Es gibt Kurven mit klangvollen Namen in der Formel 1 wie die Parabolica in Monza oder die Becketts in Silverstone. Doch das sind nicht die Kurven, die ein Rennen entscheiden können. Die Kurve, auf die sich die Aufmerksamkeit der Piloten und das Interesse der Fans auf allen Rennstrecken viel stärker konzentrieren, ist die erste Kurve nach dem Start.

Der Kampf um die erste Kurve ist nur kurz. Wenn die Lichter der Startampel erloschen sind, bleiben den Piloten gerade mal einige Sekunden, um sich in dem Pulk der 22 Boliden, die sich im Formationsflug auf das Nadelöhr am Ende der Startgeraden zubewegen, in Position zu bringen. Dabei steht für sie viel auf dem Spiel.

"Am Start kann man viel leichter Plätze gut machen oder verlieren als im Rest des Rennens", sagt Sam Michael, der Technische Direktor von Williams. "Für die Fahrer kann es bis zur ersten Kurve deshalb nur eine Devise geben: Blick nach vorne und Vollgas."

Rund gehts in den Kurven..., Foto: Sutton
Rund gehts in den Kurven..., Foto: Sutton

Das ist auch auf dem Hockenheimring beim Großen Preis von Deutschland leichter gesagt als getan. Jeder Fahrer versucht natürlich, die erste Kurve punktgenau auf der Ideallinie anzusteuern, die in der Regel ein schmaler Grat ist und nur Platz für ein Auto hat. Die Piloten müssen deshalb bei aller Konzentration auf die optimale Position und den richtigen Bremspunkt sehr genau darauf achten, was vor und neben ihnen passiert. Auch ein Blick in den Rückspiegel kann nicht schaden, sicher ist sicher, denn in diesen Sekunden im absoluten Grenzbereich ist eines allen klar: Wer jetzt den kleinsten Fehler macht, kann nicht nur sich selbst um alle Chancen bringen, sondern auch seine Teamkollegen oder Konkurrenten.

Um in dieser Ausnahmesituation nicht die Nerven zu verlieren, müssen die Piloten körperlich und mental absolut fit sein. In keiner anderen Phase des Rennens ist der Druck so groß, müssen so viele Informationen gleichzeitig aufgenommen und verarbeitet werden. Durch Konzentration und Training schaffen es die Fahrer, den Puls am Start auf 130 Schlägen pro Minute zu halten.

Doch dann übernimmt der Körper die Kontrolle über den Geist. Während sie auf die erste Kurve zurasen, steigt der Puls auf 180. Ein untrainierter Autofahrer müsste bei solchen Belastungen damit rechnen, dass sein Kreislauf zusammenbricht. Die ersten Meter können auch im Alltagsverkehr zum Problem werden. Wer ab und zu mit einem Mietwagen unterwegs ist, kennt die Situation, dass sich Gas, Kupplung und Bremse anders anfühlen, die Anordnung der Bedienelemente und die Fahrzeugabmessungen ungewohnt sind. Gerade bei Urlaubsreisen ist zudem häufig die Fahrtstrecke noch unbekannt.

Start frei für das Rennen zur ersten Kurve., Foto: Sutton
Start frei für das Rennen zur ersten Kurve., Foto: Sutton

"Um in solchen Situationen sicher anzukommen, empfiehlt es sich, vor dem Losfahren genügend Zeit auf die Einstellung von Sitz und Spiegeln zu verwenden und sich mit den wichtigsten Bedienelementen vom Licht bis zum Scheibenwischer vertraut zu machen", so Dr. Christoph Lauterwasser vom Allianz Zentrum für Technik. "Im Gegensatz zu einem Formel-1-Rennen macht es durchaus Sinn, gerade die ersten Kilometer etwas gemächlicher anzugehen."

Die Startphase mit dem Kampf um die erste Kurve ist zweifellos einer der spannendsten Momente eines Formel-1-Rennens. Kein Wunder, dass sich die Fahrer speziell darauf vorbereiten. Weil jede Rennstrecke anders ist, ist es wichtig, die Linien durch die erste Kurve mit Hilfe von Videoaufzeichnungen der letzten Jahre zu analysieren. Sam Michael ermahnt seine Piloten vor jedem Rennen, gerade in der ersten Kurve vorsichtig zu sein, obwohl ihm klar ist, dass die Fahrer das selbst genau so gut wissen, in den entscheidenden Sekunden aber so viele Dinge um sie herum passieren, dass sie das ab und zu schon mal vergessen. Um so erleichterter ist er, wenn alles gut gegangen ist, seine Piloten diese schwierige Situation gut gemeistert haben. Die Erfahrung hat aber auch ihn gelehrt: "Um ohne Blessuren durch die erste Kurve zu kommen, braucht es nicht nur Können, sondern auch Glück."

Weil im Kampf um die erste Kurve Rangeleien nicht ausbleiben können, hat die Fédération Internationale de l´Automobile (FIA) sehr viel getan, damit sie wenigstens ohne ernsthafte Folgen für Fahrer und Zuschauer bleiben. Die Durchsetzung großzügiger Auslaufzonen in diesem Bereich sorgte ebenso für mehr Sicherheit beim Start wie die Einschränkung häufiger plötzlicher Spurwechsel auf der Startgeraden. So darf der Vorausfahrende nur noch einmal die Spur wechseln, um den Hintermann am Überholen zu hindern. Wer gegen diese Regel verstößt, wird von den Sportkommissaren bestraft. All diese Maßnahmen haben mit dazu beigetragen, dass der Start weiterhin spannend bleibt, aber immer weniger Fahrer das Ende des Rennens schon am Anfang erleben.