Geschlagene 1.687 Tage und zwei Auto-Generationen (Gen1, Gen2) vergingen seit dem Debütrennen der Formel E in Peking (13. September 2014) bis zum allerersten Regen-Rennen am 27. April 2019 in Paris. Der erste ePrix unter nassen Bedingungen endete damals in einem Chaos mit zahlreichen Kollisionen, Safety Cars und Robin Frijns, der das Rennen für das heutige Weltmeister-Team Envision (damals Virgin) vor Andre Lotterer und Daniel Abt gewann.

In der dritten technologischen Ära der Formel E vergingen nur 196 Tage seit dem Saisonauftakt in Mexiko-Stadt (13. Januar 2023) und dem ersten Regen-Rennen mit den neuen Gen3-Autos beim Saisonfinale in London am 30. Juli dieses Jahres. Damals Drama, diesmal Langeweile: Der letzte Saisonlauf auf dem britischen Stadtkurs könnte als das ereignisloseste Rennen in die Geschichtsbücher der Elektro-Rennserie eingehen.

Regen-Rennen als kompletter Formel-E-Kontrast

Während der 38 Runden des Rennens, das wegen Starkregens und schlechter Sicht mit 90 Minuten Verspätung begann, passierte kaum etwas. In den Top-10 gelangen nur dem neuen Weltmeister Jake Dennis (Andretti-Porsche, von P4 auf P3) und Sebastien Buemi (Envision-Jaguar, von P7 auf P6) je eine Positionsverbesserung. Ein völliger Kontrast zum unfallträchtigen, trockenen Samstagsrennen in London oder den berüchtigten Energie-Spar-Schlachten mit hunderten Positionsänderungen während der Saison.

Der Rennverlauf wirkte nicht nur auf die geduldig ausharrenden Zuschauer - immerhin im Trockenen auf den Tribünen der Messehalle des zu Teilen überdachten Kurses - eher ermüdend. Aus dem Cockpit heraus war es "fast genauso langweilig", räumte Porsche-Pilot Pascal Wehrlein gegenüber Motorsport-Magazin.com ein. "Es ist nicht viel passiert und es gab keine Überholmöglichkeiten. Das Rennen war nicht Energie-limitiert, also keine Chance, in den Bremszonen ein Überholmanöver zu starten."

Auch sei die Sicht auf den wenigen Geraden der Stadtstrecke im Londoner Hafengebiet ziemlich schlecht gewesen, sodass man die Bremspunkte nicht gut habe sehen können. "Es war nur schwierig, das Auto auf der Strecke zu halten", beschrieb Wehrlein - von P10 gestartet und als Zehnter ins Ziel gekommen - die Verhältnisse.

Formel-E-Finale Hankook London ePrix 2023: Highlights (03:41 Min.)

Ein "richtiger Eiertanz" sei es laut Landsmann Maximilian Günther (Maserati-DS) mit dem bis zu 350 kW (476 PS) starken Auto gewesen: "Und eine große Herausforderung, das Auto auf der Strecke zu halten. Im Cockpit war es auf jeden Fall nicht langweilig. Ich hatte alle Hände voll zu tun. Schade, dass es auf dem Bildschirm so aussah."

Warum das Regen-Rennen in London so langweilig

Beim ersten Regen-Rennen mit dem Gen3-Auto und den Allwetterreifen des neuen Ausstatters Hankook führten mehrere Faktoren zu einer ziemlich unspektakulären Angelegenheit. Wie bei nassen Bedingungen in der Formel E üblich, spielt das Energie-Management praktisch keine Rolle. Fahrer können mit einer energiesparenden Fahrweise also keinen echten Unterschied ausmachen und sich einen Performance-Vorteil erarbeiten. Auch zählt der temporäre Kurs in London zu den schmalsten der gesamten Saison, wo saubere Überholmanöver ohnehin einem Kunststück gleichkommen.

Und wegen des stehenden Regens auf dem Asphalt mit acht (!) unterschiedlichen Belägen und rutschigen Rampen gab es faktisch nur eine einzige Fahrlinie, die niemand verlassen wollte. "Um wirklich jemanden zu überholen, musst du effektiv 20 Meter später bremsen", erklärte Maserati-Ass Günther im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Wenn du das machst, bist du zu 100 Prozent in der Mauer oder Auslaufzone. Du versuchst zwar auch mal auszuscheren, aber das war absolut unmöglich."

Rast im Regen: "Du wusstest nicht mehr, wo du bist"

Rene Rast (McLaren-Nissan) beschrieb das 'Fahrerlebnis' gegenüber MSM ähnlich: "Es gab nur eine Linie, und das waren zwei Reifenspuren. Wenn du nur ein bisschen davon abgewichen bist, war es vorbei und du standest quer. Du konntest nicht verzögern, aufs Gas gehen oder lenken. Und wenn du zu nah an jemanden rangefahren bist, hattest du Gischt, hast nur noch ein rotes Blinklicht (Heckleuchte des Vordermannes) gesehen und wusstest nicht mehr, wo du bist."

