Lucas di Grassi steht kurz vor den nächsten Meilensteinen seiner langjährigen Karriere als Rennfahrer. Beim bevorstehenden Saisonfinale im südkoreanischen Seoul (13./14. August 2022) bestreitet der Brasilianer sein 100. Rennen in der Formel E. Sollte Jaguar-Pilot Sam Bird - wie di Grassi aktuell bei 98 Starts - wegen seines erlittenen Handbruchs die letzten beiden Rennen der Saison verpassen, wäre di Grassi der einzige Fahrer, der alle Rennen seit dem Serienbeginn am 13. September 2014 bestritten hat.

Und damit nicht genug: Di Grassi steht mit seinem Team Venturi vor dem 1000. Punktgewinn in der Formel E! Sechs Zähler fehlen noch, um die magische Marke zu erreichen. Mit seinem Sieg am vergangenen Wochenende in London - sein 13. und damit Rekord zusammen mit Sebastien Buemi - hat der 37-Jährige schon einmal vorgelegt. Experten sind sicher: Kein anderer Fahrer hat die bisherige Formel-E-Ära derart geprägt wie der langjährige Audi-Werksfahrer, der 2017 die Meisterschaft gewann.

13. Formel-E-Sieg für Lucas di Grassi zuletzt in London, Foto: LAT Images
13. Formel-E-Sieg für Lucas di Grassi zuletzt in London, Foto: LAT Images

In einer höchst interessanten Medienrunde der Formel E an diesem Donnerstag nahm di Grassi - der im Fahrerlager scherzhaft als künftiger FIA-Präsident gehandelt wird - Stellung zu den wichtigsten Themen rund um die Rennserie, die 2023 mit dem neuen Gen3-Auto die nächste technologische Ära einläutet. Di Grassi bestreitet diese nach Informationen von Motorsport-Magazin.com mit dem indischen Automobilgiganten Mahindra.

Lucas di Grassi über...

...die Akzeptanz der Formel E bei Motorsport-Fans: "Wir haben eine gemeinsame Fan-Basis mit ein paar anderen Rennserien. Manche Leute hassen die Idee von Elektro-Autos. Immer, wenn ich etwas kommentiere, werde ich bombardiert von diesen Hatern der Elektro-Mobilität! Es gibt viel Hass aus der Motorsport-Community, weil einige nicht akzeptieren wollen, dass sich die Welt ändert und dass es effizientere Wege der Fortbewegung geben muss. Es gibt auch Leute, die wegen der Formel E angefangen haben, Motorsport zu schauen. Vor allem die jüngere Generation. Das ist gut für die Formel E, weil du weißt, dass du diese Fans für viele Jahre hast."

...die Zukunft der Formel E: "Die Formel E hat eine gute Nische gefunden. Jetzt geht es darum, zu einem Top-Level-Sport aufzusteigen. Wie kann man zu einem Mainstream-Sport werden? Meiner Meinung nach kann das nicht nur durch Nachhaltigkeit gelingen. Es braucht ein aufregendes Rennauto, sehr spannende Fahrer, ein Drama wie bei der Formel 1, wo Netflix sehr geholfen hat, und spannende Events. Eine Kombination unterschiedlicher Faktoren, damit die Formel E weiter wächst und zu einem Tier-1-Sport wird."

Meinungsstark: Formel-E-Veteran Lucas di Grassi, Foto: LAT Images
Meinungsstark: Formel-E-Veteran Lucas di Grassi, Foto: LAT Images

...das Wachstum der Formel E: "Die Meisterschaft entwickelt sich, das kann jeder sehen. Die Formel E hat sich massiv geändert und ist erwachsen geworden. Sie wurde von einer Neuheit mit vielen Zweifeln zu etwas Verheißungsvollem, das abgeliefert hat. Die Formel E hat sich als eine wichtige Rennserie etabliert. Sie ist kein Versprechen mehr oder etwas, das nicht funktioniert. Die Formel E wächst organisch, langsam, sie explodiert aber nicht oder überholt die Formel 1 in zwei Jahren. Sie stirbt auch nicht. Im ersten Zyklus waren Hersteller wie Audi, BMW oder Mercedes dabei. Das ändert sich und es kommen die nächsten Hersteller. Das ist generell so im Motorsport, siehe auch in der Formel 1."

