Während sich die Formel 1 aktuell mit einem Langeweile-Problem mangels Überhol-Action herumplagt, sieht die Angelegenheit in der Formel E gänzlich anders aus. 190 Überholmanöver beim Samstagsrennen in Berlin, weitere 172 am Sonntag - macht schier unglaubliche 362 Positionswechsel an einem Rennwochenende im Verlauf von insgesamt nur 90 Minuten Renndauer.
Dazu 20 Führungswechsel und acht unterschiedliche Spitzenreiter allein am Samstag auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafens Tempelhof. Über mangelnde Abwechslung kann sich die Formel E mit den neuen Gen3-Autos nicht beklagen. Die Verantwortlichen der Elektro-Serie geraten angesichts dieser im Motorsport wohl einzigartigen Werte ins Schwärmen. "Es geht nur ums Spektakel und wie die Rennen bei den Leuten ankommen", gab Serienmitgründer Alberto Longo zuletzt die Marschroute vor.
"Ich muss jede Runde schauen, um im Bilde zu sein"
Unter den Zuschauern und Experten gehen die Meinungen unterdessen so stark auseinander wie nie zuvor in der gut achtjährigen Geschichte der Formel E. Die einen feiern die permanente Abwechslung und Action-Dauerbefeuerung in den Rennen, andere kritisieren die zum Teil schwer nachvollziehbaren Rennverläufe, die nicht selten einen roten Faden vermissen lassen und wo erst spät verständlich wird, wer denn die Favoriten auf den Sieg sind.
"In meinen Augen ist das ein Spektakel, das für die Zuschauer interessant ist und eine hohe Dynamik bietet", meinte der erfahrene Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Ich muss jede Runde schauen, um im Bilde zu sein. Die Motivation, die man in anderen Rennserien haben kann - den Start und dann die letzten zehn Minuten zu schauen - sehe ich hier nicht. Wenn man nur fünf Minuten verpasst, weiß man nicht, was passiert ist."
Überflieger Cassidy: "Das ist keine Lotterie"
"Ich mag es, auch, wenn es vielleicht ein bisschen anders ist", sagte der Mann der Stunde in der Formel E, Nick Cassidy. Der Envision-Pilot gewann das Sonntagsrennen in Berlin und errang seinen vierten Podestplatz innerhalb der letzten fünf Rennen. In der WM-Tabelle ist Cassidy vor dem anstehenden Rennen in Monaco (Samstag, 15:00 Uhr live bei ProSieben) bis auf vier Punkte an Spitzenreiter Pascal Wehrlein (Porsche) herangerückt.
Rennsport-Allrounder Cassidy weiter: "Wenn ein Fahrer von der 3. bis zur 40. Runde immer auf der gleichen Position fährt, ist das nicht so spannend anzuschauen. Das hier ist jetzt ein neues Element an Unterhaltung. Die Formel E versucht eine Fan-Base aufzubauen und wir Fahrer wollen zeigen, was wir können. Du musst trotzdem schnell sein und die Pace haben, um ein Rennen zu gewinnen. Das ist keine Lotterie, in der niemand gewinnen will."
Sorge vor schweren Startunfällen in Monaco
Natürlich waren die mehr als 360 Positionswechsel in Berlin nicht allein auf klassische Überholmanöver zurückzuführen. Die Nutzung der Attack-Modes sorgt seit Einführung des Strategie-Tools im Jahr 2018 automatisch für Verschiebungen. Ein neues Element in der aktuellen Gen3-Ära sind die 350 kW (476 PS) starken Autos, bei denen der Windschatten-Effekt derart dominant ist, dass in der ersten Rennhälfte kein Fahrer das Feld anführen will.
Das führt zu kurios anmutenden Szenen, in denen sich die Fahrer schon am Start gegenseitig vorbeiwinken und alles dafür tun, ihren Verfolgern keinen Energie-sparenden Windschatten zu liefern. Im Fahrerlager herrschen deshalb Sorgen über schwere Startunfälle. Vor allem in Monaco, wo sich das Feld der 22 Autos auf dem Weg in Kurve 1 (Sainte Devote) ohnehin zusammenstaucht und es in der Vergangenheit bereits gescheppert hat.
"Das sieht manchmal ein bisschen merkwürdig aus", fand Berlin-Polesetter Robin Frijns (Abt-Cupra), dessen Energie-Management durch nur wenige Führungsrunden derart stark belastet wurde, dass er bis auf den 17. Platz zurückfiel. "Nach einer Runde war ich praktisch tot", formulierte es der Niederländer dramatisch.
