Es ist ziemlich genau sieben Jahre her, als ausgerechnet die lebende Formel-1-Legende Alain Prost dem Autor dieser Zeilen den Fanboost der Formel E schmackhaft machen wollte. Damals, gut fünf Monate vor dem allerersten Rennen der Elektro-Rennserie im Olympiastadion zu Peking (13. September 2014), hatte diese Regel-Revolution noch nicht einmal einen Namen, war mehr die fixe Idee von Formel-E-Gründer Alejandro Agag, etwas gänzlich Neues im Rennsport zu kreieren.

Prost - nicht ganz ohne Eigennutz, schließlich war der vierfache Weltmeister einst offiziell Team-Manager des anfangs erfolgreichsten Rennstalls Renault e.dams - zeigte sich nach erster Skepsis von der Idee des so genannten Fanboost durchaus angetan.

"Als ich zum ersten Mal davon gehört hatte, dachte ich zunächst: 'Oh Shit...'", so der Franzose. "Aber: Man muss das Konzept als Ganzes betrachten und offen sein für Neues." Nur, warnte Prost im gleichem Zuge, dürfe man es mit dem Fanboost nicht zu weit treiben. Der sportliche Aspekt dürfe nicht untergehen.

Früher wurde der Fanboost noch ziemlich aktiv beworben..., Foto: LAT Images
Früher wurde der Fanboost noch ziemlich aktiv beworben..., Foto: LAT Images

Fanboost kostet Wehrlein Podium

Am vergangenen Rennwochenende im mexikanischen Puebla ging der Fanboost alles andere als unter. Ausgerechnet Pascal Wehrlein verlor im Sonntagsrennen nachträglich seinen zweiten Platz und fiel wegen einer durch falsche Fanboost-Nutzung ausgelösten 5-Sekunden-Strafe auf Rang vier zurück. 'Ausgerechnet', weil der Porsche-Fahrer schon am Vortag wegen einer nachträglichen Disqualifikation - Porsche hatte die Rennreifen nicht korrekt registriert - ein Podium verloren hatte.

Bei der glücklosen Jagd auf den Führenden und späteren Sieger Edoardo Mortara (Venturi) nutzte Wehrlein erst in der letzten Rennrunde seine vermeintlich letzte Waffe und aktivierte den Fanboost, um dadurch ein paar Zehntelsekunden auf der Strecke zu gewinnen. Dumm nur, dass zu diesem späten Zeitpunkt im Rennen die Batterie in seinem Porsche nicht mehr die per Reglement definierte Mindestenergie von 240 kW erreichen konnte.

Was man dazu wissen sollte: Der Fanboost muss im Gegensatz zur anderen Überholhilfe, dem Attack Mode, in einem Rennen nicht zwingend genutzt werden. Wird er jedoch aktiviert, greift das Reglement: Die zusätzlich freigegebene Energie aus der Batterie beträgt 100 Kilojoule bei einer Mindestleistung von 240 kW sowie maximal 250 kW, wobei der Fahrer über die Dauer der Zusatzleistung frei entscheiden kann. Außerdem darf der Fanboost erst nach der 22. Rennminute, also mit Beginn der zweiten Rennhälfte, eingesetzt werden.

Formel E: Alle Fanboost-Gewinner 2021

FahrerTeamAnzahl Fanboost
Stoffel VandoorneMercedes9
Antonio Felix da CostaDS Techeetah9
Nyck de VriesMercedes8
Lucas di GrassiAudi6
Sam BirdVirgin5
Sergio Sette CamaraDragon2
Nick CassidyVirgin2
Pascal WehrleinPorsche2
Jake DennisBMW1
Mitch EvansJaguar1

Rast: Offenbar braucht es die Komplexität

Was zumindest die Teams und Fahrer der Formel E wissen sollten, sorgt beim Zuschauer - nicht zuletzt in Verbindung mit schier unzähligen, nachträglich vergebenen Strafen - häufig für Kopfschütteln. Es kristallisiert sich in der dritten Saison mit den aktuellen Gen2-Rennautos heraus: Die Formel E ist schlichtweg zu kompliziert geworden.

