Ein Rennen, das bis zum Schluss niemand anführen wollte, sich gegenseitig vorbeiwinkende Fahrer und extremes Ressourcen-Sparen ab der ersten Runde: Das Formel-E-Rennen in Sao Paulo wird sicherlich einen Platz in den Geschichtsbüchern der Elektro-WM einnehmen. Motorsport ad absurdum geführt oder ein Strategie-Coup? Darüber gehen die Meinungen im Fahrerlager bis heute stark auseinander.

Am kommenden Wochenende gastiert die Formel E zum Double-Header in Berlin (22./23. April 2023) - kommt es in der deutschen Hauptstadt zur nächsten kurios anmutenden Windschatten-Schlacht mit den Gen3-Autos? Der 2,355 Kilometer lange Kurs auf dem stillgelegen Flughafen Tempelhof weist immerhin auch zwei lange Geraden auf, die geradezu zum Hinterherfahren einladen.

Porsche-Chef: "Werden wir in dieser Dimension nicht mehr erleben"

"Sao Paulo war extrem mit dem hohen Topspeed, den langen Geraden und der Stop-And-Go-Charakteristik", sagte Porsche-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger, der mit Pascal Wehrlein als WM-Spitzenreiter zum Heimspiel reist. "Das führte dazu, dass sich die Fahrer nicht so leicht absetzen konnten wie in mittelschnellen und schnellen Kurven, weil sich die Autos leichter folgen konnten. Das war spezifisch für Sao Paulo und werden wir in dieser Art in Berlin und sehr wahrscheinlich auf den restlichen Rennstrecken in dieser Dimension nicht mehr erleben."

Voraussichtlich werden sich in Berlin keine derart kurios anmutenden Szenen abspielen wie zuletzt auf dem neuen Kurs in Brasilien, aber das Energie-Management bleibt ein großes Thema: Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com aus unterschiedlichen Kreisen hat die FIA eine maximal erlaubte Energiemenge von 38,5 kWh pro Rennen bei den zu erwartenden 40 Runden angesetzt. In Sao Paulo waren es 40 kWh für die 31 regulären Runden, wobei sich die Energiemenge stark nach dem jeweiligen Streckenlayout richtet.

Das Streckenlayout für den Berlin ePrix in Tempelhof, Foto: Formula E
Das Streckenlayout für den Berlin ePrix in Tempelhof, Foto: Formula E

Abt-CEO und Teamchef Thomas Biermaier vor dem Heimspiel des Rennstalls aus Kempten: "Durch die vorgeschriebene Energie in Berlin werden wir wieder Rennen mit sehr viel Lifting (frühzeitig vom Gas gehen) sehen - aber nicht so wie in Brasilien mit dem Stop-and-Go und dem Ziehharmonika-Effekt im Mittelfeld. Dennoch wird man auch in Berlin wieder sehr auf die Energie aus sein."

Dass der Sao Paulo ePrix nicht durch Zufall entschieden wurde, zeigt das Rennergebnis: Mitch Evans führte einen Dreifachsieg für Jaguar an, Nick Cassidy vom Kundenteam Envision fuhr auf P2 und Werkspilot Sam Bird komplettierte das Podium. "Die Autos haben einen anderen Drag-Effekt, das hat den Stil der Rennen verändert", sagte Sieger Evans. "In Sao Paulo war es ein sehr extremer Fall. Die Rennen drehen sich um die Strategie, ein bisschen wie bei einem Radrennen."

Formel E Sao Paulo 2023: Highlights und Zusammenfassung (05:41 Min.)

Max Günther: Hoffentlich sind nicht alle Rennen so

Nicht wenige Fahrer könnten gerne auf eine Wiederholung dieses Extremfalls verzichten. Zwar spielt das Energie-Management bekanntermaßen seit jeher eine entscheidende Rolle in der Formel E und ist von den Verantwortlichen gewollt, doch die Szenen von sich gegenseitig vorbeiwinkenden Piloten hinterließen einen faden Beigeschmack bei vielen Zuschauern.

Maserati-Pilot Maximilian Günther: "Sao Paulo war sehr extrem. Zu extrem, um ehrlich zu sein. Ich hoffe, dass nicht alle Rennen so sein werden. Wenn man ein Rennen anführt, ist das ein großer Nachteil. Es wäre gut, wenn diese Auswirkungen in Zukunft weniger stark wären. Taktik ist gut, aber dass gar niemand führen möchte, ist schon ein bisschen komisch. Sao Paulo war die Spitze, so etwas werden wir definitiv nicht mehr erleben."

Nico Müller: "Das war Entertainment, aber war das Sport?"

Auch Nico Müller vom Team Abt-Cupra konnte sich nicht vorstellen, dass sich Szenen wie in Sao Paulo wiederholen werden. Der Schweizer, der mit P13 das beste Teamergebnis erzielte, sagte zu Motorsport-Magazin.com: "Das war Entertainment, aber war das Sport? Am Ende geht's hier um einen offiziellen WM-Titel. Wenn dann das Entertainment dominiert, habe ich etwas Mühe damit. Es haben schon die Autos gewonnen, die auch in einem normalen Rennen vorne gewesen wären. Aber die Dynamik des Rennens bis zehn Runden vor Schluss war absurd. Ich saß im Auto und dachte mir nur: 'Was geht denn hier ab?!'"

Die Teams haben sich in ihren Simulatoren auf das Berlin-Wochenende akribisch vorbereitet und den zu erwarteten Energieverbrauch genau durchgespielt. Die meisten Rennställe investieren drei Tage Simulator-Zeit mit beiden Fahrern vor einem Rennwochenende. Sie werden ihre Lehren aus den Vorkommnissen in Brasilien gezogen haben und in die Strategie für die Berlin-Rennen einfließen lassen.

McLaren-Pilot Rene Rast meinte: "In Berlin wird es immer noch wichtig sein, im Windschatten zu fahren, aber nicht mehr so wie in Sao Paulo. Da wolltest du das Rennen am Anfang gar nicht anführen. Wenn du vorne bist, brauchst du 20 bis 30 Prozent mehr Energie, weil der Wind direkt aufs Auto prallt. Die Fahrer auf P2 und P3 sparen sich diese Energie und das macht am Ende einen riesigen Unterschied. Vielleicht nicht in der Höhe, aber auch in Berlin wird es einen Unterschied ausmachen."

Formel E: Tabelle 2023

Pos.FahrerTeamPunkte
1Pascal WehrleinPorsche86
2Jake DennisAndretti62
3Nick CassidyEnvision61
4Jean-Eric VergneDS Penske60
5Antonio Felix da CostaPorsche58
6Sam BirdJaguar44
7Sebastien BuemiEnvision42
8Rene RastMcLaren40
9Mitch EvansJaguar39
10Jake HughesMcLaren32
11Stoffel VandoorneDS Penske22
12Lucas di GrassiMahindra18
13Andre LottererAndretti18
14Norman NatoNissan11
15Sergio Sette CamaraNIO 33310
16Dan TicktumNIO 3339
17Oliver RowlandMahindra8
18Sacha FenestrazNissan7
19Edoardo MortaraMaserati3
20Maximilian GüntherMaserati0
21Nico MüllerAbt-Cupra0
22Robin FrijnsAbt-Cupra0
23Kelvin van der Linde (Ersatz)Abt-Cupra0