Der dreifache Le-Mans-Sieger Andre Lotterer (Andretti) meinte: "Man muss sich strategisch einen Vorteil verschaffen, das ist dasselbe Spiel für Alle. Wenn man von der Pole startet, ist es nicht einfach. Es gibt aber Wege, den Platz abzugeben. Das ist einfach ein anderer Sport."
Jaguar-Wochen in der Formel E
Das Erfolgsrezept bei den letzten drei Rennen in Sao Paulo und Berlin in einem Satz erklärt: stets in den Top-8 mitschwimmen, bloß nicht führen, die Attack-Modes frühzeitig verbraten, Kollisionen um jeden Preis vermeiden und dann im Schlussdrittel mit einem Energie-Vorteil angreifen. Und am wichtigsten: ein Rennauto mit einem höchst effizienten Energie-Management haben!
Dass die Rennausgänge auf den beiden Kursen mit langen Geraden und einem hohen Topspeed-Anteil nicht von Zufall geprägt waren, zeigten die Ergebnisse: Alle drei Siege gingen auf das Konto von Jaguar-Antriebssträngen, zweimal gewann Mitch Evans im Werksauto sowie einmal Cassidy im Kunden-Jaguar von Envision. Der britische Sportwagenbauer eroberte mit einem Dreifach-Sieg in Sao Paulo, einem Doppelsieg in Berlin (Samstag) sowie einem weiteren Berlin-Sieg (Sonntag) sechs der neun zu vergebenden Podestplätze im Verlauf der letzten drei ePrix!
Müller: "Wir durften nicht lange vorne sein"
Dabei sorgte vor allem Berlin-Sonntagssieger Cassidy für eine faustdicke Überraschung: Der Neuseeländer übernahm schon in der 24. Runde die Führung und gab sie bis zum Zieleinlauf nach 40 Runden nicht mehr ab. Ein völliger Gegensatz zu den vorangegangenen Rennen, in denen die Fahrer so spät wie möglich und erst in den letzten Umläufen nach der Führung griffen, um den Luftwiderstand an der Spitze zu vermeiden.
"Es wurde so viel Energie gespart, dass es irgendwann keinen Sinn mehr machte, weiter zu sparen", erklärte Nico Müller (Abt-Cupra) gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Das haben andere Fahrer mit ihren sehr effizienten Autos relativ früh erreicht. Dann kannst du andere Autos trotz Windschatten hinter dir halten, weil die Coast-Phasen kürzer werden. Am Sonntag konnten die effizientesten Autos ihren Vorteil noch mehr ausspielen. Wir hingegen wussten, dass wir nicht lange vorne sein dürfen, weil uns sonst schnell der Saft ausgeht."
Ein Blick auf die Rundenzeiten am Sonntag zeigte, dass das Rennen in gewissen Phasen so langsam war, dass die Fahrer massig Energie einsparen und dann früher angreifen konnten. Davon profitierte unter anderem Maximilian Günther (Maserati), der mit seinem Antriebsstrang von DS Automobiles vom 21. bis auf den 6. Platz nach vorne stürmte und nach dem Podesterfolg am Samstag weitere Punkte einsackte.
Formel E: Nächster Überhol-Wahnsinn in Monaco?
DS mit dem Penske-Werksteam und Kundenteam Maserati hat sich in den letzten Rennen hinter Jaguar und Porsche zur dritten Kraft in der Formel E entwickelt. "Porsche und Jaguar fahren in einer eigenen Liga", war der frühere Champion Lucas di Grassi (Mahindra) überzeugt.
Unklar, wie sich das Rennen am kommenden Samstag in Monaco über die Distanz von 29 Runden gestalten wird. Mangels langer Vollgas-Passagen dürfte sich der Windschatten-Effekt nicht so extrem bemerkbar machen wie zuletzt, aber wieder eine ganz entscheidende Rolle spielen. Über mangelnde Überholmanöver-Werte muss sich die Formel E ohnehin keine Sorgen machen, schon 2021 zählte das Monaco-Rennen für diesen Kurs völlig untypische 28 Positions- und sechs Führungswechsel allein unter den Top-6.
Formel-E-Tabelle 2023: Top-10
Pos. | Fahrer | Team | Punkte |
---|---|---|---|
1 | Pascal Wehrlein | Porsche | 100 |
2 | Nick Cassidy | Envision-Jaguar | 96 |
3 | Jean-Eric Vergne | DS Penske | 81 |
4 | Jake Dennis | Andretti-Porsche | 80 |
5 | Mitch Evans | Jaguar | 76 |
6 | Antonio Felix da Costa | Porsche | 68 |
7 | Sam Bird | Jaguar | 62 |
8 | Sebastien Buemi | Envision-Jaguar | 57 |
9 | Rene Rast | McLaren | 40 |
10 | Jake Hughes | McLaren | 32 |
diese Formel E Nachricht