Besser hätte das Werksdebüt eigentlich nicht verlaufen können. Das Mercedes-Benz EQ Formel E Team führte nach dem Saisonauftakt in Saudi-Arabien die Teammeisterschaft an, Stoffel Vandoorne belegte nach dem zweiten Rennwochenende in Santiago de Chile die Spitze in der Fahrerwertung.

Ein Einstieg nach Maß für die Silberpfeile um Vandoorne und Formel-2-Champion Nyck de Vries. Zwei Nullrunden zuletzt in Mexiko-City und Marrakesch bedeuteten jedoch einen Rückschlag für die Mannschaft, die aus der Vorhut HWA Racelab hervorgegangen war. Nach den ersten fünf Saisonrennen belegt Mercedes den fünften Rang in der Teamwertung.

Ian James leitet die Geschicke von Mercedes-Benz in der Formel E als Teamchef. Der annähernd perfekt deutschsprachige Brite blickt auf eine langjährige Vergangenheit bei Mercedes zurück, darunter als Head of Programme Management bei Mercedes-AMG High Performance Powertrains in England.

Im exklusiven Interview mit Motorsport-Magazin.com zieht James eine Zwischenbilanz zum bisherigen Saisonverlauf mit seinen Höhen und Tiefen und spricht über den Austausch mit dem Formel-1-Programm der Silberpfeile sowie über die Zusammenarbeit mit Mercedes-Kundenteam Venturi und dessen Teamchefin Susie Wolff.

Ian, wie fällt Ihr Zwischenfazit zur Debütsaison von Mercedes-Benz nach dem ersten Saisondrittel aus?
Ian James: Ich habe schon bei den Testfahrten in Valencia gesehen, dass die Saison für uns eine Herausforderung wird - und das ist sie immer noch. Wir lernen weiter viel, aber unser Start war, bis auf Mexiko und Marokko, eine positive Überraschung. Wir wissen jetzt, dass wir eine solide Basis gelegt haben. Wir müssen uns darauf konzentrieren, dass wir uns von dieser Basis ausgehend weiterentwickeln.

Wie bewerten Sie die Entscheidung der Formel E, die Saison wegen der Coronavirus-Pandemie vorübergehend zu pausieren?
Ian James: Natürlich unterstützen wir die Entscheidung der Formel E und der FIA, die Saison auszusetzen, voll. Die Sicherheit und Gesundheit der Fans, Teams und aller anderen Beteiligten hat für uns höchste Priorität. Und wir werden die Formel E dabei unterstützen, einen Plan für die Saison zu entwickeln, so viele Rennen durchzuführen, wie verantwortbar ist.

Was war bisher gut und wo ist noch Luft nach oben?
Ian James: Für uns war es eine der größten Herausforderungen, auszugleichen, dass wir aus unterschiedlichen Einheiten bestehen. Da ist einerseits HPP (Mercedes AMG High Performance Powertrains) in Brixworth, HWA in Affalterbach, Mercedes-Benz in Stuttgart sowie unser Headquarter in Brackley. Das wird immer eine Herausforderung sein. Aber trotzdem sind wir an der Rennstrecke ein Team. Dazu gehören nicht nur die Ingenieure und Mechaniker, sondern auch die Fahrer.

Ian James in der Mercedes-Teamgarage, Foto: Daimler AG
Ian James in der Mercedes-Teamgarage, Foto: Daimler AG

Rund um die Fahrerwahl von Stoffel Vandoorne und Neueinsteiger Nyck de Vries gab es Diskussionen...
Ian James: Ich wurde oft gefragt, ob es klug ist, mit Nyck einen Rookie in ein Rookie-Team zu geben. Und es wurde auch bezweifelt, ob wir mit Stoffel, der ja nur ein Jahr Erfahrung in der Formel E hatte, fahren sollten. Ich glaube, beide haben super performt und sich bewiesen.

Und wo gibt es noch Potenzial für Verbesserungen?
Ian James: Wir müssen einige Dinge verbessern. Wir müssen auf jeden Fall weniger Fehler machen. Wir müssen kontrollieren, was kontrollierbar ist. Das haben wir in den meisten Fällen getan, aber nicht in allen. Wie etwa in Riad oder in Santiago, wo wir Strafen erhalten haben. So etwas darf nicht passieren. In Mexiko haben wir dann das Chaos der Formel E live erlebt. Das waren interne Fehler, die meiner Meinung nach vermeidbar waren. Wir haben davon gelernt, solche Sachen dürfen also nicht mehr passieren.

