Nur in einer Sache war sich das gesamte Formel-E-Fahrerlager von Berlin einig: "Am Ende entscheidet der Zuschauer, ob es ihm gefällt." Ansonsten gehen die Meinungen über das Racing in der Elektro-Serie 2023 auseinander wie wohl nie zuvor in der Geschichte. Von Spektakel bis Farce ist die komplette Bandbreite vorhanden.

Im Fokus steht das extreme Windschatten-Fahren mit den neuen, 350 kW (476 PS) starken Gen3-Autos, die am Wochenende in der deutschen Hauptstadt die Saisonrennen Nummer sieben und acht bestreiten. Durch den enormen Einfluss des Luftwiderstandes will in der ersten Rennhälfte faktisch kein Fahrer das Rennen freiwillig anführen, weil deutlich mehr Energie benötigt wird, wenn das Auto voll im Wind steht. Stattdessen ist 'Versteckspielen' angesagt, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, um Attacke auf den Sieg zu machen.

Formel E in Berlin: 190 Überholmanöver, 23 Führungswechsel

"Das neue Auto hat die Dynamik des Rennfahrens verändert", sagte Mitch Evans (Jaguar), der seinen zweiten Saisonsieg in Folge erzielte und zusammen mit Sam Bird dem britischen Werksteam den ersten Doppelsieg bescherte. "Das ist ziemlich verrückt. Ich habe 17 oder 18 Runden vor dem Ende die Führung übernommen, und das war eigentlich viel zu früh. Vielleicht muss sich da was ändern."

In Wahrheit hatte Evans erstmals bereits in Runde 17 von insgesamt 43 das 22-köpfige Starterfeld angeführt. Danach war er sogar bis auf Rang fünf zurückgefallen und hatte sich dann zehn Runden lang (29 bis 38) auf Platz drei gehalten, bevor Evans in den letzten fünf Umläufen an die Spitze stürmte.

Das Kuriosum wurde schon in Sao Paulo deutlich, als die Fahrer in den ersten Runden absichtlich vom Gas gingen, um ihre Konkurrenten vorbeizulassen. Beim Samstagsrennen in Berlin war diese Vorgehensweis etwas weniger deutlich zu erkennen, doch am Grundprinzip änderte sich nichts. Das Ergebnis dieses neuen Formel-E-Stils: 190 Überholmanöver, 23 Führungswechsel und acht unterschiedliche Spitzenreiter - Zahlen, die eher auf ein 24-Stunden-Rennen statt auf einen Sprint über rund 45 Minuten deuten lassen.

Formel-E-Zampano Longo: "Es geht nur ums Spektakel"

Was sich die Formel-E-Verantwortlichen wünschen, ist klar. Mitgründer Alberto Longo sagte uns am Freitag mit Blick auf das vorangegangene Brasilien-Rennen mit ebenfalls beeindruckenden 114 Positionswechseln: "Die Zahlen sprechen für sich selbst. Nie zuvor in der Geschichte gab es Rennen mit so vielen Überholmanövern. Was auch immer der Grund für so ein Spektakel ist, ich bin happy damit. Sao Paulo war das beste Rennen, das ich jemals gesehen habe. Es geht nur ums Spektakel und wie die Rennen bei den Leuten ankommen."

So viele Führende gab es noch nie in einem Formel-E-Rennen, Foto: LAT Images
So viele Führende gab es noch nie in einem Formel-E-Rennen, Foto: LAT Images

Die 280.000 Zuschauer bei TV-Partner ProSieben bekamen beim Samstagsrennen eine Dauerbefeuerung an Action geboten. In vielen anderen Rennserien geht es deutlich unspektakulärer zu, das ist Fakt. Allerdings sei es schwierig gewesen, einen roten Faden im Rennen zu erkennen, beklagten einige Beobachter. Der frühere Formel-E-Fahrer und heutige TV-Experte Daniel Abt: "Das war ein bisschen zu viel. Es macht natürlich Spaß, Überholmanöver zu sehen. Aber man muss das noch ein bisschen anpassen, sodass es zwar eine gute Show bleibt, aber auch ein bisschen mehr klassisches Racing ist."

Die Windschatten-Schlachten, die auch den weiteren Verlauf der Saison prägen dürften, sorgen für stets eng geführte Rennen, in denen sich kein Fahrer absetzen kann bzw. will. In Berlin trennten die Top-10 beim Zieleinlauf nur 10 Sekunden. Diese Art des Racings sorgt für durchaus beeindruckende TV-Bilder: Während der 43 Runden gab es derart viele Positionswechsel überall im Feld, dass man dem Geschehen kaum noch folgen konnte.

"Die Renn-Pace war einfach lächerlich"

Aufsehenerregend schon der Start, als Dan Ticktum (NIO 333) auf dem Weg in die erste Kurve vom vierten Startplatz auf der Außenlinie seine Vordermänner überholte und die Führung übernahm. "Das war nicht so sehr mein Verdienst, wie es im Fernsehen den Anschein machte", erklärte der talentierte Brite später. "Viele wollen einfach nicht führen. Jeder fuhr so langsam, dass ich dachte, ich übernehme einfach mal die Führung. Die Renn-Pace war einfach lächerlich im Vergleich zum Qualifying."