...den Einfluss der Formel E abseits der Rennstrecke: "Das ist schwer zu bemessen. Wir können sehen, wie viele Menschen die Formel-E-Rennen schauen, wie schnell die Technologie durch die Hersteller beschleunigt worden ist und wie sehr sie auf die E-Mobilität aufmerksam gemacht hat. Selbst, wenn die Formel E nur ein bisschen geholfen hat, dann hat dieses kleine Bisschen schon geholfen, die Technologie und die Sichtweise der Menschen auf E-Autos voranzutreiben. Es hat sich also gelohnt. In den ersten acht Jahren hat die Formel E dazu gedient, Menschen aufmerksam zu machen, dass E-Autos existieren, schnell und sexy sind. Jetzt tritt sie in die zweite Phase ein mit neuer, aber etablierter Technologie. Das Gute ist, dass die Technologie nur besser wird und die Autos quasi monatlich schneller werden. Die Technologie steckt noch in den Kinderschuhen. Wie einst Verbrenner, Turbos oder Computer, die sich innerhalb von 100 Jahren weiterentwickelt haben. Auch in der E-Mobilität werden wir noch eine große Revolution erleben."

...das Sound-Problem im Elektro-Rennsport: "Wir alle wissen, dass die Formel 1 elektrisch werden muss, um kommerziell relevant zu bleiben. Aber so, wie die Rennstrecken gebaut worden sind, wollen die aktuellen Fans keine Autos ohne Sound. Das hat man an den Kommentaren gesehen, als die Formel 1 von V8- auf V6-Motoren gewechselt ist. Wie gelingt dieser Übergang? Wartet man ab, folgt man der Automobilindustrie oder macht man nur Unterhaltung? Das ist nicht einfach und eine der größten Unbekannten der Formel 1."

Lucas di Grassi in London mit FIA-Präsident Mohammed Ben Sulayem, Foto: LAT Images
Lucas di Grassi in London mit FIA-Präsident Mohammed Ben Sulayem, Foto: LAT Images

...seine Sicht auf den Motorsport der Zukunft: "Für mich ist seit Beginn an klar, wie die technologische Roadmap der Rennserien aussehen muss. Der Motorsport muss viel segmentierter werden: Welche Lösungen braucht es für welche Rennserien? Der Langstreckensport sollte den Fokus auf relevante Technologien für die Automobilindustrie legen, die Formel 1 auf extreme Antriebe mit Blick auf das Leistungs-zu-Gewicht-Verhältnis, egal, ob es dafür noch 20 Jahre lang einen Verbrennungsmotor braucht. Und die Formel E sollte die effizientesten Motoren haben. Damit sichergestellt ist, dass die Hersteller eine Meisterschaft haben, in der sie weiterentwickeln und die Expertise für die Straße nutzen können."

"Es darf keine Überlappung geben. Im Moment gibt es sehr viel davon zwischen Langstrecke, Formel 1 und Formel E. Die Regeln sind nicht klar. Wir brauchen jemanden, der eine klare Richtung vorgibt, damit sich die Meisterschaften weiterentwickeln und Technologien erschaffen werden, die einen Mehrwert bieten für Hersteller, Fans und langfristig die Welt. Im Moment ist das nicht einfach. Ich glaube, dass diese Arbeit aktuell nicht richtig gemanagt wird."

...seine Kritik am neuen Formel-E-Auto ab 2023: "Das Gen3-Auto ist Teil dieses Problems. Seit Gen2 plädiere ich für Allradantrieb. Wir haben mit dem Gen3 ein Problem: Wir haben so viel Power, dass es bei den Rundenzeiten fast keinen Unterschied macht, wenn du nicht 100 kW an die Hinterachse für den Attack Mode abgeben kannst. Weil du die Leistung nicht auf die Straße bekommst. Mit dem Gen3-Auto haben wir so viel Power, dass es egal ist, ob du im Attack Mode 50 kW mehr oder weniger hast, weil du fast die ganze Zeit bei der Traktion limitiert bist. Alle Hersteller produzieren Highend-Elektroautos mit Vierradantrieb. Wir könnten Vierradantrieb im Attack Mode und Zweiradantrieb für die restliche Zeit eines Rennens haben, oder Vierradantrieb beim Start. Mit der Software eines E-Autos kannst du machen, was immer du willst."

Lucas di Grassis Bilanz in der Formel E

StatistikBilanz
Rennen98 seit 2014
Siege13
Podien38
Pole Positions3
Schnellste Rennrunden12
Punkte 994
Meisterschaften2016/17