Gebrochene Knochen, durchtrennte Muskeln, Gehirnerschütterungen, Monate im Rollstuhl - Simon Crafars Krankenakte reicht für mehrere gewöhnliche Menschenleben. Der 500ccm-Grand-Prix-Sieger weiß, was es bedeutet, verletzt zu sein. Und mit diesen Verletzungen dennoch Rennen zu fahren. Die MotoGP-Gegenwart ist voll mit Fahrern, die mit ihren geschundenen Körpern Dinge vollbringen, die man sich als Ottonormalverbraucher kaum ausmalen kann: Pol Espargaro fährt kurz nach einem Handgelenksbruch, Joan Mir mit gequetschter Lunge und Jorge Lorenzo überhaupt seit einem Jahr praktisch durchgehend verletzt. Für Motorsport-Magazin.com erklärt Simon Crafar die Gefühlswelt eines lädierten Piloten, die Blockaden nach einem schweren Unfall und die Faktoren für eine Karriere ohne ständige Besuche im OP-Saal.

MSM: Simon, du musstest in deiner Laufbahn zahlreiche Verletzungen wegstecken. 2009 konntest du etwa mehrere Monate nicht richtig gehen, nachdem du in der Vorbereitung auf das Hard Enduro 'Red Bull Romaniacs' von einem Auto überfahren wurdest und schwere Rückenverletzungen erlitten hast. Welche Verletzung war für dich die prägendste?
SIMON CRAFAR: Bei Gehirnerschütterungen habe ich mich immer am nächsten Tag schon wieder gutgefühlt. Die Rückenverletzung war zwar sehr schlimm, aber das war ja nach meiner eigentlichen Karriere. Wirklich prägend war für mich deshalb das WSBK-Wochenende 1997 in Spielberg, als mich Frankie Chili abgeräumt und meinen Oberschenkelmuskel durchtrennt hat. Sein Motorrad hat mich mit einer unglaublichen Härte getroffen, zwölf Tage später bin ich aber in Assen wieder gefahren.

Wie ist es dir dabei gegangen?
Es war ein absoluter Albtraum - schon alleine das Abbiegen meines Beines beim Aufsteigen auf das Motorrad. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, wie brutal es ist, mit einer Verletzung zu fahren. Die Schmerzen sind dabei aber noch gar nicht das größte Problem.

Sondern?
Das Schwierigste ist, gegen deinen Selbsterhaltungstrieb anzukämpfen. Fast alle Rennfahrer können auch mit Schmerzen schnell fahren, weil sie einfach dermaßen gerne auf einem Motorrad sitzen. Aber der Selbsterhaltungstrieb hindert dich daran, nach einer Verletzung die letzten Schritte bis zum Limit zu machen. Alles in deinem Körper sagt dir: 'Hör auf, das ist zu gefährlich!' Aber du musst widersprechen: 'Nein, nein, ich kann noch weiter gehen!' Das schafft nicht jeder. Und selbst die Besten müssen sich wieder an das Limit herantasten. Die Alarmglocken schrillen dann zwar immer noch, wenn du sehr spät bremst, aber du hast deinen Körper über mehrere Runden daran gewöhnt. Du weißt, dass du ein Risiko eingehst, aber es ist ein kalkuliertes Risiko. Richtig schnell bist du, wenn du ständig auf diesem Grat unterwegs bist, aber das können mit einer Verletzung nur ganz wenige Fahrer. Solche Typen finden sich wirklich ganz selten.

Glaubst du, das ist eine Gabe, die ein Fahrer dauerhaft besitzt? Oder ist das situationsabhängig?
Wenn ein Fahrer nach einer Verletzung Probleme hat, zurückzukommen, obwohl es ihm sein Körper schon wieder erlauben würde, dann liegt das meistens an mangelnder Motivation. Er trifft diese Entscheidung also schon relativ bewusst, weil er vielleicht der Meinung ist, ohnehin schon genug geleistet zu haben. Oder weil die Meisterschaft schon gelaufen ist und er glaubt, in Zukunft noch weitere Chancen zu haben. Mit dieser Einstellung ist es dann ganz schwierig um die ersten drei, vier oder fünf Positionen zu kämpfen.

