Es war irgendwie bezeichnend für die DTM-Saison 2022 des Ferrari-Werksteams AF Corse: Beim letzten Rennen des Jahres auf dem Hockenheimring stand keiner der beiden 488 GT3 des Red-Bull-Partnerteams mehr in der Startaufstellung. Nick Cassidy erlitt schon im Samstagsrennen einen technischen K.o., nachdem ihm Dennis Olsens Porsche-Motor in die Fahrertür gerauscht und das Auto irreparabel war. Teamkollege Felipe Fraga verunfallte wenig später im Qualifying am Sonntagmorgen heftig - keine Chance auf den nachfolgenden Rennstart.

2021 gewann AF Corse beim DTM-Debüt auf Anhieb die Team-Meisterschaft und schrammte mit Liam Lawson nur um ein Haar am Fahrer-Titel vorbei. 2022 musste sich der ambitionierte Rennstall um den deutschen Sportdirektor Ron Reichert mit dem siebten Platz in der Tabelle begnügen. Der Rückstand auf Team- und Fahrer-Champion Schubert-BMW betrug am Ende 97 Punkte. Bestplatzierter aller Ferrari-Piloten war der Neuseeländer Cassidy auf Platz 13, Teamkollege Fraga kam nicht über P16 hinaus.

AF Corse in der DTM: Ergebnisse nur die halbe Wahrheit

Mit einem Blick auf die reinen Ergebnisse müsste man unweigerlich zu der Feststellung kommen, dass AF Corse im Vergleich zu 2021 eine Katastrophen-Saison im zweiten DTM-Jahr hingelegt hat. Wie so häufig im Motorsport, ist das allerdings nur die halbe Wahrheit. "Es ist sehr schön, zu sehen, dass unsere beiden Autos so konkurrenzfähig waren", blickte Reichert gegenüber Motorsport-Magazin.com zurück. "Gleichzeitig wird gerne schnell vergessen, dass viele andere Faktoren reingespielt haben."

So darf der DTM-Debütant Fraga sicherlich als der größte Pechvogel der Saison 2022 bezeichnet werden. Der Red-Bull-Athlet, den in Europa kaum jemand auf dem Schirm hatte und den Reichert vor dem ersten Rennen als Titelkandidaten angepriesen hatte, blickt auf eine schier unfassbare Pleitenserie zurück: In 9 von 16 Saisonrennen sah er nicht die Zielflagge oder konnte gar nicht erst an den Start gehen.

Vor dem selbstverschuldeten Hockenheim-Crash musste Fraga bereits ein Rennen auf dem Lausitzring auslassen, weil ihm im Qualifying plötzlich der Ferrari abgefackelt war. In sieben weiteren Rennen fiel der Brasilianer vorzeitig durch Technik-Probleme, Reifenschäden oder zumeist unverschuldete Kollisionen aus.

Abgefackelt: Felipe Fragas Ferrari am Lausitzring, Foto: LAT Images
Abgefackelt: Felipe Fragas Ferrari am Lausitzring, Foto: LAT Images

Felipe Fraga: "Mehr Punkte verloren als gewonnen"

Sieben Nicht-Ankünfte allein in den ersten neun Saisonrennen - eine dramatische Zwischenbilanz, die sich noch trauriger liest, wenn man Fragas Qualifying-Ergebnisse betrachtet: In den ersten neun Qualifyings der Saisons schaffte er es sechs Mal in die Top-6 der Startaufstellung. Eine überragende Leistung, die nicht nur der Allrounder-Stärke des Ferrari 488, sondern vor allem Fragas Talent geschuldet war. Seinem einzigen Sieg am Norisring folgte beim nächsten Event auf dem Nürburgring gleich der nächste Ausfall...

Reichert: "Egal, wie viel Pech wir und die Fahrer hatten, sind wir daraus immer stark hervorgegangen. Wir haben nie die Motivation verloren. Felipe hatte unfassbar viel Pech. Seine Ausfälle waren nahezu nie selbstverschuldet. Er wurde häufig in Top-Positionen liegend von Mitstreitern aus dem Rennen genommen. Er hat in der Hochrechnung wahrscheinlich mehr Punkte verloren als er gemacht hat. Das hat ihn aus dem Meisterschaftskampf genommen."

Cassidy: Schon vor Saisonbeginn keine Titelchancen

Kaum weniger turbulent ging es auf der anderen Seite der Garage von AF Corse zu, das unter anderem die Werkseinsätze von Ferrari in der WEC betreut und ab 2023 auch das brandneue Le-Mans-Hypercar einsetzen wird. Rallye-Legende Sebastien Loeb, Nachwuchspilot Ayhancan Güven und schließlich der eigentliche Stammfahrer Nick Cassidy: Beim blau-weißen Ferrari 488 GT3 des Teams herrschte gefühlt mehr Rotation als im Turbolader des Sportwagens...