"Aus dem Familien- und Freundeskreis habe ich das Feedback erhalten, dass es zu kompliziert ist, wenn man die Formel E nicht regelmäßig verfolgt", sagt Audi-Pilot Rene Rast im Interview mit Motorsport-Magazin.com. "Da wird dann über Fanboost, Attack Mode und Co. diskutiert."

Das sei laut dem dreifachen DTM-Champion, der in Puebla seinen ersten Podestplatz in der laufenden Saison erzielte, jedoch nur die Oberfläche. Rast weiter: "Für uns Fahrer und die Teams ist es viel komplexer als es wirklich im TV ausschaut. Das ist nun einmal die Formel E mit einem sehr komplexen Rennauto. Und diese Komplexität braucht man offenbar, um erfolgreich zu sein. Ich kenne kein Top-Team, das nicht fünf bis sieben Tage vor jedem Rennen im Simulator verbringt."

Regeln rücken immer mehr in den Fokus

Das hohe Wettbewerbsniveau in der Formel E zweifeln heute wohl nur noch notorische Nörgler an. Die Kritik an der schweren Verständlichkeit zahlreicher Rennsituationen wächst jedoch immer weiter. Man erinnere sich nur an die kaum nachvollziehbare Energie-Farce von Valencia, die weltweit für Negativ-Schlagzeilen sorgte und bei der die Verantwortlichen der Formel E in der Kommunikation kein gutes Bild abgaben. Dass die Batterien nicht 'leer' waren, sondern lediglich die per Reglement definierte Maximal-Energie (52 von 54 kWh) bei einigen Autos überschritten wurde, verstanden zunächst nur wenige Zuschauer und Medien.

In einer Rennserie, die neben der reinen und durchaus reichlich vorhandenen Strecken-Action auch den Nachhaltigkeitsgedanken und Umweltschutz transportieren möchte, rücken Regel-Wirrungen und -Streitigkeiten immer mehr in den Vordergrund. Die auffällig vielen ausgesprochenen Strafen im Nachgang eines Rennens - wobei sich die Rennleitung hier nur ans Reglement hält - hinterlassen nicht selten einen faden Beigeschmack.

Was ändert sich mit der Gen3-Ära?

In der übernächsten Saison (2022/23) erwartet die Formel E in ihrem dann neunten Jahr eine weitere Revolution. Deutlich leistungsstärkere Gen3-Rennwagen samt Schnelllade-Technologie läuten die dritte Ära der Elektro-Rennserie ein. Neben Technik und Kostenkontrolle, dürfte auch das von der FIA ausgearbeitete Regelwerk bei weiteren Treffen der Arbeitsgruppen in den Vordergrund rücken.

Dass Porsche nach der Puebla-Disqualifikation von Wehrlein und Teamkollege Andre Lotterer in Folge inkorrekt registrierter Reifen im Technischen Wagenpass einen offiziellen Einspruch eingelegt hat, kann als Warnschuss an die Verantwortlichen gedeutet werden. "Für Porsche ist es wichtig, weiteres Potenzial für die Meisterschaft zu erkennen und die Formel E mit dem Ziel zu unterstützen, tollen Rennsport zu liefern - vor allem für die Fans", teilte der Hersteller gegenüber Motorsport-Magazin.com mit.

Fanboost steht auf der Kippe

Laut dem bisher in der Öffentlichkeit kaum in Erscheinung getretenen Formel-E-Geschäftsführer Jamie Reigle gelte es für die Gen3-Zukunft, die Verständlichkeit des eigenen Produktes zu wahren. "Man muss darüber nachdenken, ob auch neue Zuschauer verstehen, was da vor sich geht", merkte Reigle vor einer Weile an. Dieser Denke könnte unter anderem der Fanboost zum Opfer fallen, wobei der Kanadier darauf bestand, dass diese Entscheidung aus strategischen Gründen und nicht wegen anhaltender Kritik getroffen werden würde.

