Liam Lawson darf sich berechtigte Hoffnungen machen, als jüngster Champion in die über 30-jährige Geschichte der DTM einzugehen. Mit seinen erst 19 Jahren würde er im Erfolgsfall Pascal Wehrlein ablösen, dem dieses Kunststück 2015 im Mercedes im Alter von 20 Jahren und 364 Tagen gelang. Die Voraussetzungen stehen gut: Lawson reist als Spitzenreiter zum erstmaligen Saisonfinale auf dem Norisring (08.-10. Oktober 2021).

Mit 206 Punkten führt der junge Neuseeländer die Tabelle mit 14 Zählern Vorsprung auf den Zweitplatzierten Kelvin van der Linde (Abt-Audi) an: "Das wird das wichtigste Wochenende meiner bisherigen Karriere." Der Gesamtdritte Maximilian Götz (180 Punkte) und Marco Wittmann (165 Punkte) auf dem vierten Platz weisen nach dem Hockenheim-Event am vergangenen Wochenende einen deutlichen Abstand auf.

Lawson steht auf dem ihm völlig unbekannten Nürnberger Stadtkurs - auf dem zuletzt und einmalig 2008 GT3-Rennen ausgetragen worden sind - allerdings eine spezielle Herausforderung bevor. Mit dem 27-jährigen Nick Cassidy erhält der Titelfavorit einen neuen Teamkollegen bei der Ferrari-Mannschaft von AF Corse.

Sein bisheriger Wegbegleiter und Rennsieger Alex Albon muss stattdessen als Test- und Ersatzfahrer von Red Bull beim Formel-1-Rennen in Istanbul auf der Ersatzbank Platz nehmen. Schon vor Saisonbeginn stand fest, dass die F1 bei Überschneidungen Priorität genießt, doch bei den bisherigen zwei Terminkollisionen erhielt Albon die Freigabe zum DTM fahren. Rechnerisch ist der Thailänder inzwischen raus aus dem DTM-Titelkampf, zuletzt sollte er Lawson unterstützen.

Die Entscheidung, die drei Tage vor dem Auftakt des Norisring-Wochenendes offiziell kommuniziert worden ist, sei laut Red-Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko nicht leicht gefallen. Fakt ist aber: Eine Hilfe wird das Lawson im Kampf gegen van der Linde und Co. sicherlich nicht sein.

Nick Cassidy startete 2021 erstmals in der Formel E und erzielte zwei Podestplätze sowie zwei Poles, Foto: LAT Images
Nick Cassidy startete 2021 erstmals in der Formel E und erzielte zwei Podestplätze sowie zwei Poles, Foto: LAT Images

Cassidy: Kaum Erfahrung im Ferrari 488 GT3

Sein neuseeländischer Landsmann Cassidy gilt zwar als höchst talentierter Allrounder und avancierte in Japan mit Titelgewinnen in der Super GT - dem Pendant zur Class-1-DTM - sowie in der Super Formula zum Superstar, kennt den Ferrari 488 GT3 aber kaum. Beim Vorsaison-Test am Lausitzring spulte er an seinem einzigen Tag 92 Runden ab.

2019 startete Cassidy beim 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps in einem italienischen Sportwagen des Teams HubAuto, saß nach einem frühen Unfall im Rennen aber keine einzige Runde am Steuer. Später im Jahr beim 10-Stunden-Rennen von Suzuka konnte Cassidy - der dabei einen spektakulären Unfall fabrizierte - ebenfalls nur wenige Runden drehen.

"Cassidy ist nicht viele GT3-Rennen gefahren, ist aber ein alter Hase und kennt verschiedene Autos", sagte Titel-Herausforderer Götz. "Ich glaube, dass er schnell bei der Pace ist. Vielleicht spielt es uns in die Karten, dass das Team dadurch ein bisschen geschwächt ist. Die beiden müssen zusammen das Setup entwickeln. Wir haben da mehr Möglichkeiten und mehr Fahrzeuge am Start. Durch den Datenaustausch finden wir hoffentlich schnell ein gutes Setup, das kann ein Vorteil sein für uns als Marke."

Lawson: Alle waren gegen uns

"Ich habe viel von Alex gelernt", sagte Lawson über den Formel-1-Rückkehrer. "Aber ich freue mich darauf, Nick dabei zu haben. Er kennt den Norisring und ich denke, dass er mir helfen kann. Vor allem auf einer Strecke, wo ich das gut brauchen kann."

Während er selbst absolutes Neuland betritt, kann Cassidy auf seine Erfahrungen aus der früheren DTM-Rahmenserie F3 Euro Series/Formel-3-EM zurückgreifen. 2013 startete er erstmals auf dem Norisring, 2016 in seiner einzigen vollen F3-Saison erneut, für Top-Team Prema unter anderem an der Seite des späteren Meisters Lance Stroll und Vize-Champion Maximilian Günther.

Doch wie sehr kann DTM-Neuling Cassidy seinen Teamkollegen im Titelkampf unterstützen? Zahlenmäßig ist das einzige Ferrari-Team im Feld ohnehin unterlegen, während Mercedes-Teams mit sieben Autos und Audi-Mannschaften mit sechs Boliden anrücken. Lawson: "Vor allem in Hockenheim hatten wir zeitweise das Gefühl, dass wir alle anderen Hersteller gegen uns haben, vor allem Audi und Mercedes. In Hockenheim haben sie ihre Teamkollegen genutzt, um uns hinter sich zu halten."

Ganz heißes DTM-Thema: Erfolgsballast

Das war in der Saison 2021 keine einfache Aufgabe, schließlich gilt der von Red Bull unterstützte Ferrari als bester Allrounder im Feld. In Spielberg gelang es Lawson als einzigem Fahrer, einen Doppelsieg am Wochenende einzufahren - trotz des Erfolgsballasts von 25 Kilogramm im Sonntags-Rennen! Auch am Lausitzring sowie zweimal in Assen schaffte es GT3-Novize Lawson trotz Zusatzgewicht aufs Podest.

"Ein kontroverses Thema, ich will nicht zu sehr darüber sprechen", wollte Titelanwärter van der Linde sich nicht die Zunge an dieser im Fahrerlager heiß diskutierten Angelegenheit verbrennen. Götz hatte da weniger Scheu: "25 Kilo tun uns weh, Audi und BMW auch. Das soll ja auch so sein. Und ich glaube, dem Ferrari scheint es nicht so weh zu tun."

Van der Linde, der den Norisring nur von seinem Meister-Jahr 2013 im VW Scirocco Cup kennt, erwartete zumindest kein einfaches Samstagsrennen für Lawson, schließlich muss er nach P2 in Hockenheim 18 Kilo Erfolgsballast zuladen. Das Mehrgewicht kommt allerdings nur in den Rennen zum Tragen, nicht in den Qualifyings.

"Liam stand trotz Zusatz-Kilos mehrfach auf dem Podium oder hat gewonnen", so van der Linde. "Aber der Norisring ist eine Strecke, auf der Ballast den größten Effekt hat. Ich denke, dass er am Samstag in Schwierigkeiten gerät und hoffe, dass wir zur Stelle sind, wenn es soweit ist. Ich gehe mit einem sehr positiven Gefühl ins Wochenende, habe nichts zu verlieren und unserem Auto sollte die Strecke liegen."