Alles frei erfunden. Alles ein absoluter Blödsinn. Alles nur eine böse Unterstellung der Boulevardpresse. So konnte man, wenn man wollte, bislang den aktuellen "Fall Räikkönen" einschätzen. Der Finne soll sich angeblich in einem Londoner Stripteaseklub im schweren Alkoholrausch entblößt haben. Zwar gab es Aussagen des Lokalmanagers – aber: Die Zeitschrift People, die von dem Vorfall berichtet hatte, gilt als ein Boulevard- oder Gesellschaftsblatt. Und Räikkönen hat zwar nicht dezidiert dementiert, aber immerhin dazu angeraten, nicht alles zu glauben, was in der Zeitung steht. Und Recht hat er, theoretisch…

Doch der Zufall schläft nicht – und London scheint eine kleine Stadt zu sein. Die Kollegen der gewöhnlich seriös arbeitenden britischen Formel 1-Site Pitpass haben am letzten Donnerstag, laut eigenen Angaben lange vor dem Erscheinen des Skandalberichts, einen Artikel mit dem Titel "Who´s been a naughty boy?" veröffentlicht. Darin wird von einer anonymen "jungen Formel 1-Person" gesprochen, welche in der Nacht zuvor in einem Londoner Stripteaseklub ihr Unwesen getrieben hat.

Die Kollegen schrieben am Morgen des 20. Januar: "Wer war der junge Mann, der letzte Nacht in Begleitung zweier Freunde in einem Londoner Stripteaseklub einen VIP-Raum um 500 Pfund gemietet hat? Der ‚Gentleman´, den wir meinen, wurde letztlich vor die Tür gesetzt, wegen ungebührlichen Verhaltens – inklusive dem Herumlaufen in verschiedensten Zuständen des Unbekleidetseins sowie lüsternen Aufforderungen an die jungen Damen vor Ort."

Die Kollegen schrieben auch: "Wir sind in London zuhause. Und London, vor allem das Zentrum, ist ein kleiner, ein sehr kleiner Ort. Noch mehr von diesem Unsinn - und wir sagen es deinem Boss."

Pitpass veröffentlichte erst heute, sechs Tage später, einen Artikel, in dem der Name des anonymen "naughty boy" preisgegeben wurde - die Kollegen befürchten, dass "nach dem letzten der zahlreichen Zwischenfälle" rund um Kimi Räikkönen "der Sport in Misskredit" gebracht werden könnte. Die Kollegen schließen ihren langen Essay mit einem leidenschaftlichen Plädoyer an die Vernunft: "Kimi Räikkönen hat die Gabe, einen Michael Schumacher zu ängstigen. Er hat das Potential, Finnlands dritter Formel 1-Weltmeister zu werden. Es wäre kriminell, wenn er das alles wegwerfen würde - nur weil er seinen Drink nicht halten kann und er vergisst, dass er im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht und seinem Arbeitgeber, seinen Fans und dem Sport gegenüber verpflichtet ist."

Der Kollege vom Guardian, Richard Williams, wiederum findet, dass "die ganze Aufregung um einen derartigen Zwischenfall" zeigen würde, wie sehr sich dieser Sport verändert habe. Früher habe es "zum Berufsbild gehört, Unfug zu treiben".

Williams erinnert an einen "nackt auf dem Tisch tanzenden Graham Hill, der dann niederfiel und sich seine niederen Regionen an einem Glassplitter verletzt hat". Er erinnert an einen James Hunt, der "sich beim England-GP in Brands Hatch auf der Geraden drehte – nicht wegen eines Reifenproblems, wie er seinem Teammanager erzählte - sondern weil er, laut Zeugenaussagen, immer noch high war - von einem Gemisch, was auch immer er da konsumiert hat - Alkohol, Kokain, Haschisch oder LSD". Laut Williams soll Hunt zudem Deodorants abgelehnt haben, da diese "essentielle und auf Frauen attraktiv wirkende männliche Duftstoffe maskieren würden".

Die Sponsoren mögen nicht begeistert sein, schreibt Williams. Aber: "Was immer die Geldmänner über Kimi Räikkönen denken mögen, - die wirklichen Fans wird das nicht weiter kümmern…"