Mit den beiden Ferrari 488 GT3 von AF Corse ist das Starterfeld-Puzzle der DTM 2022 vollständig. Das Ferrari-Werksteam samt Sponsor Red Bull ließ sich lange Zeit, um die Rückkehr in die deutsche Traditionsserie offiziell zu verkünden. Am Mittwoch dieser Woche war es dann soweit: DTM-Rookie Felipe Fraga und Motorsport-Allrounder Nick Cassidy besetzen die beiden Italo-Sportler, wobei der Neuseeländer mindestens zwei DTM-Rennwochenenden wegen Überschneidungen mit seinem Formel-E-Programm verpassen wird.

Die Wahl der Fahrer beim amtierenden DTM-Teammeister dürfte einige Beobachter und Fans überrascht haben. Den Brasilianer Felipe Fraga kennen hierzulande höchstens Motorsport-Insider. 2015 startete der 26-Jährige erstmals bei den 24 Stunden von Spa-Francorchamps, 2016 gewann er die Brasilianische Stock-Car-Meisterschaft und trat seitdem in unterschiedlichen Kategorien und Rennserien an, meist auf Mercedes-AMG GT3 der Teams AKKA und Riley.

Fraga hat noch kein einziges international relevantes Rennen in einem Ferrari 488 GT3 bestritten, den AF Corse 2022 ein letztes Mal unter anderem in der DTM einsetzt, bevor Ferrari 2023 einen GT3-Nachfolger bringt. AF-Corse-Sportdirektor Ron Reichert war allerdings überzeugt, ein starkes Fahrer-Lineup für die zweite Saison in der DTM parat zu haben.

"Felipe ist bei Vielen ein bisschen unter dem Radar durchgeschwommen", sagte Reichert in einem von von Red Bull veröffentlichten Video-Interview. "Er wird aber eine super Performance leisten. Er fährt in Amerika und Brasilien und ist dort superstark. Er wird auf jeden Fall hier ganz stark und vorne mit dabei sein."

AF Corse: "Offene Rechnung mit der DTM"

Dass AF Corse in der Lage ist, auch Ferrari-GT3-Novizen schnell auf Pace zu bringen, hat der berühmte Rennstall 2021 mit Liam Lawson und Alex Albon bewiesen. Die beiden Stammfahrer der vergangenen Saison starteten praktisch ohne GT3-Erfahrung in der DTM und bescherten dem Team auf Anhieb die Team-Meisterschaft. Beim denkwürdigen und vieldiskutierten Finale auf dem Norisring verpasste Lawson den schon fast sichergeglaubten Fahrer-Titel denkbar knapp.

"Wir haben noch eine offene Rechnung in dieser Meisterschaft, das ist offensichtlich", sagte Reichert, der die Vorgänge rund um Kelvin van der Lindes Turn-1-Angriff auf Lawson und die Mercedes-Stallorder am Norisring 2021 als eine 'Schande für den Sport' bezeichnet hatte. "Dieses Jahr wollen wir beide Titel holen. Das Ziel ist ganz klar, beides zu schaffen." Außer Reichweite ist nur die Marken-Meisterschaft: Ferrari bildet mit zwei Autos das kleinste Kontingent im Feld der sechs Hersteller.

Foto: Red Bull
Foto: Red Bull

Cassidy: Kaum DTM-Titelchancen 2022

Während Fraga zunächst eine Unbekannte im GT3-Ferrari und in der DTM bleibt, gilt Teamkollege Cassidy mit seinem Potenzial zumindest theoretisch als Titelanwärter. Der Neuseeländer gehört seit Jahren zu den besten Sportwagenpiloten der Welt und war auch in Kategorien wie der Super Formula oder aktuell der Formel E erfolgreich.

Cassidys DTM-Problem: Er verpasst mindestens zwei Rennwochenenden wegen der Formel E, möglicherweise noch ein drittes wegen einer Überschneidung mit der WEC, in der er ebenfalls für AF Corse antritt und um die GT-Weltmeisterschaft kämpft. Bei mindestens vier verpassten Rennen inklusive des Saisonstarts in Portimao und dem Norisring-Event kann Cassidy den DTM-Titel in diesem harten Wettbewerb eigentlich schon jetzt abschreiben. Sein Ersatzmann, der zumindest beim Kampf um die DTM-Teammeisterschaft helfen kann, steht noch nicht fest.

"Bei Nick hat jeder am Norisring gesehen, dass er ins Auto steigt und direkt vorne mit dabei ist", sagte Reichert. "Ein sensationell schneller Mann. Dieses Jahr ist er noch mehr für uns im Ferrari unterwegs, deshalb haben wir hohe Erwartungen. Er wird auf jeden Fall ganz oben mit dabei sein."

