Vieles ist neu in der DTM 2021, doch in mindestens einer Beziehung wiederholt sich die Geschichte: Marco Wittmann sticht wieder einmal hervor im BMW-Lager. So wie er schon in seinen Meisterjahren 2014 und 2016 sowie 2017, 2018 und 2019 jeweils der bestplatzierte DTM-Fahrer des Autobauers aus München war, schickt sich Wittmann auch dieser Saison an, die Favoritenposition einzunehmen.

Eine Rolle, mit der nicht einmal der 31-Jährige selbst vor dem Auftakt in die erste DTM-Saison mit den GT3-Autos nach dem Ende der Class-1-Ära gerechnet hatte. Im Gespräch mit Freunden und Familie hatte Wittmann vor dem ersten Rennen im italienischen Monza die Erwartungshaltung gedämpft. Zu sehr schienen die sportlichen Zeichen gegen den Fürther zu stehen: Mit dem BMW M6 GT3 nahm er nicht nur in einem Auslaufmodell Platz, sondern auch in einem Auto, das seit seiner Einführung 2016 bei Sprintrennen der GT3-Konkurrenz meist unterlegen war.

Obendrein ein Fahrzeug, das Wittmann fast ausschließlich von wenigen Langstreckeneinsätzen auf der Nordschleife, in Spa, Daytona oder Bathurst kannte. Und als ob all das noch nicht gereicht hätte, musste er als 'Einzelkämpfer' beim in Sprintrennen unerfahrenen Team Walkenhorst Motorsport an den Start gehen, während das zweite BMW-Team in der DTM, ROWE Racing, mit Timo Glock und Sheldon van der Linde doppelt so viele Daten an den Rennwochenenden sammeln kann.

Was nach vier Rennwochenenden zur Halbzeit der DTM-Saison 2021 wohl niemand erwartet hätte: Wittmann belegt hinter Titelanwärter Kelvin van der Linde (Abt-Audi, 129 Punkte) und GT3-Ass Maximilian Götz (HRT-Mercedes, 96 Punkte) mit 94 Zählern den dritten Platz in der Meisterschaft! Zumindest nach dem kommenden Rennwochenende auf dem Red Bull Ring (03.-05. September 2021), der als BMW-freundliche Strecke gilt, könnte Wittmann seine überraschende Rolle als Titelaspirant festigen.

Wittmann: Jedes DTM-Rennen in den Top-8

Dabei rätselt die DTM kollektiv, wie sich Wittmann in diese Position bringen konnte. Simpel ist nur der Blick auf die nackten Zahlen: In Zolder errang Wittmann seinen ersten Saisonsieg, am Sonntag auf dem Nürburgring fuhr er zu seinem zweiten Podestplatz. Neben Lucas Auer gelang es nur Wittmann, in jedem der bisherigen acht Rennen zu punkten. Und trotz zu Beginn der Saison oftmals schlechten Qualifying-Ergebnissen schloss er jeden Lauf innerhalb der Top-8 ab.

Vor allem die Zahlen aus den vergangenen vier Rennen sind verblüffend: Wittmann errang mit 66 Punkten die meisten aller Fahrer (Van der Linde: 60, Götz: 50), fuhr dreimal auf den dritten Startplatz und feierte in Zolder gar einen Start/Ziel-Sieg. In den ersten vier Rennen der Saison in Monza sowie auf dem Lausitzring war er hingegen nicht über 28 Zähler hinausgekommen.

ROWE-Duo: Halb so viele Punkte wie Wittmann allein

Nun könnte man leicht auf die Idee kommen, die Balance of Performance als Hauptursache für Wittmanns starke Resultate auszumachen. Ist der in die Jahre gekommene und bei Kundenteams nicht allzu beliebte BMW M6 im Vergleich zum Wettbewerb vorteilhaft eingestuft? Eine genaue Analyse ist nicht möglich, da die DTM-Dachorganisation ITR weiterhin die von AVL erstellten BoP-Daten auch auf Nachfrage unterschiedlicher Journalisten unter Verschluss hält.

