Es darf durchaus als eine Sensation bezeichnet werden: Ausgerechnet beim Formel-E-Heimspiel in Berlin eroberte mit Abt-Cupra das bislang schwächste Team der Saison 2023 eine völlig überraschende Doppel-Pole. In der deutschen Hauptstadt gab es am Sonntagvormittag kein Halten mehr in der Abt-Garage, als Robin Frijns und Teamkollege Nico Müller die erste Startreihe belegten.

Tränen flossen bei der erfahrenen und seit Jahrzehnten erfolgsverwöhnten Truppe, die als einziges Team zuvor keinen einzigen Punkt in der laufenden Saison erzielt hatte. Und das auch noch vor den Augen von Namenspartner Cupra und CEO Wayne Griffith, nachdem der Autobauer aus Spanien am Wochenende die Formel-E-Plattform genutzt hatte, um in einem der Hangars neben der Flugplatz-Rennstrecke vor 1.500 geladenen Gästen ein neues Serienmodell vorzustellen.

Abt-Cupra holt erste Punkte in der Formel E 2023

Der Niederländer Frijns bescherte den Äbten mit seiner zweiten Formel-E-Pole nach 2021 die ersten drei WM-Zähler, später im Rennen legte Müller nach und kassierte als Neuntplatzierter zwei weitere Punkte. Dass Frijns bei trockenen Bedingungen vom ersten bis auf den 17. Platz durchgereicht wurde, zeigte eindrucksvoll, dass das Mahindra-Kundenauto im Renn-Trimm "einfach zu schlecht ist", wie es ein Abt-Teammitglied auf den Punkt brachte.

Um an die Erfolge früherer Zeiten anzuknüpfen, braucht es für Formel-E-Rückkehrer Abt Sportsline unter der Leitung von Thomas Biermaier schon ein kleines Wunder. Und genau das gab es am zweiten Renntag auf dem Rollfeld des stillgelegten Flughafen Tempelhof: Vor dem Training am frühen Morgen hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und die massiven Betonplatten, auf denen die 350 kW (476 PS) starken Gen3-Autos herumrutschten, nassgetränkt.

Langsame Autos sind nur im Regen schnell

Alte Motorsport-Weisheit: Ein langsames Auto kann nur im Regen schnell sein. Das bewahrheitete sich beim Mahindra-Kundenteam Abt-Cupra in Berlin, das zuvor einen 13. Startplatz als bestes Qualifyingresultat vorzuweisen hatte und trotz eines erkennbaren Aufwärtstrends meilenweit von der Spitze entfernt lag. Und dass die Äbte in jeglichen Bereichen immer für eine Überraschung gut sind, weiß auch das Formel-E-Lager.

Beste Stimmung bei Abt in Berlin, Foto: LAT Images
Beste Stimmung bei Abt in Berlin, Foto: LAT Images

Und so rätselte die Konkurrenz, wie es Frijns und Müller gelingen konnte, im Regen von Berlin durch die Gruppenphase und dann durch die K.o.-Duelle bis ins reine Abt-Finale durchmarschieren zu können. Beeindruckend: Auf dem Weg räumten Frijns mit Mitch Evans und Sebastien Buemi sowie Müller mit Pascal Wehrlein und Jean-Eric Vergne absolute Schwergewichte aus dem Weg; mal mehr (Frijns 0,328 Sekunden schneller als Buemi), mal weniger (Müller 0,060 Sekunden schneller als Vergne) überlegen.

Di Grassi: "Frijns und Müller sind bessere Fahrer als ich"

"Robin und Nico sind bessere Fahrer als ich", mutmaßte mit einem Grinsen im Gesicht Lucas di Grassi, der als Mahindra-Werksfahrer das gleiche Material zur Verfügung hat, sich hinter Teamkollege Oliver Rowland aber mit dem 13. Startplatz begnügen musste. "Wir hatten etwas von ihrem Setup kopiert. Im Qualifying kannst du aber nur ein paar Runden fahren, und da waren sie sehr schnell. Es war kein großer Unterschied zwischen den Autos, es geht eher ums Fine-Tuning."

