Die Formel 1 ist unerbittlich. Zweite Chancen sind rar gesät. Romain Grosjean hat in diesem Jahr eine erhalten. Die Anfänge waren vielversprechend, doch läuft er Gefahr, sie mit seinen Fehlern fahrlässig zu verschenken. Das Motorsport-Magazin geht dem Fall auf den Grund.

Kimi Räikkönen rechts, Jerome d´Ambrosio links, um sie herum dutzende Journalisten. In der Mitte des Lotus-Motorhomes steht in all dem Trubel ein einsamer Romain Grosjean. Er wirkt gedankenverloren, scheint sich zu fragen, wie es so weit kommen konnte? Eben noch als angehender Superstar in der Formel 1 gefeiert, nun als Crashpilot verschrien. Lange hatten die Rennkommissare Gnade vor Recht ergehen lassen, erst der Horror-Crash in Belgien, der Fernando Alonso im schlimmsten Fall das Leben hätte kosten können, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Rennkommissare statuierten am Franzosen ein Exempel und sperrten ihn für den Italien GP. Zum Zusehen verdammt, für einen Rennfahrer die Höchststrafe.

"Was ich frustrierend finde, ist, dass dies seine zweite Chance in der Formel 1 ist - möglicherweise seine letzte. Und trotzdem macht er bei seiner letzten Chance all diese Fehler und macht sie immer wieder und immer weiter", sieht Ex-GP-Pilot Johnny Herbert Grosjeans Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Für Herberts Geschmack sollte der Schweizer eigentlich vorsichtiger und überlegter vorgehen, müsste sich sagen: "Dies ist meine letzte Chance, ich bin in einem guten Auto und vielleicht sogar schneller als Kimi Räikkönen im Qualifying und genauso schnell wie er im Rennen. Das ist nicht schlecht", erklärte Herbert im Gespräch mit dem Motorsport-Magazin.

Tatsächlich schien Grosjean seine zweite Chance in der Königsklasse des Motorsports mit beiden Händen zu ergreifen - alles andere als eine alltägliche Gelegenheit in einem Umfeld, das nicht gerade für seine Nachsicht und Nächstenliebe bekannt ist. Grosjean galt zu Saisonbeginn für viele Beobachter als heißerer Kandidat auf den ersten Lotus-Sieg. Der 26-Jährige überzeugte gegen seinen erfahrenen Teamkollegen Kimi Räikkönen, immerhin mehrfacher Grand-Prix-Sieger und Weltmeister des Jahres 2007, mit starken Qualifikationsergebnissen und wusste auch im Rennen oftmals zu überzeugen. Aber Herbert warnt: "Wenn er weiter solche Fehler begeht, wird bald jemand sagen: Bye, bye."

Ein schneller Kandidat

Aus und vorbei. Schon einmal hat Grosjean seine Chance in der Formel 1 verbockt. 2009 ersetzte der damalige GP2-Pilot ab Valencia den entlassenen Nelsinho Piquet Junior im Renault-Cockpit. Doch der unerwartete Formel-1-Einstieg als neuer Teamkollege von Fernando Alonso zahlte sich nicht aus: Sieben Rennen, kein Punkt und ein 13. Platz als bestes Resultat waren die magere Ausbeute. Dabei bescheinigen ihm Experten, dass er die nötigen Anlagen besitzt, um ein ganz Großer des Sports zu werden. "Er ist ein extrem schneller Fahrer", betont Ex-Formel-1-Fahrer Marc Surer. "Wenn er sich in den Griff bekommt, ist er ein ganz schneller Kandidat - ähnlich wie Lewis Hamilton." Auch Herbert ist davon überzeugt, dass Grosjean den nötigen Speed hat, um an der Spitze mitzufahren. Das beweise Grosjean vor allem im Qualifying stets aufs Neue. "Er fühlt das Auto am Limit", beschreibt Herbert. "Er holt das Beste aus den Reifen heraus, beim Anbremsen, bei der Aerodynamik. Er ist sehr schnell."

Dass Grosjean bislang mehr durch Misserfolge als durch Erfolge auffiel, erklärt der ehemalige Grand-Prix-Pilot Christian Danner folgendermaßen: "Ein Rennfahrer ist immer ein Gesamtkunstwerk - dazu gehören Talent, Speed, Biss, Willenskraft, Verständnis von technischen Zusammenhängen und auch Weitblick." Fehle nur ein Puzzleteil, könne ein Fahrer an der Spitze der Königsklasse nicht überleben. Das größte Manko des Lotus-Piloten sind Rad-an-Rad-Duelle, speziell am Start. In zwölf Rennen kollidierte er sieben Mal mit anderen Autos. "Er muss versuchen, das hinzukriegen. In allen anderen Bereichen ist er besser als so manch anderer Formel-1-Fahrer", lobt Danner.

Auch Herbert bestätigt: "In einer Rennsituation ist er sehr gut und sehr konstant." Diese Konstanz ist in der modernen Formel 1 mit unterschiedlich stark abbauenden Reifen, den heutigen Autos und der hohen Konkurrenzdichte sehr wichtig. Nur durch konstante Ergebnisse ist eine Topplatzierung in der Weltmeisterschaft möglich - diese torpediert Grosjean durch seine Aussetzer regelmäßig selbst. "Entscheidend ist, ob Grosjean weiß, was er tut oder nicht", meint Danner. Wenn er es wisse, könne er mit einem Sportpsychologen sprechen und diese Schwäche konsequent abstellen. "Wenn er jemandem blind hinten drauffährt und sich dann selbst wundert, warum das passiert ist, dann hat er ein größeres Problem", warnt Danner.

