"Man kann in Monaco nicht überholen? Der Monaco ePrix erlebte 116 Überholmanöver!" Mit dieser auf den ersten Blick beeindruckenden Zahl bewarb die Formel E das vergangene Rennen im monegassischen Fürstentum, und schob hinterher, dass es allein in den ersten sieben Rennrunden "unglaubliche 54 Überholmanöver" gegeben habe.

Werte, die einzigartig klingen für den Stadtkurs, dem zu Formel-1-Zeiten stets überholarme Rennen attestiert wurden. Man könnte es aber auch anders einordnen. So wie der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne (DS Penske), der am Freitag vor Monaco sagte: "Ich würde das nicht als Überholen bezeichnen. Wenn man Funksprüche von Ingenieuren an Fahrer hört, in denen es heißt, dass sie sich zurückfallen lassen und das Rennen nicht anführen sollen, kann man da nicht wirklich von Überholmanövern sprechen."

Formel E 2023: 592 "Überholmanöver" in 180 Minuten

Vor diesem Hintergrund wirken die von der Formel E propagierten Zahlen vor allem für Motorsport-Fans vermutlich nicht mehr so sensationell wie von den Serienverantwortlichen ohne weiteren Kontext aufgelistet: 114 Überholmanöver in Sao Paulo, 190 im Samstagsrennen von Berlin, weitere 172 am Sonntag. Macht zusammen mit den Monaco-Zahlen insgesamt 592 "Überholmanöver" über den Verlauf von vier Rennen oder auch 180 Minuten Renndistanz; demnach 3,2 "Überholmanöver" pro Minute.

Die Wahrheit hinter dem Zahlen-Spektakel: Nur wenige dieser fast 600 Positionswechsel können als klassische Überholmanöver bezeichnet werden, bei denen ein Fahrer gegen einen anderen kämpfen muss, um einen Platz gutzumachen. Stattdessen tun die Piloten alles, um in den ersten Runden bloß nicht führen zu müssen. Sie verlangsamen absichtlich oder aktivieren ihre Attack-Modes abseits der Ideallinie, um Positionen zu verlieren.

Woran das liegt, erklären wir in aller Regelmäßigkeit schon seit dem sechsten Saisonrennen in Sao Paulo am 25. März, in dem die Herangehensweise zum ersten Mal auf die Spitze getrieben und ganz deutlich wurde, welche Art des Racings die neuen Gen3-Autos erzeugen. Der Drag-Effekt bei den 350 kW (476) PS starken Boliden ist derart hoch, dass die Fahrer deutlich mehr Energie aufwenden müssen, wenn sie im Wind fahren. Deshalb 'verstecken' sich die Piloten lieber hinter dem Vordermann, um ihre Energieressourcen zu verwalten und diese später im Rennen zu nutzen.

Formel E 2023 Monaco: Highlights und Zusammenfassung (04:59 Min.)

Renn-Pace in der Formel E 2023: Lächerlich langsam

Diese auch in der Elektro-Serie neue, bis zum Maximum ausgereizte, Art des Rennfahrens hat Auswirkungen, die mit einem Blick auf die Zahlen deutlich werden: Die Renn-Pace in der Formel E 2023 ist geradezu lächerlich langsam.

Betrachten wir dazu exemplarisch den Verlauf des Monaco ePrix vom vergangenen Samstag. Pole-Setter Jake Hughes (McLaren) führte das Rennen in den ersten 6 Runden an und fuhr in keinem einzigen dieser Umläufe schneller als 1:40.845 Minuten (Runde 6). In Runde 7 übernahm erstmals der von P2 gestartete Sacha Fenestraz (Nissan) die Führung, weil Hughes durch die Aktivierung seines Attack-Mode auf Platz fünf zurückfiel.

Fenestraz fuhr in dieser Runde 7 eine Zeit von 1:35.996 Minuten. Das macht einen Unterschied von schier unglaublichen 4,849 Sekunden innerhalb einer einzigen Runde, ohne, dass es in dieser Zeit jegliche Art von Unterbrechungen durch gelbe Flaggen oder Ähnliches in der Spitzengruppe gegeben hätte.

Formel E 2023 in Monaco: Verlauf der Rundenzeiten

RundeBeste RundenzeitDurchschnittsgeschwindigkeit in km/h
21:41.908117,9
61:39.247121,0
71:35.996125,1
121:32.890129,3
251:32.497129,9
271:31.119131,8

Monaco-Rennen wird fast 10 Sekunden schneller

Um noch mehr zu verdeutlichen, wie langsam die Rennen in der ersten Phase geführt werden: Der Drittplatzierte Jake Dennis (Andretti) erzielte in der 27. von 29 Runden die beste Rundenzeit in 1:31.119 Minuten. Das ist ein Delta von 9,726 Sekunden zu Fenestraz' schnellster Runde im 6. Umlauf. Wohlgemerkt: In der Formel E nimmt die Pace nicht wegen sich leerender Tankinhalte zu, und Boxenstopps für frische und damit performantere Reifen gibt es ebenfalls nicht.

