Das mit Spannung und Sorge erwartete Debüt der neuen Formel-E-Autos ist größtenteils glimpflich über die Bühne gegangen. Beim Saisonauftakt 2023 in Mexiko-City hielten sich materialbedingte Schwierigkeiten in Grenzen, größere Unfälle blieben aus. Das Fahrerlager und die Verantwortlichen der Formel E atmen erst einmal auf.
Ein positives Zeichen mit Blick auf die hochkomplexen Gen3-Autos, mit denen die Hersteller und Teams im Vorfeld der Saison wegen technischer Probleme an Einheitsbauteilen deutlich weniger Test-Kilometer zurücklegen konnten als geplant: Fans und Medien interessieren sich schon jetzt für die Performance, statt sich mit einem zunächst befürchteten Ausfall-Debakel herumärgern zu müssen.
Formel E: Rundenzeiten-Vergleich nur im Detail möglich
Vorweg: Ein direkter Rundenzeiten-Vergleich in Mexiko-City zwischen dem neuen Gen3-Auto und dem Gen2-Modell ist nicht möglich. Zur diesjährigen Ausgabe wurde die Strecke um eine temporäre Schikane auf der Gegengeraden ergänzt. Um die Energierückgewinnung mittels einer zusätzlichen Bremszone anstelle einer durchgängigen Gerade weiter in den Fokus zu stellen, wie die Formel E erklärte.
Die Länge der 2023er-Strecke betrug 2,628 Kilometer - 22 Meter mehr als im Vorjahr (2,606 km), fast ausschließlich bedingt durch die neue Schikane in Sektor 2. Dieser Bereich wirkte sich natürlich auf die gesamte Performance der Autos auf der Rennstrecke aus und sorgte für einen Zeitenunterschied von rund 5 Sekunden, aber: Die Sektoren 1 (945 Meter statt 941 Meter) und 3 (784 statt 785 Meter) blieben von den Veränderungen praktisch unangetastet.
Gen3: Wirklich die schnellsten und stärksten Elektro-Rennautos?
So lassen sich zumindest die Zeiten in zwei von drei Sektoren miteinander vergleichen. Und das ist durchaus spannend, schließlich hat die Formel E die neuen Gen3-Boliden als die "schnellsten, leichtesten, effizientesten und stärksten Elektro-Rennautos" angepriesen. Von einem Zeitenvorteil zwischen drei und fünf Sekunden war seit der Präsentation mehrfach die Rede.
In einem Satz: Zumindest in Mexiko-City beim ersten Rennen der Saison 2023 waren die Gen3-Autos nicht merklich schneller als ihre Vorgänger, die vier Jahre lang in der Formel E zum Einsatz kamen und am Ende in allen Bereichen von der Hardware bis zur Software perfekt ausgereift waren. Das hatte sich schon bei den offiziellen Testfahrten Ende Dezember in Valencia abgezeichnet, als Spitzenreiter Maximilian Günther (Maserati) die 2022 von Edoardo Mortara aufgestellte Bestzeit um nur 0,6 Sekunden unterbot.
Das sorgte schon in Valencia mancherorts für Verwunderung, schließlich ist das Gen3-Auto auf dem Papier deutlich performanter: Mit bis zu 350 kW (476 PS) hat der Bolide 100 kW mehr Power als sein Vorgänger (250 kW/340 PS) und wiegt mit 840 Kilogramm zudem 60 Kilo weniger. Der Topspeed soll laut Formel-E-Angaben bei 320 statt 280 km/h liegen, wobei diese Werte eher theoretischer Natur sind. Außerdem ist der Gen3 kürzer und schmaler konstruiert, um das Racing auf den üblichen Stadtkursen zu fördern.
Blickt man in Mexiko-City auf alle theoretischen Einzelsektoren-Bestzeiten der vergleichbaren Sektoren 1 und 3, zeigt sich: Im Qualifying waren die Gen3-Autos nur einen Tick schneller als die älteren Gen2-Boliden!
Mexiko-Qualifying: Gen3-Auto 0,063 Sekunden schneller
Im 1. Sektor (Kurve 1-4) mit der Start/Ziel-Geraden und der nachfolgenden, langgezogenen Linkskurve knöpfte das Gen3-Auto seinem Vorgänger 0,128 Sekunden ab. Im 3. Sektor (Kurve 15-19) mit Teilen des Stadionbereichs und der unfallträchtigen, langen Rechtskurve 'Peraltada' war das Gen3-Auto hingegen 0,065 Sekunden langsamer. Macht unterm Strich in beiden Sektoren einen Zeitenvorteil des Gen3-Autos gegenüber dem Gen2 von 0,063 Sekunden.
Dieses Jahr fuhr der spätere Rennsieger Jake Dennis (Andretti) die beste Rundenzeit im Qualifying: Im zweiten Halbfinale benötigte der Brite 1:12.595 Minuten und verpasste dabei die theoretische Qualifying-Bestzeit (1:12.223) um rund vier Zehntelsekunden. 2022 fuhr der ebenfalls spätere Sieger Pascal Wehrlein (Porsche) eine 1:07.035 und war dabei rund zwei Zehntel langsamer als die theoretische Bestzeit aller kombinierten Sektorenzeiten. Wie gesagt: Direkte Vergleiche der Gesamt-Rundenzeiten sind wegen der 2023er-Schikane auf der Gegengeraden unmöglich.