Für Surer ist das Problem offensichtlich: "Er hat extremes Talent und ist extrem schnell, aber wenn er losfährt, hört er auf zu denken. Es gibt Fahrer, die extrem viel Energie brauchen, um schnell zu fahren. Es ist dann als hätten sie Scheuklappen auf, um diese Leistung abzurufen. Andere Fahrer sind relaxt und haben den Weitwinkel." Erst mit Rennverlauf werde der Lotus-Pilot wieder normal. Ein Blick in die Statistik bestätigt Surers Aussagen - während des Rennens passieren dem Franzosen nicht mehr Unfälle als anderen Fahrern. Fehlende Erfahrung kann für Grosjeans Malheure nicht zwangsläufig als Ursache angeführt werden, immerhin fiel in dieser Saison auch der siebenfache Weltmeister Michael Schumacher schon zwei Mal durch Auffahrunfälle auf. "Es ist immer nur die Startphase, in der ich bei Grosjean das Gefühl habe, dass irgendwie das Hirn abschaltet. Es gibt Leute, die unter Stress abschalten - genauso kommt es mir bei ihm vor. Nur beim Start baut er Scheiße", bilanziert Surer.

Die GP2 als wilde Reiter-GMBH?

Aufgrund der Fahrweise von Rookies wie Grosjean oder Pastor Maldonado entbrannte in der Formel 1 sogar eine Diskussion über eine zu hohe Aggressivität der jungen Fahrer. Danner empfindet die Debatte als "Bullshit". "Das Problem von Grosjean ist nicht, dass die GP2 eine wilde Reiter-GMBH ist, sondern es ist ein Problem seiner Person, das er lösen muss", betont Danner. "Die Fakten sind klar - er ist einfach zu oft mit jemandem zusammengekracht. Klar sind das alles Rennfahrer, die keine Kinderwagen durch die Gegend schieben. In so einem Rennauto passieren ausgesprochen komplexe Dinge. Aber Grosjean ist ein unglaublich intelligenter und begnadeter Rennfahrer - ich bin überzeugt, er wird das Problem lösen."

In Monza durfte Romain Grosjean nur zuschauen., Foto: Sutton
In Monza durfte Romain Grosjean nur zuschauen., Foto: Sutton

Grosjean selbst gab sich nach seiner Rennsperre geläutert und betonte, wie viel er an seinem unfreiwillig freien Rennwochenende gelernt habe. Der Franzose nutzte die Zeit, um seinen Teamkollegen Kimi Räikkönen noch genauer zu studieren und zu beobachten. "Es war die beste Vorbereitung, abgesehen von selbst zu fahren", meinte er. Worte, die die Lotus-Chefetage nicht unbedingt ruhiger schlafen lassen werden. Noch muss Grosjean beweisen, dass er seine Lektion gelernt hat, das Rennen nicht gleich in der ersten Kurve gewinnen zu wollen. Surer glaubt fest an einen Lerneffekt beim Schweizer mit französischer Rennlizenz. "So eine Strafe kann für einen jungen Fahrer heilsam sein", meint der Schweizer.

Den besten Lehrmeister hat Grosjean im eigenen Team. Räikkönen scheint das Paradebeispiel zu sein, wie man eine zweite Chance in der Formel 1 perfekt nutzt. "Kimi ist so cool. Grosjean ist oft vor Kimi gestartet, aber im Rennen war Kimi immer vor ihm. Das Team sollte ihm als Beispiel mit auf den Weg geben: Orientiere dich an Kimi", betonte Surer. Wie der Schweizer fände es auch Herbert schade, wenn Grosjean sein Talent ein weiteres Mal wegschmeißen würde - denn diesmal wäre es endgültig. Eine dritte Chance gibt es in der Formel 1 nicht. "Es wäre verrückt, wenn er sich nicht wenigstens ein bisschen ändern würde", stellt Herbert klar. In den noch ausstehenden Rennen wird sich zeigen, ob Grosjean das eiserne Gesetz der Formel 1 verinnerlicht hat: "To finish first, first you have to finish". Wenn ihm das gelingt, steht Grosjean laut Experten eine große Karriere bevor. Wenn nicht, kann er sich für seinen geplatzten Formel-1-Traum nur selbst die Schuld geben.

Grosjeans Kollisionen:Sieben auf einen Streich

Australien 2012
Kollision mit Pastor Maldonado in Runde 1
Folgen: Ausfall

Malaysia 2012
Dreht Michael Schumacher in Runde 1 um
Folgen: Beide fallen weit zurück

Spanien 2012
Berührung mit Sergio Perez
Folgen: Boxenstopp für Perez, beschädigter Frontflügel für Grosjean

Monaco 2012
Kollision mit Michael Schumacher am Start
Folgen: Ausfall und Auslöser für weitere Kollisionen

Großbritannien 2012
Kollision mit Paul di Resta in Runde 1
Folgen: Ausfall für di Resta, beschädigter Frontflügel für Grosjean

Deutschland 2012
Berührung mit Bruno Senna in Runde 1
Folgen: Reifenschäden und Boxenstopps

Belgien 2012
Kollision mit Hamilton am Start
Folgen: Massencrash in der ersten Kurve reißt auch Alonso, Perez und Kobayashi mit; Rennsperre für Monza

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