Dabei haben die neuentwickelten Gen3-Autos das Leistungspotenzial für ganz andere Zeiten: Im Qualifying fuhr Sacha Fenestraz (Nissan) die beste Rundenzeit des Tages in 1:28.773 Minuten. Das ist rund 1,1 Sekunden schneller als die jemals zuvor erzielte Bestzeit mit dem Gen2-Vorgänger (1:29.839) auf dem 3,337 Kilometer langen Formel-1-Streckenlayout.

Formel E in Monaco: Gen2 und Gen3 im Vergleich

MonacoGen2-Auto (250 kW)Gen3-Auto (350 kW)
Schnellste Rundenzeit1:29.8391:28.773
Schnellste Rennrunde1:32.7071:31.119

Ticktum: "Gespart, bis es gefährlich wurde"

"Jeder hat nach dem Start so viel gespart bis zu einem Punkt, an dem es gefährlich wurde", sagte NIO-Pilot Dan Ticktum, der in Monaco wegen seiner Frontflügel-Aktion für Aufsehen sorgte. "Vielleicht müssen alle Teams zusammenkommen und mit der FIA sprechen, wie wir die Rennen etwas organischer gestalten können. Beim Start liegen wir alle unter unseren Energie-Zielen. Wir sind so langsam. Dann kommt die Rennmitte und alle denken sich: 'Ich muss jetzt Plätze gutmachen'. Dann fahren sie zu fünft nebeneinander und es gibt viele kleine Kontakte. Das ist ziemlich gefährlich."

Ob diese Art des Racings bei den Zuschauern gut ankommt, müssen sie selbst entscheiden. Auffällig ist aber, dass immer mehr Fahrer von einer "Gefahr" sprechen. Das führt zurück auf die zahlreichen Kollisionen, die durch das Zusammenstauchen vor engen Kurven oder Schikanen entstehen.

Das Feld liegt wegen der lahmen Rundenzeiten derart eng beisammen, dass Fahrer die Situation vor sich kaum einschätzen können und beim ruckartigen Abbremsen oder Ausscheren mit anderen Autos zusammenstoßen. Der aus anderen Formel-Serien bekannte Luftverwirbelungs-Effekt (Dirty Air) spielt bei den Gen3-Autos eine untergeordnete Rolle, wodurch das enge Folgen keine größeren Nachteile mit sich bringt. Monaco entwickelte sich zum 'Friedhof der Frontflügel'.

Rast: "Pures Glücksspiel" - Bird: "Schlimmer als jemals zuvor"

Der dreifache DTM-Champion Rene Rast (McLaren) sagte nach seiner frühen Kollision mit Andre Lotterer (Andretti): "Hinten ist es pures Glücksspiel, ob du überlebst. Da wird von allen Seiten attackiert, von links, rechts, vorne, hinten. Du bist eigentlich nur der Punching Ball und hast nur eine kleine Chance, das Rennen ohne Schaden zu überleben."

Der 106-malige Formel-E-Starter Sam Bird (Jaguar) sagte nach seinem späten Crash mit Nico Müller (Abt-Cupra) zu e-formel.de über das Treiben im Mittelfeld: "Das Racing dort ist anders als alles, was ich bislang gesehen habe. Und das meine ich nicht im guten Sinn. Es ist schlimmer als jemals zuvor. Das nimmt immer mehr zu, wo die Leute jetzt immer besser verstehen, wie man das Spiel spielen muss. Es geht nur noch darum, wer das Glück hat, die richtige Linie zu wählen, ohne sich dabei das Auto zu beschädigen."

Formel-E-Autos fahren zu Dritt durch die Monaco-Haarnadelkurve, Foto: LAT Images
Formel-E-Autos fahren zu Dritt durch die Monaco-Haarnadelkurve, Foto: LAT Images

Evans: "Im Auto fühlt es sich beizeiten recht gefährlich an"

Dass sich Fahrer, bei denen es aktuell nicht so erfolgreich läuft, gerne etwas lauter beschweren, ist keine Seltenheit im Motorsport. Wenn aber selbst die Top-Fahrer offen Kritik äußern, müssten bei den Serienchefs (Alberto Longo: "Es geht nur ums Spektakel und wie die Rennen bei den Leuten ankommen") alle Alarmglocken bimmeln.

Mitch Evans (Jaguar), der in Sao Paulo sowie Berlin siegte und in Monaco auf den zweiten Platz fuhr, sagte am Freitag: "Es ist toll, so viele Überholmanöver zu haben. Im Auto fühlt es sich beizeiten aber recht gefährlich an. Du hast das Gefühl, dass ständig etwas passieren kann. Etwas muss sich ändern. Wir alle wollen überholen und um die Führung kämpfen. In der Vergangenheit war das toll. Ich habe aber das Gefühl, dass es jetzt zu sehr in die andere Richtung geht."

