen.

Lorenzo bewies Weltmeisterpotential, biss sich durch, ertrug die Schmerzen und konnte sogar noch Schadensbegrenzung betreiben. Obwohl er nach dem Grand Prix der Niederlande erschöpft, steif und mit sichtlichen Qualen von der YZR-M1 abstieg und sich in die Box schleppte, sprachen seine Augen eine andere Sprache. Sie beschrieben die Erleichterung und die Freude über seine heroische Leistung. Eben dieses Gefühl nahm Lorenzo wenige Tage danach mit nach Deutschland. Auch am Donnerstag auf dem Sachsenring flackerte die Zufriedenheit in seinen Augen, die von Spannung und Vorfreude auf das Rennwochenende zeugten. Doch zu diesem Zeitpunkt wusste Lorenzo noch nicht, dass ihm der wohl schlimmste Teil seiner Saison erst noch bevorstehen würde.

Viele Journalisten haben dich nach dem Rennen in Assen als Helden bezeichnet. Was denkst du darüber?
Jorge Lorenzo: Meiner Meinung nach bin ich kein Held. Wahre Helden sind die Leute, die in Europa oder auf der ganzen Welt keine Arbeit haben oder nur ein kleines Gehalt und jeden Monat darum kämpfen, ihre Familie zu ernähren. Das sind wahre Helden. Ich bin ein Glückspilz, denn ich habe einen wunderbaren Job. Ich werde dafür bezahlt, dass ich das mache, was ich am meisten mag: auf einem Motorrad zu fahren. Ich bin wirklich ein sehr glücklicher Mensch.

Wie schlimm war es, die Schmerzen zu ertragen?
Jorge Lorenzo: Das Schlechteste am Motorradrennsport sind die Verletzungen. Dieser Sport ist sehr gefährlich, man kann sterben, extreme Schmerzen haben und schwer verletzt werden. Aber in jeder Sportart und in jedem Job gibt es negative Seiten. Man kann sich also schon über gewisse Dinge beschweren, aber man muss weitermachen. Wenn man wirklich weiß, was man tut und gewinnen will, dann muss man einfach weitermachen - in diesem Sport, den man liebt.

Hast du in den 26 Runden in Assen jemals überlegt aufzugeben?
Jorge Lorenzo: Nein, im Rennen nicht. Im Warm-Up habe ich vielleicht einmal darüber nachgedacht. Die ersten zwei bis drei Runden im Warm-Up waren wirklich hart, denn ich hatte extreme Schmerzen, also musste ich meinen Körper daran anpassen und herausfinden, wo ich mich etwas entspannen kann, um Energie zu sparen. Die ersten zwei bis drei Runden waren hart. Ich dachte, dass das Rennen wirklich schwer werden würde. Mit jeder Runde wurde es dann aber immer besser, wobei ich eine große Erleichterung verspürte.

Musstest du deinen Fahrstil mit der gebrochenen Schulter ändern?
Jorge Lorenzo: Ja, ich konnte natürlich fast gar keine Kraft auf meiner linken Seite nutzen, also musste ich komplett auf rechts umstellen und von dieser Seite her alle Power nehmen. Deshalb wurde ich im Rennen extrem müde, das strengt natürlich an.

Du hast dein Heim-Rennen in Barcelona gewonnen und danach bist du das heroische Rennen in Assen gefahren. Welches gab dir ein besseres Gefühl?
Jorge Lorenzo: 25 Punkte sind natürlich 25 Punkte. Wenn wir über Ergebnisse reden war der Catalunya Grand Prix sicherlich viel besser. Wenn es aber um die positiven Auswirkungen auf die Leute geht, bleibt Assen einfach für immer in den Erinnerungen zahlreicher Menschen. Das ist wahrscheinlich wichtiger als die Punkte.

An der Seite des Ex-Yamaha-Königs

Was kannst du gegen die Honda-Piloten ausrichten?
Jorge Lorenzo: Ich denke, wir sind schon großartig - wenn man Le Mans auslässt. Das war eine Katastrophe. Ich denke, wir hatten dort keinen sehr guten Hinterreifen, deshalb war auch unsere Leistung katastrophal. Dann kam noch der Sturz in Assen. Abgesehen von Le Mans denke ich aber, dass wir bis dahin eine wirklich gute Meisterschaft gefahren sind.

Dein Verhältnis zu Valentino Rossi ist in diesem Jahr viel besser. Was hat sich in den zwei Jahren verändert, in denen er bei Ducati fuhr?
Jorge Lorenzo: Wir sind jetzt in einer anderen Position. Als ich zu Yamaha kam, war er Weltmeister in der MotoGP und er war der absolute Nummer-1-Fahrer oder sogar der Yamaha-König. Wie auch immer man ihn bezeichnen will, er stand auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ich stieg auf und hatte viel zu lernen. Er wollte seine Position und sein Land einfach ein wenig verteidigen und ich kam langsam, wurde immer besser und immer stärker, womit ich auch im Werk mehr Einfluss bekam. Als er nun nach zwei Jahren wieder zu Yamaha zurückkam, war die Position eine andere. Wir wissen alle, dass er neunfacher Weltmeister und über 100-facher GP-Sieger ist. Er muss nun aber erst einmal wieder beweisen, dass er der Yamaha-Führer ist oder einfach der Fahrer ist, der auf der M1 mehr Grands Prix gewinnen kann. Das ist nicht leicht für ihn. Ich sitze schon lange auf diesem Bike und kenne es gut. Trotzdem ist er aber noch immer auf einem sehr hohen Niveau. Wie er in Assen bewiesen hat, kann er noch immer sehr schnell und stark auf diesem Bike sein.