Die wenig vorhandene Sicht aus dem Cockpit heraus führte zu teilweise klaffenden Lücken im Feld der 22 Autos. Wo die ersten Fahrer beim Zieleinlauf in der Formel E üblicherweise nur wenige Sekunden trennen, sah es in London ganz anders aus: Pole-Setter, Rennsieger und Vize-Weltmeister Nick Cassidy (Envision-Jaguar) hatte 4,9 Sekunden Vorsprung auf den Zweitplatzierten und künftigen Jaguar-Teamkollegen Mitch Evans. Dennis folgte mit 16 Sekunden Abstand als Dritter und Norman Nato (Nissan) auf P4 fehlten irrwitzige 24 Sekunden.

Nick Cassidy mit Envision beim Formel-E-Rennen in London unter Regen
Nick Cassidy gewinnt das erste Regen-Rennen der Gen3-Ära, Foto: LAT Images

Wette verloren: Kein einziger Unfall im Nassen

Trotz der Langeweile muss den Fahrern ein Lob ausgesprochen werden: Mit Ausnahme von Jean-Eric Vergne (Reifenschaden) gab es keine vorzeitigen Ausfälle. Im Fahrerlager und im Pressezentrum wurden zuvor Wetten abgeschlossen, welcher Fahrer wohl als erster abfliegen und wie wenige Autos es ins Ziel schaffen würden... Die ausnahmslos Profi-Rennfahrer der Formel E haben die 'Experten' ganz offensichtlich eines Besseren belehrt. Man hätte es wissen können, schließlich ging das vorangegangene Regen-Qualifying in Berlin ebenfalls souverän über die Bühne.

"Ich bin überrascht, dass nicht mehr passiert ist", wunderte sich allerdings auch der zweifache DTM-Vizemeister Nico Müller (Abt-Mahindra) im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Ich hätte gedacht, dass es mehr Action gibt. Es ist schon tricky, wenn du auf einer Strecke mit öffentlichen Straßen, vielen Bodenwellen und vielen Pfützen samt stehendem Wasser fährst. Man konnte zwar fahren, musste aber schon sehr bei der Sache sein."

Rennen mit Allwetterreifen: Geht das?

Regen-Rennen und Formel E mit Allwetterreifen: Kann das überhaupt funktionieren? In der Vergangenheit mit den Michelin-Reifen und den leistungsschwächeren Gen2-Autos krachte es unter nassen Bedingungen in aller Regelmäßigkeit. Vor allem, wenn die Gummis bei zunehmender Laufleistung im Rennen auf natürliche Art an Grip verloren, wie 2022 bei der Karambolage von New York.

Nicht umsonst hatte die FIA vom Nachfolger Hankook, unter anderem bekannt aus zehn Jahren in der DTM, einen Reifen gefordert, der auch im Regen konstant performen kann. Hankook erfüllte diese Aufgabenstellung mit Bravour, die Kompromiss-Vorgabe des Automobil-Weltverbandes ging allerdings etwas zu Lasten des Grips bei trockenen Verhältnissen.

Rene Rast im McLaren beim Formel-E-Rennen in London unter Regen
Rene Rast meistert den Regen beim Formel-E-Finale in London, Foto: LAT Images

Günther: Auf anderen Strecken tolle Rennen möglich

Die Fahrer waren überzeugt, dass sich auf Kursen mit einer größeren Streckenbreite und weniger stehendem Wasser durchaus passable Regen-Rennen abliefern lassen. Der Schweizer Müller meinte: "Der Reifen funktioniert erstaunlich gut bei diesen Bedingungen für ein Produkt, das alles können muss. Aber wenn das Wasser steht, wird's so schwierig wie in fast jeder anderen Serie. Auch weil die Sicht gerade auf einem Stadtkurs mit ein paar schnellen, blinden Kurven tricky ist. Ein Rom 2.0 (schwerer Unfall in blinder Kurve; d. Red.) brauchen wir nicht. Die Gischt ist das Hauptproblem."

Maserati-Fahrer Günther sagte: "Es ist generell eine Herausforderung, dass wir im Vergleich zu herkömmlichen Reifen in anderen Serien weniger Grip haben. Aber als Fahrer und als Team kannst du mit Setup und Co. einen größeren Unterschied machen. Das macht es auch bei Regen spannend. Auf einem Stadtkurs wie in London ist es wie in Monaco, wo du einfach nicht überholen kannst. Aber auf anderen Strecken kann man unter solchen Bedingungen richtig tolle Rennen zeigen."