Dabei profitieren Piloten wie Werksfahrer Evans oder der neue WM-Spitzenreiter und Monaco-Sieger Nick Cassidy (Envision-Jaguar) gerade bei diesen Rennen vom enorm starken Jaguar-Antriebsstrang: Indem sie von jeglichen Startpositionen (Evans von P6, Cassidy von P9) mehr oder weniger ohne Gegenwehr in die Spitzengruppe vorstoßen können, bestimmen sie die Energie-Ziele pro Runde für das gesamte Feld und geben die Pace vor. "Ich genieße dieses Racing", meinte Titelanwärter Cassidy.

Nick Cassidy feiert in Monaco seinen zweiten Saisonsieg in der Formel E, Foto: LAT Images
Nick Cassidy feiert in Monaco seinen zweiten Saisonsieg in der Formel E, Foto: LAT Images

Formel E: Jaguar und Porsche machen die Pace

Durch das massive Einsparen von Energie in den ersten Runden, entwickeln sich die Rennen ab einem bestimmten Punkt zu Vollgas-Sprints, bei denen das Energie-Management keinerlei Rolle mehr spielt. Überholmanöver sind dann nur noch mit großem Risiko möglich und ein Grund, warum Cassidy in Berlin über 17 Runden sowie in Monaco 12 Runden lang bis zum Zieleinlauf führen konnte, ohne wirklich angegriffen zu werden.

In Monaco gab es von Runde 18 bis zum Ende in Runde 29 keine Positionswechsel mehr in den Top-3. Belegt wurden die ersten drei Plätze ausschließlich von Fahrern mit Antriebssträngen von Jaguar und Porsche. In den bisherigen neun Rennen erzielten Jaguar (11) und Porsche (10) 21 von 27 möglichen Podestplätzen. Viermal stand zudem ein Fahrer mit einem DS-Motor auf dem Podium.

Jaguar und Porsche in der Formel E: Bilanz nach 9/16 Rennen

StatistikJaguarPorscheDie weiteren 4 Hersteller
Siege441
Podestplätze11106
Pole Positions306
Schnellste Rennrunden333
Führungsrunden1568492

"15 Runden, die niemand sehen will, 5 Runden Chaos, 5 Runden Vollgas"

Jake Dennis (Andretti-Porsche), Sieger des Auftaktrennens in Mexiko und zuletzt zweimal auf dem Podium: "Ich würde gerne eine Änderung sehen. Jetzt haben wir 15 Runden, die niemand sehen will, dann 5 Runden Chaos, dann 5 Runden Vollgas. Das ist ein bisschen komisch, aber wohl gut für die Show. Ich hoffe, dass wir bei den nächsten Rennen eine andere Art des Racings erleben."

Das angesprochene "Chaos" blieb nicht ohne Konsequenzen. Von Unfallschäden an Autos einmal abgesehen, brachen sich bereits Robin Frijns (Abt-Cupra) und Sebastien Buemi (Envision) bei Auffahrunfällen die Hand, weitere Fahrer wie Antonio Felix da Costa (Porsche) oder Stoffel Vandoorne (DS Penske) erlitten Schmerzen an der Hand.

"Wenn du hinten bist, wird es gefährlich", sagte Nissan-Pilot Norman Nato in Monaco. "Was Robin in Mexiko passiert ist und Seb (Buemi) sowie auch mir in Sao Paulo: Wenn so viele Autos vorne sind, kannst du nicht absehen, was da passiert. Wenn du als letztes Auto ankommst oder in der Mitte bist, wirst du überrascht. Und das nur, weil du 20 bis 30 km/h langsamer fährst als du fahren solltest. In den ersten 20 Minuten seht ihr vielleicht ein paar Überholmanöver, aber für uns im Auto ist es langweilig, weil wir warten, warten, warten. Und irgendwann wird es dann gefährlich."

Formel-E-Tabelle 2023 nach 9/16 Rennen

PlatzFahrerTeamPunkte
1Nick CassidyEnvision-Jaguar121
2Pascal WehrleinPorsche101
3Jake DennisAndretti-Porsche96
4Mitch EvansJaguar94
5Jean-Eric VergneDS Penske87
6Antonio Felix da CostaPorsche68
7Sam BirdJaguar62
8Sebastien BuemiEnvision-Jaguar61
9Jake HughesMcLaren-Nissan45
10Rene RastMcLaren-Nissan40
11Stoffel VandoorneDS Penske28
12Maximilian GüntherMaserati-DS24
13Andre LottererAndretti-Porsche23
14Sacha FenestrazNissan19
15Lucas di GrassiMahindra18
16Dan TicktumNIO 33318
17Norman NatoNissan11
18Sergio Sette CamaraNIO 33310
19Oliver RowlandMahindra9
20Edoardo MortaraMaserati-DS5
21Robin FrijnsAbt-Mahindra3
22Nico MüllerAbt-Mahindra2
23Kelvin van der LindeAbt-Mahindra0