Bei ihrer Entstehung wollte sich die Formel E ganz bewusst in einigen Punkten von traditionellen Rennserien unterscheiden. Elektromobilität, Umweltschutz, Rennen in Innenstädten und eben auch rennrelevante Interaktion mit den Fans über soziale Medien gehörten zum Konzept der Serie, die ihren Newcomer-Bonus längst aufgebraucht hat.

Doch mit wachsender Professionalität, gestiegenen Ansprüchen und dem Hersteller-Boom wurde es immer komplizierter. Das Fanboost-Voting wurde aufgrund von Betrugs-Vorwürfen mehrfach geändert. Fans können aktuell nur über die Formel-E-Webseite und nicht mehr über Twitter teilnehmen.

Der Fanboost sorgt seit jeher für große Diskussionen, Foto: LAT Images
Der Fanboost sorgt seit jeher für große Diskussionen, Foto: LAT Images

Agag: Wollen die Fans nicht verwirren

Mit der Einführung der Gen2-Autos Ende 2018 kam der Attack Mode als weiteres Strategie-Element hinzu. Auch hier wird es kompliziert: Während beim Fanboost (und im Qualifying) 250 kW zur Verfügung stehen, ruft ein Auto im Attack Mode 235 kW ab. Im normalen Renntrim liegen 200 kW an.

Dass die FIA die genaue Nutzung der Attack Modes erst eine Stunde vor Rennbeginn bekanntgibt, um Strategie-Planungen zu verhindern, dann aber doch meist auf das Standard-Schema (2 Aktivierungen a 4 Minuten bei 5 Versuchen) zurückgreift, macht es kaum verständlicher.

"Unter Umständen machen wir mit dem Fanboost vielleicht nicht mehr weiter, sondern konzentrieren uns voll und ganz auf den Attack Mode", blickte Alejandro Agag vor einer Weile gegenüber Reuters in die Zukunft. "Wir wollen die Fans einfach nicht mit zu vielen verschiedenen Dingen verwirren. Und die Fans konzentrieren sich jetzt total auf den Attack Mode."

VANboost in der Formel E

Nach anfänglicher Euphorie, stehen inzwischen auch einige Fahrer dem Konzept des Fanboost kritisch gegenüber. Nicht zuletzt, weil das Spektrum der Extraboost-Gewinner (Top-5 eines jeden Votings) überschaubar geworden ist. Zwar haben zehn der 24 permanenten Starter in der laufenden Saison mindestens einmal einen Fanboost erhalten, doch die Rollen sind klar verteilt.

Mercedes-Pilot Stoffel Vandoorne setzt seine einzigartige Serie auch dieses Jahr fort: In jedem seiner bisherigen 33 Rennen seit 2018 erhielt der frühere Formel-1-Fahrer den Fanboost, inzwischen in der Szene bekannt als VANboost in Anlehnung an Vandoornes Fahrerkürzel.

Da half auch Mitch Evans' Aktion beim letztjährigen Mexiko-Rennen nichts, als der Jaguar-Pilot ein Scherzplakat mit der Aufschrift 'Stop Stoffel #Fanboost' in der Boxengasse hochhielt...

Spaß muss sein: Mitch Evans beim Mexiko-City ePrix 2020, Foto: Jaguar
Spaß muss sein: Mitch Evans beim Mexiko-City ePrix 2020, Foto: Jaguar

Mit dem amtierenden Champion Antonio Felix da Costa (DS Techeetah) gibt es einen weiteren Fahrer, der ebenfalls in jedem der bisherigen neun Saisonrennen den Boost abstaubte. Durch Nyck de Vries' acht Fanboosts gelang es Mercedes, 17 von insgesamt 45 vergebenen Fanboosts abzuräumen. Mit den Formel-E-Veteranen Lucas di Grassi (6 Fanboosts, insgesamt 42 und damit Allzeit-Rekord) und Sam Bird (5 Fanboosts, insgesamt 10) schafften es in der bisherigen Saison nur zwei weiteren Fahrer mehr als zweimal in die Top-5 eines Fan-Votings.

Dass nur ein Teil der Fanboosts in den Rennen auch wirklich genutzt wurde aus Sorge, das höchst aufwendig kalkulierte Energie-Management über Maß zu belasten, setzt dem Ganzen die Krone auf.