Die Mercedes-Silberpfeile beim letzten Rennen in Marrakesch, Foto: LAT Images
Die Mercedes-Silberpfeile beim letzten Rennen in Marrakesch, Foto: LAT Images

Unsere Herangehensweise ist folgende: Wenn wir solche Erfahrungen machen, müssen wir das immer in Erinnerung behalten und in Zukunft daraus lernen, sodass wir nicht einen Fehler zweimal machen. Dann haben wir gute Chancen.

Beim Santiago ePrix hat Nyck de Vries wegen eines Wiederholungsfehlers beim Kühlungs-Management einen Podestplatz verloren. Wie sehr schmerzt das?
Ian James: Es gibt keine 'Blame Culture' in unserem Team. Man kann und muss aber ganz offen diskutieren, wenn wir in die Details gehen. Wenn ein Fehler zweimal passiert, ist das bitter. Es tut unheimlich weh, weil wir dachten, es im Griff zu haben. Das hatten wir offensichtlich aber nicht. Wir haben jetzt die richtigen Maßnahmen getroffen. Es reicht nicht, zu sagen: 'Jetzt haben wir das gelöst'. Stattdessen müssen wir uns die Frage stellen, warum unsere internen Prozesse nicht funktioniert haben.

Sie sprachen eben von den unterschiedlichen Einheiten, aus denen das Team zusammengesetzt ist. Wie hätte Ihre ideale Lösung auf einem weißen Blatt Papier ausgesehen?
Ian James: Das Team bestünde aus genau den gleichen Leuten mit derselben Expertise, aber alles konzentriert an einem Standort. Wir haben also die richtigen Zutaten. Wir hätten natürlich auch mit neuen Leuten starten können, aber das wäre auch nicht ideal gewesen.

'Blame Culture' ist ein Begriff, den auch Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff gelegentlich verwendet. Wie läuft der Austausch zwischen Formel-1- und Formel-E-Programm?
Ian James: In erster Linie geht es um den Spirit des Teams, die Philosophie. Ich glaube, das ist Teil des Erfolges von Mercedes in der Formel 1. Natürlich können wir von diesen Ideen etwas für uns lernen. Gleichzeitig gibt es einen Austausch auf technischer Ebene. Andy Cowell (Managing Director von Mercedes-AMG High Performance Powertrains) sagte kürzlich, dass sein Team etwas aus den Entwicklungen in der Formel E gelernt habe und es in den Formel-1-Motor hat einfließen lassen. Das finde ich klasse, wenn wir solche Instrumente haben und auch nutzen, denn damit können wir die beste Performance erreichen.

Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff war mehrmals bei der Formel E zu Gast, Foto: LAT Images
Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff war mehrmals bei der Formel E zu Gast, Foto: LAT Images

In der Formel E hat Mercedes die Motorsportwelt mit dem DAS-System überrascht. In der Formel E sind die technischen Möglichkeiten per Reglement sehr limitiert. Nervt das angesichts der Innovationskraft des Formel-1-Teams?
Ian James: Mich als Teamchef nicht. Wenn ich Ingenieur wäre, schon. Ingenieure wollen alles anfassen und alles verbessern. Das steckt einfach in deren DNA. Aber ich muss ein Auge auf die Kosten haben und wenn wir in der Formel E das Chassis oder die Batterie anfassen dürften, dann wäre das die falsche Entscheidung für die Serie. Die Kosten würden deutlich steigen.

Mercedes stapelt in seiner ersten Saison als Werksteam in der Formel E eher tief. Kann man sich das angesichts der großen Erfolge des Formel-1-Teams überhaupt leisten?
Ian James: Wir haben unsere eigenen Ziele, die wir jetzt aber noch nicht veröffentlichen werden. Fragen Sie mich am Ende der Saison noch einmal. Wir im Team haben das Glück, dass es ein Verständnis sowohl in Stuttgart als auch in Brixworth für die Herausforderungen der Formel E gibt. Das Konzept der Serie lässt eine Dominanz nicht zu, das wird auch bei unserem Team nicht passieren. Aber klar, wir tragen den Stern und deswegen ist es auch wichtig, dass wir irgendwann um die Meisterschaft kämpfen. Dafür lassen wir uns aber Zeit.