Wenn du das so sagst, muss man zwangsläufig an Jorge Lorenzo denken. In der Vergangenheit hat er unglaubliche Comebacks gefeiert. 2013 etwa, als er sich im 2. Freien Training von Assen das Schlüsselbein gebrochen hat, nach Barcelona zur Operation geflogen und dann im Rennen sensationell Fünfter geworden ist. Jetzt scheint er einfach nicht mehr auf Touren zu kommen. Ist das mangelnder Erfolgshunger?
[Interview fand vor der Bekanntgabge von Jorge Lorenzos Rücktritt statt]
Ein klarer Unterschied zwischen den beiden Situationen ist schon, dass er sich auf der Yamaha damals absolut wohlgefühlt hat. Das war mit der Honda vor den Stürzen schon nicht der Fall und ist es jetzt noch viel weniger. Ihm fehlt es am Gefühl für das Vorderrad und das ist das Schlimmste, was dir als Fahrer passieren kann. Es raubt dir dein Selbstvertrauen und dadurch in weiterer Folge deine Motivation. Dann bist du auch noch verletzt und alle zweifeln daran, ob du wohl noch hungrig genug bist. Das sind die idealen Zutaten für eine handfeste Krise. Ob es Jorge wirklich am Erfolgshunger fehlt, wage ich nicht zu beurteilen. Das weiß nur er selbst.

Lorenzo hat ja auch selbst zugegeben, dass er während seiner Zwangspause zu zweifeln begonnen hat - an seiner Karriere, an seinem Leben. Für einen MotoGP-Fahrer, der ständig auf Motorrädern sitzt, Ausdauertraining macht oder im Fitnessstudio schwitzt, muss dieses ewige Rumsitzen doch die Hölle sein, oder?
Ja, das ist ein gewaltiges mentales Problem. Du wirst wirklich deprimiert und dann ist das auch eine Belastung für dein Umfeld, wenn sie mit dir zusammenleben müssen. Es ist eine miese Situation. Du weißt ohnehin schon, dass du ständig an Fitness verlierst und dann musst du dir auch noch die anderen Piloten ansehen, wie sie Rennen fahren. Das ist ein Albtraum. Für einen Fahrer fühlt sich das an, als würdest du deine Ex-Freundin, die du immer noch liebst, auf der Straße mit ihrem neuen Partner sehen. Das willst du nicht!

Warum macht man es dann?
Weil du es als Profi tun musst. Du musst analysieren, welche Fahrer sich gut schlagen und warum das so ist. Spaß macht es aber niemandem. Ich habe es wirklich gehasst.

Ist das der Grund, warum die Fahrer immer so schnell wie möglich zurückkehren wollen? Oder spielt da vielleicht auch der Gedanke, dass sie im schlimmsten Fall ihren Platz verlieren könnten, eine Rolle?
Ich denke, da gibt es zwei Extreme. Auf der einen Seite ist die Liebe zum Motorradfahren, auf der anderen die von dir angesprochene Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Es liegen aber viele Nuancen dazwischen. Meistens geht es wohl darum, deinem Team zu zeigen, dass du hungrig und voll fokussiert auf deinen Job bist - egal was es kostet. Nicht zu fahren, obwohl es doch irgendwie gehen würde, fühlt sich an, als würdest du in einem normalen Beruf einfach nicht ins Büro kommen, nur weil dir am Morgen etwas übel ist.

Denkst du, dass es in so einem Fall die Aufgabe des Teams ist, den Fahrer etwas vor sich selbst zu schützen?
Auf jeden Fall. Wenn ein Fahrer wirklich noch massiv angeschlagen ist, dann sollte das Team sagen: 'Kumpel, du musst noch nicht zurückkommen. Es ist in Ordnung.' Wenn du die Grippe hast, dann wird dir dein Chef auch sagen, dass du nicht ins Büro kommen musst - um hier wieder diese Parallele zur normalen Arbeitswelt zu ziehen. Rennfahrer wollen einfach immer zeigen, dass sie alles geben. Da braucht es oft eine objektivere Stimme von außen, die ihnen klarmacht, dass es unter gewissen Umständen keinen Sinn hat, wieder zu fahren. Wenn die Schmerzen zu groß sind, dann wirst du dich nicht gut schlagen. Oft sehen es die Piloten dann ein. Wenn dir der Fahrer aber am Telefon regelrecht entgegenschreit - 'Neiiiin, ich komme' - dann lass den Jungen fahren.

