Um Viertel nach Zehn schreitet Michael Schumacher durch das Drehkreuz in den Paddock von Sao Paulo, 20 Minuten nach seinem WM-Rivalen Fernando Alonso. Durch den immensen Menschenauflauf kämpft er sich ins Ferrari-Motorhome, zu seinem letzten Meeting, dem letzten Mittagsschlaf, der letzten Massage, der letzten Fahrerparade und dem letzten Shakehand-Foto mit Alonso. Eine knappe halbe Stunde vor seinem letzten Start rollt er langsam in die Startaufstellung, Erinnerungen an das vermurkste Qualifying vom Vortag werden wach, an den zweiten technischen Defekt innerhalb von zwei Rennwochenenden.

Doch Michaels 248 F1 hat ein neues Innenleben: Die Benzinpumpe und deren Drumherum, samt eines Temperatursensors, wurden erneuert. Gute zehn Minuten vor dem Start bekommt Michael von Pelé seinen letzten Pokal für die Leistungen in der Formel 1 überreicht. Alles ist bereit. Die vermeintlich letzten 71 Runden in der Karriere des Michael Schumacher können beginnen.

Michael Schumacher setzte in Interlagos ein Manöver nach dem anderen., Foto: Sutton
Michael Schumacher setzte in Interlagos ein Manöver nach dem anderen., Foto: Sutton

Und wie sie beginnen: Zum Abschluss tut er noch ein allerletztes Mal, was er am liebsten macht und am besten kann: er beweist der F1-Welt sein Ausnahmetalent. Michael liefert ein wahres Überholfeuerwerk ab. Einen Gegner nach dem anderen überholt er, selbst ein Reifenschaden und der Rückfall auf den letzten Platz stoppen ihn nur kurzfristig auf seiner Aufholjagd. Sein letztes Opfer wird sein Nachfolger. Drei Runden vor Rennende, drei Runden vor seinem Karriereende quetscht sich Michael im Senna S innen am McLaren von Kimi Räikkönen vorbei. Es ist das letzte Überholmanöver in 16 Jahren Formel 1. Ein großartiger Schlusspunkt einer unvergleichlichen Karriere. Daran kann auch der verpasste achte Weltmeistertitel nichts ändern.

"Wir hatten heute ein Wahnsinnsauto", freut sich Michael. "Vom Speed her hätten wir wahrscheinlich alle überrunden können. Auf gewisse Art und Weise haben wir das ja auch gemacht." So bereitet ihm die letzte Ausfahrt trotz Platz 4 viel Spaß. "Diese Rad-an-Rad-Zweikämpfe sind das Hoch der Formel 1, speziell wenn der Weg nach vorne geht, wenn man so ein gutes Auto hat, die Gegner im Griff hat und entsprechend angreifen kann", erzählt er. "Meistens wünscht man sich, dass das Rennen irgendwann vorbei ist, aber heute hätte ich mir gewünscht, dass es noch ein bisschen länger geht."

Den Traum vom achten WM-Titel gibt Michael offiziell schon zwei Wochen zuvor nach einem Motorschaden in Suzuka auf. Seit 1991 ist Michael in der Formel 1. Seitdem hat der Deutsche nie aufgegeben - selbst in den auswegslosesten Situationen hat er immer an sich und den Erfolg geglaubt; manchmal hat er auch versucht ihn mit Gewalt zu erzwingen. Als der siebenfache Weltmeister rund eine Viertelstunde nach seinem Ausfall im vorletzten Saisonrennen, ja sogar dem vorletzten Rennen seiner gesamten Karriere, an die Box zurückkommt, spielen sich dort unerwartete Szenen ab: Michael bedankt sich bei seinen Mechanikern, baut seine Truppe auf und geht auch noch an den Kommandostand, um dort seine Ingenieure und Teamchefs abzuklatschen.

Dann tritt er vor die Fernsehkameras und spricht das Unmögliche, absolut Unerwartete aus: "Es hat halt in diesem Jahr nicht sollen sein", gibt er realistisch, aber völlig ungewohnt den Fahrertitel auf. "Auf den Funken Hoffnung, den es noch gibt, baue ich nicht." Der 50. Ausfall in seiner Karriere sei keineswegs der bitterste. "Nein, mit Sicherheit nicht", betont Michael. "Wir haben eine Meisterschaft wieder zum Leben erweckt, die schon entschieden schien. Darauf dürfen wir stolz sein - auf alles, was wir erreicht haben, dürfen wir stolz sein." Auch solche Momente gehören zum Motorsport, zur Formel 1 und zu einer großen Karriere dazu.

Abschied auf Zeit: Michael Schumacher verließ den Paddock nicht für immer., Foto: Sutton
Abschied auf Zeit: Michael Schumacher verließ den Paddock nicht für immer., Foto: Sutton

Seine Abschiedssaison beginnt mit drei schwierigen Rennen; einem zweiten Platz in Bahrain, einem sechsten Platz in Malaysia und einem Unfall in Australien. Allerdings weiß die F1-Gemeinde zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was Michael nach seinem Sieg beim Italien GP verkünden wird. Nach seinem sechsten Saisonsieg vor zigtausend begeisterter Tifosi kündigt Michael in der internationalen Siegerpressekonferenz an: "Das war mein letztes Rennen in Monza. Ich habe mich zusammen mit dem Team dazu entschlossen, am Jahresende zurückzutreten."

Um in der Königsklasse an der Spitze zu fahren, brauche man viel Kraft, Energie und Motivation. "Natürlich bin ich noch fit, natürlich bin ich noch konkurrenzfähig, aber wäre ich das auch in den nächsten Jahren? Einfach nur mitzufahren, ist nie mein Anspruch gewesen. Das ist nicht mein Stil."

Sein Stil sind Siege, deren feiert er in seinem Abschiedsjahr sieben. Wie Michaels gesamte Laufbahn ist auch die Saison 2006 von Höhen und Tiefen, von Überraschungen und Enttäuschungen geprägt. Es gibt Siege, Rekorde und eine zwischenzeitliche Dominanz, aber es gibt auch Ausfälle, Strafen und Kritik. Am meisten nach dem Qualifyingzwischenfall in Monaco, nicht ganz so viel nach einer überfahrenen rote Flagge in Budapest. Was fehlt ist das Happy End.

An den letzten beiden Formel 1-Rennwochenenden hat Michael zusammen fast mehr Pleiten, Pech und Pannen als in seiner gesamten Karriere zuvor. Der Motorschaden von Suzuka beraubt den Perfektionisten seiner realistischen Titelchance. Ein Defekt an der Benzinpumpe und ein Reifenschaden nehmen ihm in Interlagos die letzte Hoffnung auf ein rotes Wunder.

Selbst das Abschiedsgeschenk an sein Team fällt nicht wie erhofft aus. "Ich hätte den Jungs zum Abschied gerne noch zum Konstrukteurs-Titel verholfen", sagt Michael. "Diesen Titel hätten sie verdient gehabt. Aber auch ohne ihn steht fest: sie sind die Besten. Für mich sind sie die wahren Weltmeister."

Um exakt 19:02 Uhr am 22. Oktober des Jahres 2006 verlässt Michael den Paddock von Sao Paulo, lässt seine zweite Heimat der letzten 16 Jahre hinter sich. Ab sofort ist er nicht nur siebenmaliger Ex-Weltmeister, sondern auch Ex-Rennfahrer. Bis zum 14. März 20010, dem Start einer neuen Saison und seiner zweiten F1-Karriere in Bahrain.

Ende der Serie. Die Karriere wird ab der Saison 2010 fortgesetzt.