Es war eine Szene mit Symbolcharakter. Als am Sonntagabend in der Boxengasse von Seoul bei immer noch Temperaturen um die 30 Grad und einer Luftfeuchtigkeit zum Hemden auswringen die ersten Bierflaschen geöffnet wurden, brannte im hinteren Teil der Mercedes-Garage noch Licht. Nun hätte man erwarten können, dass das Silberpfeil-Team längst die Sektkorken angesichts der Titelverteidigung sowohl in der Fahrer- als auch Team-Weltmeisterschaft knallen lässt. Doch von wegen! Die komplette Truppe einschließlich des frischgebackenen Weltmeisters Stoffel Vandoorne brütete schweißgebadet über dem De-Brief zum Rennen, in dem der Belgier einige Stunden zuvor mit Platz zwei souverän den Sack zugemacht hatte.

Das ist nicht nur bemerkenswert, weil die Saison beendet war und ohnehin die Gen2-Rennwagen in den Ruhestand geschickt wurden, sondern auch, weil das Mercedes-Team in dieser Form 2023 überhaupt nicht mehr existiert. Der Werksausstieg stand bereits seit dem letztjährigen Saisonfinale in Berlin fest. Formel-E-Neueinsteiger McLaren übernimmt die kostspielige Startlizenz der Silberpfeile und gleichzeitig große Teile des Teams. Nur die Fahrer Vandoorne und de Vries - beide mit McLaren-Vergangenheit - werden nicht mehr an Bord sein.

"Das zeigt, warum wir den Titel geholt haben", musste selbst der sonst eher kühle Vandoorne lachen. "Das Team ist derart getrieben und fokussiert auf die Performance. Aber ja, ein De-Brief nach dem letzten Rennen der Saison war schon etwas komisch. Auch, weil es unser letztes war. Das war ein spezieller wie auch trauriger Moment zur gleichen Zeit."

Mercedes-Mantra: Effektivität und Effizienz

Tatsächlich zog Mercedes das von Teamchef Ian James ausgegebene Mantra - "Operational Excellence", also die ständige Optimierung von Effektivität und Effizienz - bis zum bitteren Ende konsequent durch. Die enormen Aufwände - ein Mercedes-Mitarbeiter sprach vom Arbeiten an der absoluten Leistungsgrenze - haben sich gelohnt. Mercedes gewann nach 2021 auch in diesem Jahr die Weltmeisterschaft sowohl in der Fahrer- als auch in der Teamwertung. Ein absolutes Kunststück in einer Rennserie, in der aufgrund zahlreicher Einheitsbauteile und vierjähriger Erfahrung mit dem Gen2-Auto am Ende die Details den Unterschied ausmachen. Interne Mercedes-Auswertungen sollen ergeben haben, dass die Performance-Unterschiede zwischen den Top-Teams bei 0,3 Prozent lagen.

Wie dominant die Silberpfeile in ihrer Abschiedssaison auftraten und wie gut das Gesamtpaket wirklich war, zeigt auch ein Blick auf das Kundenteam Venturi. Der Rennstall aus Monaco unter der Leitung der inzwischen zurückgetretenen Geschäftsführerin Susie Wolff entwickelte sich nur dank der Mercedes-Kundenautos zu einem ernstzunehmenden Titelanwärter. In der diesjährigen Abschlusstabelle feierte die vergleichsweise kleine Mannschaft den Gewinn der Vize-Weltmeisterschaft in der Teamwertung. Der letztjährige Vize-Champion Edoardo Mortara schloss die Saison als Dritter ab, Teamkollege Lucas di Grassi vor seinem Wechsel zu Mahindra dank starkem Endspurt als Fünfter.

Motor aus Brixworth als Schlüssel zum Erfolg

Mercedes-Antriebsstränge feierten in der Saison 2022 acht Siege in den 16 Rennen, dazu insgesamt 19 Podestplätze und fünf Pole Positions. Eine absolute Machtdemonstration des Motors aus Brixworth, der seinem Formel-1-Pendant in nichts nachstand und die namhafte Konkurrenz mit Herstellern wie Porsche, Jaguar, DS Automobiles oder Mahindra in den Schatten stellte. Offenbar lief aus technischer Sicht alles mit rechten Dingen ab, die Gegnerschaft verzichtete auf Proteste oder technische Anfragen, den Mercedes-Motor von der FIA auseinanderpflücken zu lassen.

Natürlich gab es im Fahrerlager Gerüchte über Grauzonen im Reglement, die das Mercedes-Team bei der Konstruktion seines Antriebsstranges entdeckt und genutzt haben könnte. Fahrer munkelten von einer überdurchschnittlich guten Traktion des Mercedes aus den Kurven heraus - ein immenser Vorteil in der Formel E, in der die verfügbare Energiemenge bis ins letzte Hundertstel von Software-Ingenieuren durchkalkuliert und während eines Rennens immer wieder den Gegebenheiten angepasst wird.

Mercedes gewann mithilfe der eigenen Konstanz und einem guten Motor mehrere Titel, Foto: LAT Images
Mercedes gewann mithilfe der eigenen Konstanz und einem guten Motor mehrere Titel, Foto: LAT Images

Letztendlich war es eine Kombination unterschiedlicher Faktoren, die dem Mercedes-Team den entscheidenden Vorteil eingebracht hat. Angefangen beim effizienten Antriebsstrang über eine Software, die kontinuierlich weiterentwickelt wurde, bis hin zu einer geringeren Fehlerquote als bei der Konkurrenz und nicht zuletzt zwei der besten Fahrer im hochdekorierten Starterfeld.