Von Anfang bis Ende war das gesamte Feld nah beisammen, Foto: LAT Images
Von Anfang bis Ende war das gesamte Feld nah beisammen, Foto: LAT Images

Weil Vollgas-Fahrten in der Formel E mit den neuen Autos alles andere als erfolgsversprechend sind, wird die Renn-Pace entsprechend langsam. Ein Beispiel: Jake Dennis erzielte die schnellste Rennrunde in 1:06.604 Minuten fünf Runden vor dem Zieleinlauf. Das war rund eine Sekunde schneller als die persönlichen Bestzeiten der Top-3 um Sieger Mitch Evans (Jaguar), seinen Zweitplatzierten Teamkollegen Sam Bird und Maximilian Günther (Maserati). Auf die schnellsten Qualifying-Zeiten fehlte noch mal eine Sekunde.

"Niemand wollte führen. Das war manchmal gefährlich"

"Niemand wollte führen. Das war manchmal gefährlich, um ehrlich zu sein", sagte der Neuseeländer Evans, der in Berlin seinen zweiten Saisonsieg in Folge erzielte und die Energie-Effizienz des Jaguar-Antriebsstranges einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis stellte. Das eng geführte Racing bleibt nicht ohne Folgen: In Berlin kam es zu zwei Safety-Car-Phasen und sechs vorzeitigen Ausfällen. Je enger das Feld der 22 Autos zusammenliegt, desto häufiger kracht es. Durch die Schikanen und engen Kurven staucht sich das Feld immer wieder zusammen. Die Fahrer sprechen von einem Ziehharmonika-Effekt.

An Kollisionen mangelte es am Samstag nicht, Foto: LAT Images
An Kollisionen mangelte es am Samstag nicht, Foto: LAT Images

"Im Moment versuchen wir nur noch zu vermeiden, den Leuten hinten reinzufahren", erklärte McLaren-Pilot Rene Rast, der im Rennen dem NIO von Sergio Sette Camara ins Heck fuhr und dafür eine 5-Sekunden-Zeitstrafe erhielt. "Wir fahren nicht mehr, um schnell zu fahren. Wir versuchen nur die Position zu halten und dem Vordermann nicht reinzufahren, weil sich alles immer zusammenstaucht."

Dass die Ergebnisse nicht auf dem Zufallsprinzip beruhen, sondern eindeutig auf die jeweiligen Strategien der Teams zurückzuführen sind, steht fest: Jaguar bestimmte das Geschehen in den letzten Rennen, und auch Porsche um WM-Spitzenreiter Pascal Wehrlein ist in der Lage, deutlich besser als der Rest mit der verfügbaren Energie-Menge hauszuhalten. "Wir sehen dieses Jahr wirklich tolles Racing", sagte der Rennsport-erfahrene Porsche-Motorsportchef Thomas Laudenbach.

Die Piloten verzichten in den Rennen natürlich nicht freiwillig auf die Führung, sondern sind nur auf den eigenen Vorteil aus. "Das Racing ist okay, weil man den Gegner ja in einen möglichen Fehler drängt, indem man ihm die Option bietet, vorbeizufahren", sagte uns ein Ersatzfahrer aus einem Werksteam.

Formel E 2023: Fights von Anfang bis Ende

Das Windschatten-Racing hat weitere Nebeneffekte: Viele Fahrer versuchen, möglichst früh ihre zwei verpflichtenden Attack Modes (350 kW statt 300 für die Gesamtdauer von 4 Minuten) einzusetzen, um im späteren Rennverlauf keinen Nachteil zu erfahren. Da das Feld meist bis zum Ende eng zusammenliegt und das Überfahren der Attack-Mode-Zone abseits der Ideallinie Rundenzeit kostet, wollen sich die meisten Fahrer nicht auf das Risiko einlassen, spät im Rennen Positionen zu verlieren. Maseratis Podestfahrer Günther: "Du läufst Gefahr, gegen Rennende viele Plätze zu verlieren, die du dann nicht mehr reinholen kannst."

Das sei halt Formel E, argumentieren die meisten Fahrer mit den Schultern zuckend. Und am Grundprinzip des Sports hat sich auch durch die Windschatten-Schlachten nichts geändert: Es gilt, aus den vorhandenen Möglichkeiten das Maximum herauszuholen. "Ich weiß nicht, ob das gut anzuschauen ist", sagt Lucas di Grassi (Mahindra), der als einziger Fahrer alle 106 Formel-E-Rennen bestritten hat. "Das müssen die Fans entscheiden. Sie wollen gute Überholmanöver und Kämpfe sehen, und hier gibt es Fights von Anfang bis Ende. Manche mögen es, andere nicht. Um das zu ändern, müsste man das Sportliche und das Technische Reglement anpassen."