Es gibt Momente im Leben, die wird man niemals vergessen. Genauso verhält es sich mit Überholmanövern im Motorsport. Insbesondere wenn diese so selten geworden sind, wie in der modernen Formel 1. Eines jener unvergesslichen Manöver ist etwa der "The Pass" genannte Überholvorgang von Alex Zanardi in der Champ Car Serie in Laguna Seca. Ein anderes legendäres Manöver ist das Überholmanöver von Mika Häkkinen gegen Michael Schumacher und Ricardo Zonta in Belgien 2000.

Wenn es nach Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug geht, dann erlebte die Formel 1 Welt am Sonntag in Japan eine weitere dieser Motorsportsternstunden. " Wie er [Kimi Räikkönen, d. Red.] Giancarlo Fisichella außen herum überholt hat, war eines der besten Manöver seit langer Zeit, wahrscheinlich seit Mika Häkkinen in Spa 2000", jubilierte der euphorisierte Schwabe über ein "Wahnsinns-Rennen". "Der Schnellste und Beste hat heute gewonnen."

So jubelte der eiskalte Triumphator von Suzuka., Foto: Sutton
So jubelte der eiskalte Triumphator von Suzuka., Foto: Sutton

Aber nicht nur Haug lobte seinen Schützling für diesen denkwürdigen Moment eingangs der letzten Runde des Großen Preises von Japan 2005. Auch British American Racing Boss Nick Fry staunte über den Führungswechsel in letzter Sekunde: "Das war einfach unglaublich. Es war eines der großartigsten Manöver dieser Saison, wenn nicht sogar im gesamten Motorsport", schwärmte Fry. "Jemanden außen zu überholen zeigt den riesigen Mut des Fahrers und die Stärke des Autos."

Eiskalt die Gegner verblasen

Mit der Stärke des MP4-20 hatte Kimis Teamkollege Juan Pablo Montoya schon vor dem Rennwochenende gerechnet. Sonst hätte sich der Kolumbianer sicherlich nicht zu der Aussage hinreißen lassen, dass McLaren die französische Konkurrenz von Renault "auf dieser Strecke wegblasen" müsse.

Die silberne Sternstunde von Suzuka begann allerdings nicht mit großem Wind. Es war ein simpler Funkspruch, der den Silberpfeil ins Rollen brachte. 'Das ist Deine letzte Chance', funkte Teamchef Ron Dennis in das Cockpit seines Schützlings. 'Wie viele Runden noch?', fragte dieser kurz und knapp. Dennis erwiderte: 'Eine Runde'. "Und dann hat er es einfach gemacht. Das war absolut phänomenal."

Am liebsten hätte Dennis wohl den Begriff "weltmeisterlich" gebraucht. Doch dieses Attribut haftet für mindestens ein Jahr dem Dritten des Japan GP, Fernando Alonso, an. Obwohl der Spanier eine ähnlich starke Aufholjagd auf den Asphalt legen konnte wie der Sieger, war Alonso nach dem Rennen nicht wirklich zufrieden.

"Das Auto fühlte sich fantastisch an und wir waren heute vielleicht zum ersten Mal seit dem Saisonstart mit McLaren auf Augenhöhe", analysierte er das Rennen. "Obwohl wir vor ihnen starteten, konnten wir daraus aber kein Kapital schlagen."

Stattdessen musste sich Giancarlo Fisichella keine 5 Kilometer vor dem Fallen der Zielflagge dem Ice Man geschlagen geben. "Ich habe mein Bestes gegeben, um ihn aufzuhalten. Eingangs der ersten Kurve der letzten Runde lag er jedoch auf der besseren Linie und ging vorbei", kommentierte der sichtlich enttäuschte Römer die entscheidende Szene.

Von seinem Teamboss Flavio Briatore gab es unterdessen nicht die erwartete öffentliche Rüge. "So etwas passiert und es war gut für die Formel 1", überraschte Briatore. "Fisichella verhielt sich korrekt und das passiert eben. Sicherlich ist es schmerzlich und ich bin nicht gerade glücklich darüber, aber es passiert. Kimi hat es sich verdient."