Was gegen diese Theorie spricht: Die BoP gilt stets für alle Fahrzeuge einer Marke, damit auch für die beiden baugleichen ROWE-BMW von Glock und van der Linde. Und es kann kaum Zufall sein, dass die Piloten des Erfolgsrennstalls aus St. Ingbert zusammen genau halb so viele Zähler erzielt haben wie Wittmann allein! Der als Riesen-Talent geltende van der Linde sammelte 42 Punkte, Ex-Formel-1-Pilot Glock holte nach zuvor sieben punktelosen Rennen zuletzt am Nürburgring als Siebter seine allerersten 6 Meisterschaftszähler.

Wittmann ist einmal mehr die Messlatte im BMW-Lager, Foto: DTM
Wittmann ist einmal mehr die Messlatte im BMW-Lager, Foto: DTM

Wittmann im wichtigen Qualifying erstarkt

Gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Gerüchte in der Szene, dass die DTM-Prototypen von BMW in der Entwicklung vor allem auf Wittmanns Fahrstil zugeschnitten waren und sich Markenkollegen schwer mit dem Umgang taten, können derartige Spekulationen im Zuge der nun eingesetzten GT3-Kundenautos keine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund muss also gelten: Wittmann und Walkenhorst gelingt aktuell die Beherrschung des BMW M6 GT3 unter dem Sprintformat der DTM deutlich besser als van der Linde, Glock und ROWE auf der Gegenseite.

Letztgenannte tun sich vor allen in den wichtigen Qualifyings schwer. Wichtig, weil Überholmanöver mit GT3-Boliden auf vielen Strecken einem kleinen Kunststück gleichkommen und gerade im dichten Mittelfeld bis auf den letzten Splitter reingehalten wird. Van der Lindes Pole Position auf dem Lausitzring (P9 im Rennen) bildete eine positive Ausnahme: Bei insgesamt 16 Qualifyings schafften es der Südafrikaner und Glock nur dreimal in die ersten drei Startreihen.

"Ich weiß nicht, warum die ROWE-Autos weiter hinten sind, die hatten sicherlich auch etwas Pech", sagte Wittmann, der seit 2018 bei den 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring und in Spa für die Truppe um Teamchef Hans-Peter Naundorf antritt. "Wir selbst hatten an den ersten beiden Wochenenden Probleme mit dem Qualifying, seit Zolder ist uns ein Fortschritt gelungen. Das ist eine Teamleistung."

Wie wichtig ist das Kerb-Riding?

Ein Schlüssel für Wittmanns Leistungen könnte im Fahrstil und beim sogenannten 'Kerb-Riding' liegen, einem Begriff, der bislang keine übergeordnete Rolle im Motorsport spielte. Gemeint ist damit die Art und Weise, wie ein Fahrer mit seinem Auto an bestimmten Teilen der Strecke über die Kerbs räubert. Anfahrwinkel und Geschwindigkeit sind dabei ebenso entscheidend wie die Aggressivität, mit der ein Pilot über die Streckenerhöhungen fährt, um sich einen Vorteil zu verschaffen.

Vor allem die arrivierten DTM-Piloten mussten sich an die veränderte Fahrweise gewöhnen. Mit den Prototypen galt es, die Kerbs nach Möglichkeit zu vermeiden, um keinen größeren Schaden am Auto zu verursachen. "Mit dem GT3 musst du auch mal über die Kerbs drüberholzen", erklärte der langjährige DTM-Pilot und heutige Winward-Mercedes-Fahrer Lucas Auer bei Motorsport-Magazin.com. "Erstens spart's Meter, zweitens kannst du früher aufs Gas, weil du die Linie gerade machst und drittens kann das Auto das ab."