Lawson: Dankbar für DTM-Erfahrung

Cassidys halbgares DTM-Programm zeigt deutlich, wie schwer sich Red Bull als wichtiger Partner des Projekts bei der Fahrerwahl getan hat. Die zahlreichen und talentierten Junioren sind allesamt für die FIA Formel 2 und Formel 3 verplant, ein Doppelprogramm wie 2021 bei Lawson war wegen zahlreicher Terminkollisionen nicht durchführbar.

Lawson fokussiert sich dieses Jahr voll auf die Formel 2 und soll mit Testfahrten langsam an die Formel 1 herangeführt werden. Beim Saisonauftakt in Bahrain fuhr der Neuseeländer zweimal aufs Podium. "Ich bin sehr dankbar, dass ich letztes Jahr in der DTM fahren konnte", sagte Lawson im Anschluss. "Ich habe dort sehr viel gelernt. Es war aber natürlich hart, parallel in der Formel 2 zu fahren und zwischen den Autos zu wechseln. Jetzt ist es schön, dass ich mich auf eines fokussieren kann."

Red-Bull-Berater Dr. Helmut Marko hatte Gefallen an der Idee gefunden, Nachwuchspiloten aus dem erfolgreichen Junior-Team in der DTM einzusetzen. Fraga und Cassidy zählen seit einer Weile zum Kader der sogenannten Red-Bull-Athleten, die in ganz unterschiedlichen Sportarten unterstützt werden. Ein Ferrari-Werksfahrer kommt in der DTM nicht zum Zuge.

Foto: Red Bull
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Cassidy: Kenne Fraga nicht so gut

"Ich freue mich, wieder in der DTM zu sein", sagte Cassidy, der beim Norisring-Finale für Formel-1-Rückkehrer Alex Albon eingesprungen war und 2019 auch Teil der Show-Rennen zwischen DTM und Super GT war. "Ich fahre fast die ganze Meisterschaft. Das wird wahnsinnig geschäftig, aber ich liebe das. Ich bin Rennfahrer und will Rennen fahren. Wir sind alle hier, um zu gewinnen und mit Red Bull und Ferrari wollen wir ganz nach oben."

In der DTM seien laut Cassidy die besten GT-Fahrer der Welt am Start. Über Teamkollege Fraga wusste der Kiwi bislang nur wenig zu berichten: "Ich kenne Felipe nicht so gut. Ich habe aber gehört, dass er superschnell ist und freue mich auf die Zusammenarbeit." Unterdessen fand Fraga ebenso lobende Worte für seinen Teamkollegen: "Es wird hart gegen ihn. Es ist aber immer gut, einen schnellen Teamkollegen zu haben, um zu lernen, Daten abzugleichen und das Team voranzubringen."

Die DTM sei für Fraga "ein Traum und eine große Herausforderung", der die Hoffnung in jungen Jahren auf einen Formel-1-Einstieg abgelöst hat: "Als ich Red-Bull-Athlet wurde, habe ich immer überlegt, eines Tages vielleicht in die DTM zu kommen. Ich habe die letzten zwei, drei Jahre mit Red Bull gesprochen und dann starteten sie mit einem Team in der DTM. Und jetzt bin ich hier! Eine tolle Überraschung, das hatte ich nicht erwartet."

DTM-Debütant Felipe Fraga, Foto: Red Bull
DTM-Debütant Felipe Fraga, Foto: Red Bull

AF Corse mit zwei neuen Ferrari 488 in der DTM

In der DTM-Saison 2022 können Fraga und Cassidy auf feinstes Material zurückgreifen. AF Corse bringt zwei nagelneue Ferrari 488 GT3 an den Start. "Wir haben zwei neue Autos", bestätigte Reichert. "In einer Meisterschaft wie der DTM gibt es nichts Besseres, als neueste Materialien zu verwenden. Ansonsten haben wir die gleichen Mechaniker und Ingenieure."

Dabei büßt das Team einen Vorteil aus dem Vorjahr ein. Die Boxenstopp-Choreographie, mit der AF Corse zu Beginn der Saison 2021 die versammelte Konkurrenz geplättet hatte, ist unter dem neuen Sportlichen Reglement nicht mehr möglich. Dieses Jahr müssen an allen Autos zuerst die Hinterräder getauscht werden, ein Wechsel zwischen beiden Achsen ist nicht mehr erlaubt. Ferrari und mit etwas Anlauf auch Mercedes profitierten letztes Jahr von einem speziellen Radnuss-System, das eine solche Choreographie überhaupt erst ermöglichte.

Reichert: "Der Wettbewerb wird noch härter umkämpft als letztes Jahr. Es wird keine so riesigen Überraschungen mehr geben wie bei den Boxenstopps. Die Sachen wurden ausgemerzt. Ich denke, ab dem ersten Rennen werden alle bei der Pace direkt zusammen sein und hart kämpfen. Die AVL hat letztes Jahr einen guten Job gemacht. Ich gehe davon aus, dass das wieder der Fall sein wird. Jedes Auto hat seine Stärken und Schwächen auf verschiedenen Rennstrecken. Das wird sich über das Jahr hinweg ausgleichen."