Ein glücklicher Zweiter sieht anders aus..., Foto: Sutton
Ein glücklicher Zweiter sieht anders aus..., Foto: Sutton

Wer weiß wie der leidenschaftliche Italiener reagiert hätte, wenn Alonso den Titel noch nicht sicher gehabt und Renault nicht in der Team-WM in Führung liegen würde. Jarno Trulli kennt die andere Seite des Flavio B. seit seinem Patzer in der letzten Runde des Frankreich GP 2004 äußerst gut...

Fisichella aber noch mehr Lob; und zwar von Ron Dennis: "Ich sah ihn auf dem Podium und er war bitter enttäuscht", sagte er. "Aber er war gefasst und professionell. Das hat mir imponiert."

Eiskalt abserviert I

Weniger angetan war Dennis erwartungsgemäß vom Abflug seines zweiten Piloten noch vor dem Ende des ersten Umlaufs. Einen Schuldigen fand der erfolgsverwöhnte Teamboss schnell: "Ich kann es nie verstehen, wenn Fahrer behaupten, dass sie nichts sehen konnten, obwohl sie Rad an Rad gefahren sind und genau auf einer Linie waren. Ich kann nicht glauben, dass jemand ein Rennauto nicht sieht, das genau neben ihm ist."

Gemeint ist damit natürlich Jacques Villeneuve, der nach dem Rennen genau das behauptet hatte. "Ich wusste überhaupt nicht was geschieht. Er war auf der Außenseite, aber nicht neben mir. Es ist eine Rechtskurve, also schaut man nicht nach links und irgendwann ging ihm die Straße aus. Ich habe ihn nicht gesehen."

Der aufgebrachte Südamerikaner sah dies selbstverständlich anders. "Er hat die Schikane verpasst und ist dann immer weiter herüber gekommen, bis er mich von der Strecke gedrängt hatte", schäumte Montoya vor Wut. "Ich war zu 100% neben ihm und er drückte mich einfach ins Gras. Das hat uns womöglich einen Doppelsieg gekostet."

Eine Aussprache suchte Montoya aber nicht mit dem Kanadier. "Ich habe bessere Dinge im Leben zu tun", sagte er trocken. Villeneuve ließen diese Aussagen kalt. "Ich mache mir keine Sorgen." Besser wäre es aber gewesen. Denn die Rennkommissare folgten den Worten von Ron Dennis und erkannten den Ex-Champion des Abdrängens schuldig. Die 25 Sekunden Zeitstrafe schadete Villeneuve aber nicht. Er rutschte nur vom punktlosen 11. auf den ebenso punktlosen 12. Rang zurück.

Eiskalt abserviert II

Für noch größere Aufregung sorgte nach dem Rennen die innerjapanische Kollision zwischen dem Toyota von Jarno Trulli und dem Honda von Takuma Sato. "Ich habe nichts gegen Takuma", begann der ausgeschiedene Italiener seine Wutrede. "Er ist ein netter Kerl, aber wenn er im Cockpit sitzt, ist er ein anderer Mensch."

Und zwar ein Mensch, der laut Jarno "nicht denkt" und "nicht zuhört": "Er wird immer die gleichen Fehler machen. Er sorgt schon seit geraumer Zeit für Probleme und die FIA muss Schritte dagegen einleiten", forderte Trulli eine Bestrafung, welche von den Rennstewards nach Rennende auch ausgesprochen wurde: Sato wurde vom Rennergebnis ausgeschlossen.

Jarno hatte es geahnt, als er Taku im Spiegel entdeckte., Foto: Sutton
Jarno hatte es geahnt, als er Taku im Spiegel entdeckte., Foto: Sutton

"Als ich ihn im Rückspiegel sah, wusste ich, dass ich verloren war. Ich wusste, dass er es machen würde. Und er tat es auch!", erinnerte sich der Toyota-Pilot an die Anbahnung des Unheils zurück. "Aber nicht nur ich denke so. Viele Fahrer sehen es genauso. Er ist einfach nicht clever."

