Monaco, 26. Mai 2013. Die Fanmassen drängen sich durch die engen Gassen, die Fahrer bereiten sich mental auf die wohl härtesten 260.520 Kilometer des gesamten Jahres vor. 90 Minuten vor Rennstart lässt Red Bull die Bombe platzen. Im Lauffeuer verbreitet sich die Meldung, Mercedes habe vor dem Monaco GP mit dem F1 W04 einen geheimen Reifentest absolviert und damit gegen das sportliche Reglement verstoßen. Als drei Stunden später ausgerechnet ein Mercedes-Fahrer den Siegerchampagner verspritzt, ist die Konkurrenz endgültig auf 180 - und die Formel 1 hat ihren neuesten Skandal.

"Ich hätte mir gewünscht, dass Christian Horner in Monaco dem Niki Lauda eine reingehauen hätte, anstatt nur zu sagen, dass Mercedes unerlaubt Reifen getestet und dadurch das Rennen gewonnen hat", sagt Motorsport-Magazin.com-Experte Christian Danner mit einem Lächeln. Doch auch ohne Faustkampf beherrschte 'Testgate' wochenlang die Schlagzeilen. Wer wusste von dem Test? Wer gab das Okay? Steigt der Autohersteller als Konsequenz aus? "In der Formel 1 wird mit außerordentlich harten Bandagen gekämpft. Es wäre verlogen, zu behaupten, dass die Beteiligten in der Formel 1 nur Kinderwagen schieben würden", stellt Danner klar.

Dass die Formel 1 kein Kinderspielplatz ist, untermauerte das FIA-Tribunal in Paris, vor dem sich Mercedes und Pirelli verantworten musste. Red-Bull-Teamchef Christian Horner tauchte als Überraschungsgast auf, inklusive mehrseitigem Dokument, das der FIA darlegen sollte, welche Vorteile sich Mercedes verschafft hatte. Als wäre Red Bull gegen Mercedes nicht schon genug, schossen die Silbernen ihrerseits gegen Mitankläger Ferrari und nutzten zur Untermauerung ihrer Behauptungen geheime E-Mails zwischen dem Rennstall und Pirelli. Trotz der gegenseitigen Schuldzuweisungen fiel das Urteil relativ milde aus.

Dementsprechend groß war der Aufschrei, von einem nicht wieder gutzumachenden Imageschaden war die Rede. Doch die Wahrheit sieht anders aus, denn auch schlechte Publicity ist Publicity. Die US-amerikanische Unterhaltungsbranche hat dieses Spiel schon vor langer Zeit verstanden. Es mag kritische Stimmen geben, die behaupten, dass das nicht für die Formel 1 gilt und Skandale dem Image und der Glaubwürdigkeit des Sports schaden würden. Immerhin gilt die Formel 1 als die Königsklasse des Motorsports, als eine Rennserie auf höchstem, technischem Niveau, in der sich die weltbesten Fahrer miteinander messen.

Reifen-Gate: Viel los im Gerichtsaal in Paris, Foto: DPPI/FIA
Reifen-Gate: Viel los im Gerichtsaal in Paris, Foto: DPPI/FIA

Ein Fakt wird in dieser Aufzählung aber vergessen, und zwar, dass die Formel 1 auch eine Show ist. "Neben dem Fußball ist die Formel 1 die wichtigste und medienwirksamste Sportart. Wir sind ein Weltsport, der den Fans eine großartige Show abliefern muss. Vielleicht gehören die Skandale dazu, immerhin hatten wir nahezu in jedem Jahr einen", gab Martin Whitmarsh gegenüber dem Motorsport-Magazin zu Bedenken. Der McLaren-Teamchef weiß, dass man den Leuten außerhalb des Paddocks etwas zum Diskutieren geben muss, um sie aus ihrem langweiligen Alltag herauszureißen.

Nicht ohne Grund sind Machtspiele und Gier die Zutaten einer jeder erfolgreichen Seifenoper - und sie stehen auch in der Formel 1 auf der Tagesordnung. Jeder versucht, dem Anderen Fahrer, Mitarbeiter und vor allem die Genies auszuspannen. So war Niki Laudas erste Amtshandlung bei Mercedes der Versuch, Adrian Newey von Konkurrent Red Bull abzuwerben. "Niki ist old school-mäßig vorgegangen. Er ist mit Newey Abendessen gegangen und hat versucht, ihn Red Bull abzuwerben. Was danach los war, kann man sich denken", erzählt Danner.