Eine Disziplin, die vor allem auf dem Circuit Zolder mit seinen zwei Schikanen und auch auf dem Nürburgring mit der NGK-Schikane zum Tragen kam. Beides Strecken, die dem BMW M6 mit seinem vergleichsweise langen Radstand von 2.901 Millimetern in der Theorie überhaupt nicht liegen. In engen Kurven kann das Auto nicht gut rotieren und auf den kurzen Geraden kann es seinen Topspeed-Vorteil nicht ausspielen. Umso überraschender kam Wittmanns Zolder-Sieg, wenngleich ihm der durch Timo Glock ausgelöste Abbruch des Qualifyings samt glücklicher Pole Position zumindest nicht geschadet hat.

"Wir sind auch Wege gegangen, die auf keiner andere Strecke funktionieren", erklärte Walkenhorst-Teammanager Niclas Königbauer nach dem Zolder-Coup im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com. "Mit dem Setup hat man verschiedene Möglichkeiten und wir haben versucht, es so hinzutrimmen, dass man auch im ersten Sektor mit doch eher schnelleren Kurven einigermaßen überlebt."

Beim Kerb-Riding kommt Marco Wittmann gut zurecht, Foto: DTM
Beim Kerb-Riding kommt Marco Wittmann gut zurecht, Foto: DTM

Kerb-Riding: Ritt auf der Rasierklinge

Das Kerb-Riding scheint ein Ritt auf der Rasierklinge zu sein. Wittmann hätte im Zolder-Samstagsrennen auf dem Weg zum fünften Platz beinahe nicht die Ziellinie gesehen. Ein durch das hart über die Kerbs fahren ausgelöster Kühler-Volldefekt bahnte sich an. "Wir waren an der Obergrenze", bestätigte Wittmann, der sich im folgenden Sonntagsrennen als Führender breit machen und das Material belastende Kerb-Riding reduzieren konnte.

Möglicherweise führte das Kerb-Riding auch zu Glocks angesprochenem Defekt im Zolder-Qualifying, als er seinen BMW wegen einer gebrochenen Antriebswelle auf der Strecke abstellte. Denn: Beim Überfahren der Kerbs kann die Antriebswelle stark belastet werden, wenn die Räder kurzzeitig ohne Kontakt zum Asphalt in der Luft drehen und dadurch ein gewisser Schlupf entsteht.

Die Belastung für das Auto kann beim Kerb-Riding enorm sein, wie sich auch in plötzlich geöffneten Motorhauben zeigte. In Zolder ging bei Glocks BMW der Deckel leicht auf, auf dem Nürburgring erwischte es dann Wittmann. "In den letzten vier, fünf Runden war meine Motorhaube etwas lose, deshalb musste ich das Kerb-Riding vermeiden", erklärte Wittmann seine Fahrt aufs Podest. "Deshalb habe ich etwas Pace rausgenommen, hatte es aber unter Kontrolle."

BMW am Red Bull Ring: Sieg muss her

Wenn es Wittmann schon auf Strecken wie Zolder und dem Nürburgring gelang, die Big Points einzusacken, was ist dann erst kommendes Wochenende auf dem Red Bull Ring - seinem Lieblingskurs drin? Die 4,318 Kilometer lange Berg- und Talbahn mit sieben Rechts- sowie drei Linkskurven ist auf dem Papier wie gemacht für den nur in langsamen Ecken behäbigen BMW M6 GT3, der in Spielberg zudem mit seinem Topspeed punkten kann.

Dass der BMW im relativ vergleichbaren ADAC GT Masters seit 2019 drei Rennen auf dem Red Bull Ring gewinnen konnte, gibt auch der ROWE-Mannschaft Auftrieb. "Es ist die Strecke, auf die wir uns das ganze Jahr über gefreut haben, und wahrscheinlich unsere größte Chance, zu gewinnen", sagte van der Linde forsch und mit Vorfreude auf die schnellen Kurven im zweiten Streckenabschnitt.