Zwar tauschen sich Mahindra und Abt-Cupra untereinander über die noch recht unbekannten Gen3-Autos aus, um eine bessere Chance gegen die Konkurrenz zu haben, doch es darf bezweifelt werden, ob wirklich sämtliche Erkenntnisse zwischen den Garagen hin- und herwandern. Schließlich befinden sich auch Werks- und Kundenteam in einer direkten Konkurrenzsituation, wenngleich es nach dem miserablen Saisonstart nur noch um die Goldene Ananas gehen dürfte.

Fuhren die Äbte mit so hohem Reifendruck?

Einiges deutet nach Recherchen im Fahrerlager daraufhin, dass den Kemptenern einmal mehr einer der berüchtigten Abt-Coups gelungen ist. Wie Motorsport-Magazin.com aus unterschiedlichen Kreisen erfahren hat, soll das Team beim Reifendruck einen extremen Weg eingeschlagen haben. Die Rede war von Werten über 3 bar - das wäre eine ganze Menge angesichts des von Hankook vorgeschriebenen Mindestreifendrucks von 1,2 bar. Eine Obergrenze gibt es nicht. "Das kann ich mir einfach nicht vorstellen!", wunderte sich ein Teamchef eines Konkurrenzteams, der namentlich nicht genannt werden wollte.

Der ungewöhnlich hohe Reifendruck könnte ein Schlüssel zum Erfolg gewesen sein, doch damit ist es längst nicht getan. Das komplette Auto-Setup mit Elementen wie Radsturz und Spur muss radikal angepasst werden, um eine Fahrbarkeit sicherzustellen. Die Teams hatten angesichts des ersten Regen-Tages in der Saison 2023 nur wenige Möglichkeiten, sich auf die Bedingungen einzustellen. War den Äbten etwa beim Vorsaison-Test in Valencia im Dezember bei einer nassen Session etwas Besonderes aufgefallen?

Abt-Manager Harry Unflath mit Cupra-CEO Wayne Griffith und Hans-Jürgen Abt, Foto: LAT Images
Abt-Manager Harry Unflath mit Cupra-CEO Wayne Griffith und Hans-Jürgen Abt, Foto: LAT Images

Müller: In Valencia schon sehr wohlgefühlt

"Die Reifen sind sicherlich ein wichtiger Faktor", wollte sich Nico Müller auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com natürlich nichts entlocken lassen. "Ob sie aber entscheidend sind, das weiß ich nicht. In Valencia hatte ich mich bei den paar Runden im Regen schon sehr wohlgefühlt, als das Auto noch in einem sehr jungen Stadium der Entwicklung war. Ich konnte das damals noch nicht richtig einschätzen. Wenn du aber Autos überholst und nicht nur in den Rückspiegel guckst, weißt du, dass es wahrscheinlich nicht so schlecht war."

Reifen-Experimente im verregneten Berlin, Foto: LAT Images
Reifen-Experimente im verregneten Berlin, Foto: LAT Images

Auch andere Teams experimentierten am Samstag im nassen Freien Training sowie dem wenig später folgenden Qualifying mit hohen Reifendrücken herum. Die Aufgabe: Im Regen müssen die Reifen sofort funktionieren und es darf nicht lange dauern, bis der optimale Reifendruck erreicht ist. Schließlich stehen den Fahrern in der Qualifying-Gruppenphase nur zwölf Minuten Fahrzeit zur Verfügung, in den Duellen ist es lediglich eine schnelle Runde. Wissen alle, doch keinem Team gelang es, die Top-Performance der Äbte zu erreichen.

