Spektakel oder Farce? Die Abläufe der Qualifyings in der DTM-Saison 2023 bleiben eine diskutable Angelegenheit. Die Ursache ist einfach erklärt: In den rund ersten 10 Minuten der stets 20-minütigen Sessions passiert praktisch nichts. Zuschauer an der Strecke oder im Livestream müssen häufig mitansehen, wie alle 28 Autos eine langsame Runde drehen und dann für eine gefühlte Ewigkeit in der Boxengasse rumstehen. 50 Prozent pure Langeweile in den meisten Fällen.

Erst nach der 'Zwangspause' geht es knackig zu, wenn die Meute annähernd geschlossen die Boxengasse verlässt und die Fahrer versuchen, dem Verkehr auf der Strecke auszuweichen. Die Jagd nach der Pole Position entwickelt sich häufig zu einem echten Krimi, weil den Piloten am Ende nur wenige schnelle bzw. freie Runden für den optimalen 'Schuss' zur Verfügung stehen.

Deledda-Abflug führt zu Qualifying-Thriller

Dieses Spektakel der anderen Art kann ins Extrem führen, wenn ungeplante Zwischenfälle auftreten. So geschehen beim Qualifying am Sonntagmorgen auf dem Lausitzring, als einmal mehr Alessio Deledda seinen SSR-Lamborghini ins Kiesbett beförderte. Und das zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt, nämlich genau in der Periode, als der Rest des Feldes soeben zu seinen schnellsten Runden angesetzt hatte.

Der meist hinterherfahrende Italiener löste mit seinem Abflug eine Rotphase aus, nach der den verbliebenen 27 Piloten nur noch 05:06 Minuten Restfahrzeit zur Verfügung standen. Oder anders ausgedrückt: maximal drei fliegende Runden, um überhaupt eine konkurrenzfähige Zeit setzen zu können. Ein Großteil der vorangegangenen 15 Session-Minuten ging für den Boxengassen-Aufenthalt und drei Aufwärmrunden drauf, in denen keine wirklich schnellen Rundenzeiten erzielt wurden.

DTM Lausitzring: Bortolotti feiert zweiten Saisonsieg (03:42 Min.)

Mirko Bortolotti meistert maximalen Druck

So herrschte maximaler Druck, den Deleddas SSR-Teamkollege Mirko Bortolotti am besten meisterte und mit einer 1:20.901 den Grundstein für den nachfolgenden Start-Ziel-Sieg legte. Der in Wien lebende Italiener konnte seine Zeiten nach dem Re-Start im Verlauf der möglichen drei Runden um immerhin sieben Zehntelsekunden verbessern. Dem Zweitplatzierten Ricardo Feller (Abt-Audi) fehlten nach seinen zwei schnellen Runden 0,133 Sekunden zum Lamborghini-Werksfahrer.

Im Samstags-Qualifying schnappte sich Jack Aitken (Emil-Frey-Ferrari) seine erste DTM-Pole mit der Bestzeit von 1:19.937 Minuten - rund sieben Zehntel schneller als Bortolotti einen Tag später. Zwar wurde das Qualifying nicht durch Zwischenfälle unterbrochen, aber mehr als maximal fünf Runden standen keinem Fahrer für den Pole-Angriff zur Verfügung, bevor die Pirelli-Reifen - seit diesem Jahr neu in der DTM - aus dem Arbeitsfenster fielen.

Nach der verbummelten Zeit in der Boxengasse ließen die meisten Piloten ein bis zwei Vorbereitungsrunden folgen, dann drei bis vier schnelle Runden, eine weitere Abkühlrunde (Cool-Down-Lap) sowie einen finalen Versuch kurz vor dem Ablauf der Zeit bei dann optimalen Streckenbedingungen.

DTM: Keine Reifenwärmer, keine Runden

Dieses Prozedere hat sich auf den meisten Rennstrecken in der DTM etabliert und führt auf einen besonderen Grund zurück: Reifenheizdecken sind aus Kostengründen sowohl im Qualifying als auch im Rennbetrieb verboten. In zahlreichen anderen GT3-Serien wie der GT World Challenge, die wie die DTM auf Pirelli-Reifen startet, dürfen Reifenwärmer hingegen genutzt werden.