Ob die Mercedes-Fans das akzeptieren?
Ian James: In der Öffentlichkeit ist es eine andere Geschichte, weil da sofort der Vergleich mit dem Formel-1-Team kommt. Da gibt es vielleicht eine andere Erwartung, nämlich, dass wir ein Rennen nach dem anderen gewinnen. Für mich ist aber wichtig, dass wir intern die Unterstützung und das Verständnis haben - und das haben wir auch.

Ian James mit den Mercedes-Fahrern Nyck de Vries und Stoffel Vandoorne, Foto: LAT Images
Ian James mit den Mercedes-Fahrern Nyck de Vries und Stoffel Vandoorne, Foto: LAT Images

Im Gegensatz zur Formel 1 gibt es in der Formel E aufgrund des Konzeptes keine eindeutige Team-Hierarchie. Könnten sich Motorsport-Fans daran stören?
Ian James: Ich habe da eine andere Meinung. Ich habe die vergangene Saison aus Sicht eines Fans beobachtet, weil ich noch keine offizielle Rolle hatte. Ich habe diese Abwechslung zwischen den Teams genossen. Ich persönlich finde, das macht einfach Spaß und es ist auch spannend für die Zuschauer. Es könnte sein, dass durch die Professionalisierung der Serie das eine oder andere Team häufiger gewinnt.

Man muss aber auch sehen, dass in dieser Saison einige Teams ganz vorne waren. Man sieht trotzdem, welche Fahrzeuge schnell und stark sind. Es wird nicht immer so sein, dass diejenigen dann auch das Rennen gewinnen. Aber ich glaube, die Zuschauer haben schon ein Gefühl dafür, wer an der Spitze steht und wer vielleicht im Mittelfeld liegt. Ich sehe das also nicht ganz so kritisch.

Mercedes stattet den monegassischen Rennstall Venturi mit Kundenautos aus. Wie wichtig ist es, mit vier Mercedes-Antriebssträngen in der Formel E anzutreten?
Ian James: Es ist wichtig. Wir haben immer gesagt, dass es besser ist, vier Autos am Start zu haben anstatt zwei. Venturi verfügt über große Erfahrung in der Formel E, sie sind seit vielen Jahren dabei. Wir können von ihnen lernen, deshalb geht es in beide Richtungen. Wir haben eine Zusammenarbeit geschaffen, in der Mercedes die Fahrzeuge voranbringt, was hoffentlich die Weiterentwicklung beschleunigt.

James zusammen mit Franco Chiocchetti, Mercedes Head of Formula E Track Operations, Foto: LAT Images
James zusammen mit Franco Chiocchetti, Mercedes Head of Formula E Track Operations, Foto: LAT Images

Teamchefin bei Venturi ist Susie Wolff, die Ehefrau von Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff. Da liegt der Verdacht einer möglichen Teamorder zwischen beiden Teams nahe...
Ian James: Nein, in der Formel E macht das keinen Sinn. Es würde auch nicht funktionieren. Wir haben hier intern im Moment keine Teamorder. Ich habe kein Problem damit, das offen zu sagen. Wir würden auch mit unseren beiden Fahrern sicherstellen, dass sie frei gegeneinander Rennen fahren dürfen. Ich glaube, das ist auch wichtig für den Sport. Was in Zukunft passiert, das sehen wir dann. Wir haben aber nicht den Punkt erreicht, wo wir diese Entscheidung treffen müssten. Venturi ist auch kein Team, das ein B-Team sein will. Deshalb sehe ich diese Problematik nicht.

In Deutschland hat die Formel E in der Öffentlichkeitswahrnehmung viel Luft nach oben. Wie bewerten Sie das?
Ian James: Wir haben noch viel zu tun und müssen die Reichweite erhöhen. Diejenigen, die wir schon erreicht haben, haben hoffentlich Spaß und auch eine Leidenschaft für die Formel E entwickelt. Aber wir kämpfen gegen viele andere Sportarten und auch gegen andere Entertainment-Bereiche. Ich habe eine persönliche Meinung: Wir brauchen das Fernsehen in gewissen Märkten - Deutschland ist einer davon - für die Glaubwürdigkeit des Sports. Aber unsere Zielgruppen, die unter 30- und vielleicht unter 20-Jährigen, wollen nicht Fernsehen schauen. Die würden die Formel E lieber über Streaming oder über Social Media verfolgen.