Porsche-Modlinger: Reifen einer von vielen Parametern

Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger, der das Abt-Team aus der gemeinsamen Vergangenheit bestens kennt, sagte zu Motorsport-Magazin.com: "Natürlich ist der Reifen im Regen ein wichtiger Parameter, ich würde es aber nicht an einem festmachen. Wie man die Reifen nutzt, hängt vom Konzept des Gesamtfahrzeuges ab: wie ich ein Auto einstelle, welche Balance ich habe und wie ein Fahrer die Chance erhält, Temperatur in die Reifen zu bringen."

3 Punkte oder 3 bar? Abt-Renningenieur Markus Michelberger und Pole-Setter Robin Frijns, Foto: LAT Images
3 Punkte oder 3 bar? Abt-Renningenieur Markus Michelberger und Pole-Setter Robin Frijns, Foto: LAT Images

Je mehr Druck im Reifen, desto steifer die Konstruktion. Es gilt auch bei hohen Luftdrücken, die richtigen Werte für Vorder- und Hinterachse zu finden. Hankook-Chefingenieur Thomas Baltes, der auf Nachfrage von Motorsport-Magazin.com keine Daten nennen wollte, sagte nur: "Höhere Drücke sind machbar, die Reifen halten das aus. In diesem Fall muss das komplette Auto darauf abgestimmt werden."

Dass die Äbte eine entscheidende Rolle im Qualifying spielen würden, hatte sich zwei Stunden zuvor im 3. Freien Training am frühen Sonntagmorgen abgezeichnet. Bei den theoretischen Bestzeiten belegte Frijns den dritten Platz hinter Mitch Evans und Andre Lotterer, Müller nahm die vierte Position ein. Gerade der frühere Audi-Pilot Frijns gilt als Regen-Spezialist, wie er schon 2019 beim ersten Regen-Rennen der Formel-E-Geschichte in Paris mit seinem Sieg bewies. "Der ist im Regen extrem stark", erinnerte sich auch Porsche-Teamchef Modlinger.

Frijns: "Im Regen macht Fahrer den größeren Unterschied"

Frijns versicherte, dass an seinem Auto zwischen dem Training und dem Qualifying keine Änderungen vorgenommen worden seien. Der 31-Jährige zu Motorsport-Magazin.com: "Im Regen macht der Fahrer einen größeren Unterschied. Ich habe mich auf der nassen Strecke sehr wohlgefühlt, aus der Box heraus war ich im Training auf Anhieb schnell. Du brauchst dafür ein konstantes Auto, und das hatte ich."

Teamkollege Müller hob hervor, wie kompliziert das Fahren bei abwechselnd stärker werdendem und abnehmendem Regen wirklich war: "Die Bedingungen ändern sich permanent. Du hat ja nur eine Runde und weißt nicht genau, wie viel Grip da jetzt ist. Das umzusetzen, ist schon eine Herausforderung. Das war auch für mich das erste Mal, aber ich bin happy. Natürlich hätte ich auch gerne die Pole geholt, aber wenn es ein anderer Fahrer sein soll, dann am liebsten Robin."

Berlin-Pole für Abt, Foto: LAT Images
Berlin-Pole für Abt, Foto: LAT Images

Frijns im Trockenen: "Nach der ersten Runde tot"

Frijns war der große Held im Regen, Müller dafür im Trockenen: Im Sonntagsrennen hielt sich der zweifache DTM-Vizemeister überraschend in den Punkterängen und überquerte die Ziellinie als Neunter. Es war das erste Top-10-Ergebnis für die Äbte beim Comeback in der Formel E, wo die effizienten Autos von Porsche und Jaguar "in einer anderen Liga fahren", wie es Frijns formulierte.

Frijns führte das Rennen für drei Runden an, bevor der Windschatten-Effekt derart viel Energie kostete, dass sich der Abt-Fahrer nicht mehr davon erholen konnte und konsequent durchgereicht wurde: "Ich habe in den ersten Runden schon 1,5 Prozent Energie verloren. Praktisch war ich nach der ersten Runde tot." Immerhin: Die Äbte haben beim Heimspiel in Berlin auch aus Ergebnis-Sicht gezeigt, dass sie noch leben.