Vermisst du Casey Stoner?
Jorge Lorenzo: Vermissen ist ein bedeutendes Wort. Aber sicherlich fehlt es mir, ihn fahren zu sehen, besonders auf Phillip Island - aber eigentlich auch auf allen Strecken. Mit seinem Talent, wie er mit dem Hinterrad geslidet ist... es war einfach unglaublich. Als Rivale war er sehr stark und extrem schwer zu schlagen. Als Fan der MotoGP war es fantastisch, einen Fahrer wie ihn zu sehen.

Cal Crutchlow ist nicht nur ein Gegner, sondern auch ein Freund von dir. Ändert die Freundschaft für dich irgendetwas auf der Strecke?
Jorge Lorenzo: Ja, wir sind Freunde, aber das ändert nichts auf der Strecke. Die Rennstrecke ist die eine Sache und unser Privatleben oder unser Leben abseits der Rennstrecke ist eine andere.

Könntest du dir vorstellen, ein anderes Motorrad als die Yamaha zu fahren?
Jorge Lorenzo: Es ist kein Geheimnis, dass ich meine Karriere gerne in diesem Team und auf dieser Maschine beenden würde. Das ist und bleibt mein Traum. Aber jeder Fahrer weiß, was passieren kann. Von heute auf morgen kann sich die Situation komplett verändern.

Was sind deine Stärken auf der M1?
Jorge Lorenzo: Die Stabilität, die Art und Weise, wie ich mit dem Gas umgehen kann, sind definitiv Stärken auf der Yamaha.

Was denkst du über das neue Qualifikationsformat in diesem Jahr?
Jorge Lorenzo: Es ist interessanter. Man muss aber auch etwas mehr aufpassen und weniger Fehler machen als zuvor, denn die Zeit ist kürzer. Manchmal ist es etwas stressiger als zuvor, aber das ist an jedem Rennwochenende anders.

Falscher Feueralarm

Was hatte es mit der abgebrannten Wohnung in der Schweiz auf sich?
Jorge Lorenzo: Die Gerüchte waren falsch. Das war nicht meine Wohnung, zum Glück! Es stimmt aber, dass ich mir diese Wohnung angesehen hatte, ich habe sie aber nicht genommen. Ich lebe noch immer in einem Hotel in der Schweiz. Ich suche noch ein schönes Haus. Aber am besten wird es wohl sein, ich fahre mal schnell nach Lugano und lösche das Feuer in meiner Wohnung. [lacht]

Warum hast du entschieden, in die Schweiz auszuwandern?
Jorge Lorenzo: In Lugano wird Italienisch gesprochen, dort kann ich mich als Spanier zumindest verständigen. Außerdem ist der Ort sehr nah an Yamaha in Mailand dran, bis dahin brauche ich nur eineinhalb Stunden und ich trainiere fast jeden Tag bei Yamaha.

Zum Saisonende gelang Lorenzo ein Triple., Foto: Milagro
Zum Saisonende gelang Lorenzo ein Triple., Foto: Milagro

Betreibst du in deiner Freizeit auch andere Sportarten?
Jorge Lorenzo: Ich mag Fußball, Tennis, Golf und ich spiele viel Tischtennis. Ich denke, das ist sehr gut für die Reflexe und macht natürlich viel Spaß. Die vier Sportarten mag ich am liebsten.

Wie würden dich deine Freunde beschreiben?
Jorge Lorenzo: Ich denke mal als einen Perfektionisten und als sehr unpünktlich. Ja, ich komme immer zu spät. [lacht]

Was ist der größte Fehler, den du je begangen hast?
Jorge Lorenzo: Keine Ahnung... Als ich ein Kind war, habe ich mich gegenüber manchen Menschen vielleicht schlecht verhalten. Aber wenn man noch jung ist, macht man viele Fehler.

Was motiviert dich jeden Tag?
Jorge Lorenzo: Ich versuche, das Leben zu genießen. Ich versuche, zu schätzen, was ich habe. Ich denke, das ist eine der schwierigsten Aufgaben im Leben, aber man muss es tun.

Hast du eine schlechte Angewohnheit, die du gerne loswerden würdest?
Jorge Lorenzo: Ja, ich hänge den ganzen Tag bei Whats App rum. [lacht]

Was ist dein größter Traum abseits der Rennstrecke?
Jorge Lorenzo: Ich will einfach immer versuchen, sicher und gesund zu bleiben.

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