Mexiko-Qualifying: Vergleich der theoretischen Sektoren-Bestzeiten
Spalte 1 | Sektor 1 | Sektor 2 (nicht direkt vergleichbar) | Sektor 3 |
---|---|---|---|
2022 - Gen2 | 22.303 | 22.998 | 21.478 |
2023 - Gen3 | 22.175 | 28.505 | 28.505 |
Unterschied Gen3 zu Gen2 | -0,128 Sekunden | +5,507 Sekunden | +0,065 Sekunden |
Mexiko-Rennen: Gen3-Auto knappe halbe Sekunde schneller
Im Mexiko-Rennen konnte die Formel E ihrem mutig formulierten Anspruch, mit Gen3 die "effizientesten" Elektro-Rennautos zu fahren, schon eher gerecht werden. Unter Rennbedingungen präsentierte sich der Gen3-Bolide in den vergleichbaren Sektoren 1 und 3 um insgesamt 0,478 Sekunden schneller.
Im von der Start/Ziel-Geraden geprägten Sektor 1 war die theoretische Bestzeit im Vergleich zu 2022 um 0,465 Sekunden schneller. In Sektor 3 knöpfte der Gen3 dem Gen2-Auto 0,013 Sekunden ab. Der Vollständigkeit halber: Dan Ticktum (NIO 333) fuhr 2023 die schnellste Rennrunde in 1:13.939 Minuten, 2022 war es Lucas di Grassi (damals Venturi, heute Mahindra) mit einer Rundenzeit von 1:09.334 Minuten. Die 2023er-Schikane kostete die Fahrer im Renntrim rund 4,8 Sekunden.
Mexiko-Rennen: Vergleich der theoretischen Sektoren-Bestzeiten
Spalte 1 | Sektor 1 | Sektor 2 (nicht vergleichbar) | Sektor 3 |
---|---|---|---|
2022 - Gen2 | 23.356 | 23.810 | 21.849 |
2023 - Gen3 | 22.891 | 28.658 | 21.836 |
Unterschied Gen3 zu Gen2 | -0,465 Sekunden | +4,848 Sekunden | -0,013 Sekunden |
Neben der reinen Fahrzeug-Performance spielen auch die Witterungsbedingungen eine wichtige Rolle. 2022 und 2023 waren die Verhältnisse zumindest ähnlich: Im Qualifying war der Streckenasphalt 10 Grad höher (2022: 35 Grad, 2023: 25 Grad). Im Rennen lag der Unterschied bei 8 Grad (2022: 31 Grad, 2023: 39 Grad). Die Rundenzeiten aus den beiden Jahren lassen sich also durchaus als vergleichbare Referenz heranziehen.
140 PS mehr, 60 Kilo leichter - aber (noch) nicht deutlich schneller
Warum die rund 140 PS stärkeren und 60 Kilogramm leichteren Gen3-Autos ihren Gen2-Vorgängern nicht auf Anhieb deutlich bei den Rundenzeiten überlegen sind, setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Da wären die neuen Hankook-Reifen, nachdem der südkoreanische Hersteller nach acht Jahren auf Michelin gefolgt ist. Einige Fahrer beschrieben die Allwetter-Reifen im Vergleich als deutlich "härter". "Ich hätte die kompletten Testfahrten mit einem Satz Reifen fahren können", witzelte etwa der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne (DS Penske).
Auf den Geraden, wo Grip eine geringere Rolle spielt, hatten die Gen3-Autos direkt einen Vorteil, während Kurvenfahrten nicht eindeutig schneller verliefen - siehe den Zeitenvorteil in Sektor 1 mit der Start/Ziel-Geraden und im Gegensatz dazu die anspruchsvolle Peraltada-Rechtskurve in Sektor 3.
Reifen-Vorgaben von FIA - Hankook: "Lastenheft erfüllt"
Die Vorgaben für die Gen3-Reifen kamen nicht von Hankook, sondern von der FIA. Offenbar war der Motorsport-Weltverband darauf bedacht, einen robusteren Reifen für die Formel E haben zu wollen, der auch bei regnerischen Bedingungen möglichst gleichmäßig funktioniert. In der Vergangenheit kam es während der wenigen Regenrennen bei abbauenden Reifen zu mehreren Unfällen.
"Wir haben das von der FIA vorgegebene Lastenheft erfüllt", sagte Hankook-Chefingenieur Thomas Baltes zu Motorsport-Magazin.com. "Wir sind da, wo wir hin sollten. Das ist für uns wichtig. Alles ist festgelegt, wir hatten da relativ wenig Einfluss." Bei den Valencia-Testfahrten verwies Baltes zudem darauf, dass es eine Weile benötige, bis die Teams die optimalen Setups erarbeitet haben und dass das Gen3-Auto deutlich komplexer sei als die vorige Generation.
In Mexiko-City gingen die Teams wegen zahlreicher Unbekannter in allen Bereichen deutlich vorsichtiger zu Werke als mit einem perfekt verstandenen Rennwagen - jeder aus Sicherheitsgründen ausgelassene Kerb auf der Strecke dürfte sich beispielsweise auf die Rundenzeiten ausgewirkt haben.
Um ausdrucksstarke Vergleiche anstellen zu können, ist es zum Beginn der Gen3-Ära in der Formel E sicherlich noch zu früh. Und Entwicklungssprünge gab es tatsächlich auch in der vier Saisons andauernden Gen2-Ära inklusive einem erlaubten Motoren-Update: So fuhren die Autos etwa in Berlin-Tempelhof auf fast identischen Streckenvarianten im Laufe der Jahre bis zu 1,7 Sekunden schneller.
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