Die kreativen Köpfe der DTM-Teams haben jedoch eine Möglichkeit gefunden, die Reifen im 20-minütigen Qualifying ins optimale Arbeitsfenster zu bringen, ohne zu viele Runden auf der Strecke drehen zu müssen und damit den Verschleiß zu fördern. Das ist notwendig, weil jedem Auto pro Rennwochenende je nach Strecke nur drei bzw. vier neue Sätze der Pirelli-Einheitsreifen zur Verfügung stehen.

Pirelli-Reifen in der DTM 2023
Pirelli beliefert die DTM 2023 mit Reifen, Foto: ADAC Motorsport

DTM erfindet 'Billig-Lösung' für Heizdecken

Dabei fährt ein Pilot eine langsame Aufwärmrunde und heizt währenddessen die Bremsanlage mittels wiederholten Bremsvorgängen auf. Nach der zweiten Runde biegt er wieder in die Boxengasse ab und wartet vor der jeweiligen Garage. Eine Ausnahme bilden die Fahrer eines BMW M4 GT3, die auf eine zusätzliche Runde verzichten und schon nach einem Umlauf wieder in die Box abbiegen.

"So etwas haben wir zuvor mit unseren Reifen noch nicht gesehen. Wir kennen es aber aus anderen Rennserien, in denen das Vorheizen ebenfalls nicht erlaubt ist", sagt Matteo Braga, Manager Circuit Activities bei Pirelli mit rund 20 Jahren Expertise, zu Motorsport-Magazin.com.

Der Trick dahinter: Durch die Temperatur in der Bremsanlage erhitzt sich während der Wartezeit in erster Linie die Felge, die ihre Wärme dadurch direkt an die Reifenmischung abgibt. Quasi eine 'Billig-Lösung' für die fehlenden Reifenheizdecken!

Durch die abstrahlende Wärme steigen die Drücke in den Reifen, nachdem die Teams die Autos mit möglichst geringen Reifendrücken auf die Strecke schicken. Einen vorgeschriebenen Mindestluftdruck gibt es in der DTM (noch) nicht. Bei diesem Prozess steigt die Temperatur der Reifenmischung nur geringfügig an, dadurch wird ein Überhitzen vermieden. Ist der optimale Reifendruck, der effektiv Auswirkungen auf die Breite der Lauffläche und den Grip hat, erreicht, werden die Fahrer wieder auf die Strecke geschickt.

Boxengasse vor dem Qualifying
In den DTM-Qualifyings muss man Wartezeit einplanen, Foto: DTM

Pirelli-Experte erklärt Reifen-Trick in DTM

"Um die beste Performance zu erreichen, benötigt die Reifenmischung die richtige Temperatur und den richtigen Luftdruck, der zudem nicht überschritten werden sollte", erklärt Pirelli-Mann Braga. "Die Teams versuchen, mit geringen Drücken zu starten. Wenn die Temperatur der Reifenmischung optimal ist, der Druck aber zu gering, verliert man den Peak. Deshalb versuchen die Teams, den Druck zu erhöhen, ohne dabei die Temperatur der Mischung ansteigen zu lassen. Gelingt ihnen das, können sie den Punkt für die beste Performance treffen."

Die dem Heizdecken-Verbot geschuldete Wartepause in der Boxengasse sieht von außen langweilig aus, ist aber eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Auch, weil die Top-5 der Startaufstellung das Rennen mit ihren zuvor im Qualifying genutzten Reifen beginnen müssen. Der Rest des Feldes hat größere Freiheiten bei der Wahl der Startreifen.

Wie wichtig das Qualifying in der DTM mit ihren mittels einer Balance of Performance nivellierten GT3-Autos ist, belegen die Zahlen eindeutig: In sieben der bisherigen zehn Saisonrennen siegte der Pole-Setter.

DTM: Alle Rennsieger 2023

RennstreckeFahrerTeamPole Position
Oschersleben IFranck PereraSSR-Lamborghini Franck Perera
Oschersleben IIChristian EngelhartToksport-PorscheThomas Preining
Zandvoort IMaro EngelLandgraf-Mercedes Maro Engel
Zandvoort IIRicardo FellerAbt-Audi Ricardo Feller
Norisring ISheldon van der LindeSchubert-BMW Sheldon van der Linde
Norisring IIThomas PreiningManthey-PorscheRene Rast
Nürburgring IMirko BortolottiSSR-Lamborghini Mirko Bortolotti
Nürburgring IIMaximilian PaulGRT-LamborghiniRicardo Feller
Lausitzring IJack AitkenEmil-Frey-Ferrari Jack Aitken
Lausitzring II Mirko Bortolotti SSR-Lamborghini Mirko Bortolotti