Klingt so, als wärst du selbst einmal dieser Fahrer gewesen?
(lacht) Ja, es gab schon solche Situationen. Bei den '8 Stunden von Suzuka' bin ich einmal mit einem linken Arm gefahren, den ich nicht einmal selbstständig auf den Lenker brachte. Ich musste ihn mit der rechten Hand hochheben. Zuvor war ich bei einem Sturz auf der Schulter gelandet und hatte mir die Rotatorenmanschette [eine Gruppe von vier Muskeln im Schulterbereich, die alle vom Schulterblatt zum Oberarmkopf ziehen und das Schultergelenk kappenförmig umgeben, Anm.] verletzt.

Eine ganz ähnliche Verletzung, wie sie Miguel Oliveira nach seinem Abschuss durch Johann Zarco in Silverstone hatte. Er ist auch drei Wochen später in Misano schon wieder gefahren.
Genau. Bei mir hat es damals zwölf Monate gedauert, bis ich den Arm wieder parallel zum Boden heben konnte. Ein Fahren ohne Schmerzmittel wäre unmöglich gewesen. Jetzt war es viele Jahre absolut okay, nun habe ich wieder Probleme. Da wird wohl eine Operation fällig. (lacht)

Normale Menschen könnten darüber wohl nicht so lachen. Motorradrennfahrer haben eine ganz eigene Art, mit Verletzungen umzugehen. Muss man erst lernen, das so einfach wegstecken zu können?
Ich denke nicht. In diesem Sport erfolgreich zu sein, muss dir die ganzen Schattenseiten wert sein. Du musst deinem Job alles unterordnen - das gilt für jeden professionellen Athleten. Wenn du einen Sport als Profi ausübst, liebst du es aber normalerweise ohnehin so sehr, dass dich das nicht stört. Als ich jung war, bin ich wirklich manchmal auf die Strecke gegangen und habe zu mir selbst gesagt, dass das Resultat heute wichtiger ist als mein Körper. Das klingt brutal, aber so war es. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht schnell genug bin und den nächsten Schritt machen muss. Ich war bereit dazu, mich dafür zu verletzen. Verletzt zu sein, kann man aber nie 'lernen'. Es ist nie schön.

Wie lange hat es deiner eigenen Erfahrung nach gedauert, bis du eine Verletzung mit all ihren negativen Auswirkungen hinter dir lassen konntest?
Bei einem richtig schlimmen Highsider habe ich schon einmal drei Monate gebraucht, um zu vergessen, wie hart der Asphalt ist. Das überrascht dich immer wieder. Asphalt gibt einfach nicht nach, nur dein Körper. So etwas macht dich im Normalfall immer ein bisschen vorsichtiger. Bei kleineren Blessuren kannst du aber oft auch sofort wieder Vollgas geben.

Ändert sich da im Laufe einer Karriere etwas? Geht man mit Verletzungen anders um?
Natürlich, das ist nur menschlich. Wenn du jünger bist, setzt du deinen Körper einfach aufs Spiel. Mit Fortdauer deiner Karriere hast du immer mehr das Gefühl, dass es nicht mehr nötig ist. Da kommt wieder dieser Erfolgshunger ins Spiel: Wie wichtig ist dir der Job noch? Das ist unglaublich wichtig, wenn du verletzt bist. Denn in dieser Situation gibt es keine einfachen Lösungen. Du musst es immer wieder versuchen und dich selbst antreiben, bis du wieder so fährst, wie du willst.

Es gibt Fahrer, die sich so gut wie nie verletzen. Und andere landen ständig im Krankenhaus. Ist das nur Glück? Oder hat es auch mit dem natürlichen Körperbau zu tun? Und wie viel liegt in der Hand des Fahrers?
Du hast die drei entscheidenden Faktoren genannt. Alle drei sind extrem wichtig. Beim Körperbau gibt es sicher große Unterschiede. Ich persönlich hatte großes Glück, denn meine Knochen haben wirklich viel ausgehalten. Ich konnte es oft selbst nicht glauben. Etwa damals als mich Chili abgeschossen hat. Mein Muskel war durch, aber die Knochen haben gehalten. Was die Eigenverantwortung betrifft: Die wirklich guten Piloten schaffen es, am Limit zu sein, ohne ständig zu stürzen. Außer Marc Marquez, der ist da etwas speziell (lacht). Wenn du wenige Crashes hast, ist das aber natürlich besser, denn schon ein einziger Abflug kann deine Saison ruinieren. Und natürlich brauchst du Glück. Wenn dich jemand abräumt, ist es bedeutungslos, dass du selbst alles richtig gemacht hast.

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