Hatte im vergangenen Jahr beim chaotischen Saisonverlauf, der in 18 Titelanwärtern vor dem Finale in Berlin gipfelte, de Vries die Oberhand, war diesmal Teamkollege Vandoorne an der Reihe. In seiner vierten Saison - eine mit Mercedes-Vorhut HWA 2018/19 und anschließend drei mit dem Werksteam - bestach der Belgier mit einer Konstanz, wie sie die Formel E nie zuvor erlebt hatte. Mit Ausnahme des Mexiko-City ePrix punktete Vandoorne in jedem der 16 Rennen. Dabei half ihm die überragende Performance im neuen und faireren Qualifying-Format, die ihn 13 Mal in die Top-8 der Startaufstellung führte - also so weit weg wie möglich aus dem dichten Mittelfeld, in dem Startunfälle programmiert sind.

Dass Vandoorne nur einen einzigen Sieg einfuhr, ausgerechnet bei seinem Heimspiel in Monaco, und gleichzeitig die meisten Saisonpunkte eines Fahrers in der Geschichte der Formel E erzielte, spricht Bände. "Ich hätte mehr Rennen gewinnen können, wenn ich in der Meisterschaft in einer anderen Position gewesen wäre", sagte Vandoorne. "Ich hatte diese Konstanz, weil ich die Meisterschaft vor Augen hatte. Wenn ich manchmal Zweiter war, musste ich nicht unbedingt zu einem riskanten Manöver ansetzen, wenn meine Titelgegner hinter mir waren."

Porsche gegenüber Mercedes klar unterlegen

Anders lief es für den zweiten deutschen Autobauer in der Formel E: Porsche, das im Gegensatz zu Mercedes ab 2023 die neue technologische Gen3-Ära für mindestens zwei Saisons in Angriff nimmt. Mit dem früheren DTM-Champion und Formel-1-Fahrer Pascal Wehrlein sowie dem dreifachen Le-Mans-Sieger Andre Lotterer als Teamkollegen erlebten die Zuffenhausener eine schwierige dritte Saison. In der Team-Wertung reichte es nur für den siebten Platz. Einem dominanten Doppelsieg in Mexiko standen technisch bedingte Ausfälle des in Führung liegenden Wehrlein beim Monaco ePrix oder menschliche Fehler wie bei Lotterer (beim Start vom Start-Paddel abgerutscht) vom dritten Startplatz in New York gegenüber.

Porsche war dem deutschen Konkurrenten unterlegen, Foto: LAT Images
Porsche war dem deutschen Konkurrenten unterlegen, Foto: LAT Images

Während Porsche in drei Saisons in der Formel E auf nur einen Rennsieg durch Wehrlein zurückblickt, verabschiedet sich Mercedes im gleichen Zeitraum mit sieben Siegen und vier WM-Titeln aus der Elektro-Rennserie, die Mercedes-Marketingchefin Bettina Fetzer zum Werksausstieg als endemisch ('örtlich begrenzt') beschrieb.

Muss sich Porsche an Mercedes messen lassen, Herr Laudenbach? Der Porsche-Motorsportchef in Seoul zu Motorsport-Magazin.com: "Es wäre falsch, das so zu sagen. Die haben vieles richtig gemacht, und selbst auf Strecken, auf denen sie mal nicht so gut waren, haben sie es geschafft, Punkte zu sammeln. Wir sind nicht zufrieden mit dem, was in den Ergebnislisten steht. Wir haben einen höheren Anspruch an uns, aber man muss es differenziert betrachten. Wir haben uns in vielen Punkten wie dem Qualifying verbessert, aber auch einige kleine Fehler gemacht, die wir teuer bezahlt haben."

Zweifelsohne profierte Mercedes auf dem Weg zu seinen WM-Titeln vom Kundenteam Venturi samt regem Wissenstransfer. Ebenso von HWA, das in seiner Vorhut-Saison 2018/19 so ziemlich jeden Fehler beging oder begehen musste, den man in der Formel E nur machen kann, um dem Werksteam den Weg zu ebnen. Porsche stieg als einziger aller deutschen Hersteller ohne jegliche Vorkenntnisse in die Formel E ein und lernt immer noch, unter anderem beim Umgang mit heißen Witterungsbedingungen, bei denen das Energie- und Batterie-Management eine noch entscheidendere Rolle einnimmt. Laudenbach: "Die Lernkurve ist länger als erhofft. Ich würde das aber nicht als den falschen Weg bezeichnen."

Nächste Saison, wenn die Mercedes-Mitglieder offiziell als McLaren-Team auflaufen und auf Nissan-Kundenmotoren setzen, stattet erstmals Porsche mit US-Rennstall Andretti ein Team mit eigenen Antriebssträngen aus. Zusammen mit dem neuen, 475 PS starken Gen3-Auto werden die Karten neu gemischt in der Formel E.

Willst du noch mehr solcher spannenden Interviews oder Hintergrund-Geschichten aus der Welt des Motorsports? Dann haben wir HIER ein spezielles Angebot für dich!