Weil Red Bull als entscheidender Hauptsponsor nach den Vorfällen rund um Liam Lawson beim Norisring-Finale 2021 erst spät die Fortsetzung des DTM-Programms bekanntgab, standen viele Top-Piloten schon längst nicht mehr zur Verfügung. Und weil Cassidy die Priorität auf sein Formel-E-Programm mit Envision-Audi setzte bzw. setzen musste, war schon vor dem Saisonbeginn klar gewesen, dass er durch einige verpasste Rennen keine Chancen auf den DTM-Titel haben würde.

Der 28-Jährige, der in Japan wegen seiner dortigen Erfolge als Superstar gefeiert wird, verpasste den Saisonauftakt in Portimao sowie das Saisonhighlight auf dem Norisring. An seinen ersten drei Rennwochenenden mit dem ihm eher unbekannten GT3-Ferrari am Lausitzring, in Imola und dem Nürburgring gelangen Cassidy höchstens Achtungserfolge wie zwei Top-8-Ergebnisse in Qualifyings und ein siebter Platz im Eifel-Rennen.

Heißes Spa-Duell: Nick Cassidy gegen Rene Rast, Foto: DTM
Heißes Spa-Duell: Nick Cassidy gegen Rene Rast, Foto: DTM

Cassidy beschert Ferrari 488 GT3 den 500. Sieg

Dass Cassidy unter Motorsport-Experten seit Jahren zu den absoluten Top-Fahrern zählt, konnte er in der DTM erst spät mit konkreten Resultaten untermauern: In seinem achten Saisonrennen in Spa-Francorchamps fuhr er vom dritten Startplatz zum ersten DTM-Sieg. Beim nachfolgenden Event auf dem Red Bull Ring - dem 'Heimspiel' des Teams - überragte Cassidy mit einer Pole Position (durch Strafe gegen Rene Rast geerbt) sowie einem zweiten Startplatz in den Qualifyings und ließ im Samstagsrennen den nächsten Rennsieg folgen - den 500. weltweit für einen Ferrari 488 GT3.

"Nick hatte einen wahnsinnig schwierigen Einstand, weil er den Saisonauftakt verpasst hat und am Anfang häufiger auf Strecken unterwegs war, die unserem Auto nicht am besten liegen", bilanzierte Reichert. "Deswegen hatte er eine schwierige Zeit. Er hat sich aber immer gut mit dem Team auseinandergesetzt. In Spa und Spielberg konnte er sein Können dann unter Beweise stellen und allen zeigen, dass er jetzt auch ein DTM-Sieger ist."

Ron Reichert mit Nick Cassidy, Foto: Red Bull Content Pool
Ron Reichert mit Nick Cassidy, Foto: Red Bull Content Pool

Loeb und Güven ins kalte Wasser geworfen

Aus Reicherts Sicht sehr positiv: Die kurzfristige Integration der Cassidy-Ersatzfahrer, namentlich Loeb in Portimao und Güven am Norisring. Weder der neunmalige Rallye-Weltmeister - Loebs Start war ein echter Coup für die DTM - noch der eigentlich an Porsche gewohnte Güven hatten ausreichend Zeit, sich auf den AF-Corse-Ferrari einzuschießen.

Ausnahme-Rennfahrer Loeb erreichte in den Portugal-Rennen die Plätze 16 und 18 (Startplätze 21 & 27) und verblüffte die Motorsportwelt einmal mehr mit seinen Allrounder-Fähigkeiten. Güven überzeugte am Norisring mit den Startplätzen drei und sieben und nahm nach seinem Ausfall am Samstag im Sonntagsrennen als Siebter immerhin Punkte mit.

DTM-Debütant und Mega-Star: Sebastien Loeb, Foto: LAT Images
DTM-Debütant und Mega-Star: Sebastien Loeb, Foto: LAT Images

AF Corse in der DTM 2022: "Riesen-Höhen, Riesen-Tiefen"

Freilich waren die Cockpitwechsel alles andere als förderlich für AF Corse, um das Projekt 'Titelverteidigung' in Angriff zu nehmen. Da muss es schon als Erfolg betrachtet werden, dass das Team sogar als Dritter der Team-Meisterschaft zum Hockenheim-Finale reiste. Die Nullrunde im badischen Motodrom inklusive zweier Totalausfälle trübte die Bilanz in der Endabrechnung deutlich.

Reichert: "Wir hatten Riesen-Höhen und Riesen-Tiefen in diesem Jahr. Aber alles in allem muss man sagen, dass wir als Team sehr gut zusammengearbeitet, einen Top-Job gemacht und niemals aufgegeben haben. Dafür habe ich eine große Bewunderung. Deshalb sind für mich die ganzen positiven Themen viel wichtiger als die Negativ-Faktoren." Wie es mit AF Corse bzw. Geldgeber Red Bull in der DTM-Zukunft weitergeht, ist noch nicht bekannt. Die Einschreibungen für die Saison 2023 beginnen im November.