Sämtlichen Leuten im Formel-1-Paddock, abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen, geht es hauptsächlich um das liebe Geld oder das eigene Ego, erst an zweiter Stelle kommt der Sport. "Wie im richtigen Leben gilt auch hier - when the Going Gets Tough, the Tough Get Going. Das muss so sein und je klarer die Herrschaften sich ausdrücken, desto besser. Eine klinische, septische Formel 1 wäre unerträglich", sagt Danner.

Testgate, Liegate, Spygate - sämtliche Skandale haben bewirkt, dass über die Formel 1 gesprochen wurde. "Grundsätzlich sind solche Schlagzeilen nicht gut für die Formel 1", erklärt Sauber-Teamchefin Monisha Kaltenborn dem Motorsport-Magazin, um im selben Atemzug hinzuzufügen: "Ein bisschen gehören Skandale aber schon zum Geschäft dazu. Leider passiert es jedoch oftmals, dass dabei eine Ebene verlassen wird, die man besser nicht verlassen sollte."

Nelsinho Piquet beendete seine F1-Karriere mit einem lauten Knall, Foto: Sutton
Nelsinho Piquet beendete seine F1-Karriere mit einem lauten Knall, Foto: Sutton

Doch erst wenn es auf die menschliche Ebene geht, wird ein Skandal erst so richtig zur alles beherrschenden Schlagzeile. "Die richtig schönen Skandale sind die, wo es wirklich hart zur Sache geht wie damals bei McLaren zwischen Lewis Hamilton und Fernando Alonso", sagt Danner. Der Konflikt der beiden Platzhirsche erinnerte an die berühmt-berüchtigte Rivalität zwischen Ayrton Senna und Alain Prost Anfang der 90er Jahre und endete in der legendären Blockade von Budapest 2007. Doch das, was die Fans und die Pressevertreter zu sehen bekamen, war nur die Spitze des Eisbergs, im Verborgenen liefen schlimmere Szenen ab. Doch anders als Hamilton, der sich mal als Rebell gibt, mal als Mann mit gebrochenem Herzen, blieb Alonso seiner Linie stets treu und entstieg damit jedem Skandal ohne Schaden.

Selbst aus dem größten Skandal der vergangenen 20 Jahre ging der Spanier unbeschadet hervor. In den Annalen der Formel-1-Geschichte ist dieser als 'Crashgate' bekannt. Dabei ging es um einen inszenierten Unfall von Nelson Piquet Junior im Jahr 2008. Der Brasilianer krachte absichtlich in die Mauer, um eine Safety-Car-Phase auszulösen, die der Strategie seines Teamkollegen Alonso in die Hände spielte und diesem den Weg zum Sieg beim Großen Preis von Singapur ebnete. Erst zwölf Monate später kam der Skandal ans Licht, die negativen Folgen waren enorm. Erstmals verließen Sponsoren [ING, Mutua Madrilena] als direkte Folge eines Skandals die Formel 1.

Das Renault-Team bekam zwei Jahre auf Bewährung. Teamchef Flavio Briatore und Chefingenieur Pat Symonds erhielten ein Arbeitsverbot in der Formel 1 bis 2012. Alonso behauptete von der ganzen Affäre nichts gewusst zu haben und ging straffrei aus. Der Imageschaden für die Formel 1 schien unvorstellbar. Doch sechs Jahre später gibt es die Formel 1 immer noch. Paradoxerweise tragen die Skandale sogar dazu bei, dass die Verantwortlichen gezwungen sind, zu reflektieren, in welche Richtung der Sport sich bewegt und inwieweit diese mit der Richtung übereinstimmt, die die Formel 1 langfristig überleben lässt.

Bestes Beispiel ist der aktuelle Betrugsskandal um Bernie Ecclestone. Die Münchner Staatsanwaltschaft erhob gegen den Formel-1-Boss Anklage, weil dieser einen früheren BayernLB-Vorstand mit 44 Millionen Dollar bestochen haben soll. Auch wenn eine Gefängnisstrafe unwahrscheinlich scheint und Ecclestone bislang keine Schuld erwiesen werden konnte, so führt der Prozess doch zu der zu lange aufgeschobenen Diskussion über die Wachablösung des Briten.

"Das war längst fällig. Es ist ja nur eine Frage der Zeit wie lange es Bernie noch gibt", betont Marc Surer gegenüber dem Motorsport-Magazin. Ecclestone ist immerhin schon 82 Jahre alt. "Es würde der Formel 1 gut tun, wenn man sagt so oder so wird die Nachfolge aussehen. Aber Bernie spielt ja mit den ganzen Spekulationen." Eben weil Bernie Ecclestone - stets seiner Zeit voraus - erkannt hat, dass auch schlechte Publicity Publicity ist.

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