Für den wortkargen Japaner war es "einfach ein Rennunfall". "Wir waren sehr eng beieinander und ich bremste auf der Innenseite. Aber es gab nicht genügend Raum und wir kollidierten", lautete seine emotionslose Schilderung des Unfalls.

Sehr viel aufgeregter nahm Toyota-Teamchef Tsutomu Tomita die Situation auf: "Ich bin total verärgert. Was Sato gemacht hat war rücksichtslos", polterte der ansonsten ruhige Landsmann des Sünders los. "Ich befürworte einen aggressiven Fahrstil, aber Sato schießt weit über das akzeptable Maß hinaus. Das ist absolut gefährlich und unfair."

Die Teamanalyse

Renault Fernando Alonso stellte nach seinem 3. Rang eine kühne Behauptung auf; nämlich jene, dass sein R25 schneller oder zumindest auf einem Niveau mit dem MP4-20 von Kimi Räikkönen gelegen hat. Aufgrund seines vom Verkehr und etlichen Überholmanövern behinderten Rennens, konnte der Spanier diese Performance aber auf der Strecke nicht umsetzen. Ob sie tatsächlich stimmt, lässt sich nach dem größtenteils verregneten Wochenende ohnehin nur schwer beurteilen. Der Sieg des von Platz 17 gestarteten Finnen spricht jedenfalls eine andere Sprache. Nichtsdestotrotz sind die Chancen der Gelb-Blauen doch noch die Konstrukteurs-WM gewinnen zu können schlagartig gestiegen. Zwar hat man nur zwei Punkte Vorsprung auf McLaren, aber die Rolle des Teams hat sich vom klaren Außenseiter zum gleichberechtigten Mitfavoriten gewandelt.

Fisichella konnte nur einen McLaren links liegen lassen., Foto: Sutton
Fisichella konnte nur einen McLaren links liegen lassen., Foto: Sutton

McLaren Von 17 auf 1: Kimi Räikkönen und McLaren Mercedes bewiesen in Japan wieder einmal den überlegenen Speed ihres Pakets. Juan Pablo Montoya wurde derweil wieder einmal Opfer eines Zwischenfalls. Sollten die Silbernen am Ende in keiner der beiden WM-Wertungen vorne stehen, dann werden neben den technischen Gebrechen von Kimis Boliden auch die fehlenden doppelten Erfolgserlebnisse ein entscheidender Grund dafür sein. Um die Konstrukteurs-WM doch noch zu gewinnen, müssen die Silbernen in China also fast schon das schaffen, was ihnen bislang erst einmal in diesem Jahr gelungen ist: Ein Doppelsieg.

Ferrari Die Scuderia Ferrari ist von einem Sieg, geschweige denn einem Doppelsieg, beinahe ebenso weit entfernt, wie die Teamchefs von einer Einigung über das Reglement. Entsprechend mussten die Roten auch in Japan eingestehen, dass sie im Trockenen nicht konkurrenzfähig waren. Im starken Regen zeigte sich allerdings ein anderes Bild: Da konnte den Bridgestone-bereiften Italienern im wahrsten Sinne des Wortes niemand das Wasser reichen. Die Hoffnungen auf einen richtigen Regen-GP erfüllten sich allerdings abermals nicht.

Toyota Ebenso wenig erfüllten sich die großen Hoffnungen der Lokalmatadoren von Toyota. Die Weiß-Roten konnten von der "Traumchance" nicht profitieren, welche sich ihnen durch Ralf Schumachers vom Regen geschenkte Pole bot. Stattdessen fiel der Deutsche noch bis auf Rang 8 zurück. Verantwortlich machte man bei Toyota dafür die lange Safety-Car Phase, die es verhindert haben soll, einen ausreichend großen Vorsprung für die gewählte Dreistoppstrategie herauszufahren. Der Traum vom ersten GP-Sieg beim Heimrennen zerplatzte also schon nach wenigen Runden. Ansonsten hätte man vielleicht sogar ein doppeltes Wunder vollbringen können: Den ersten Sieg und den Angriff auf Ferrari in der Team-WM. Dort ist der dritte Platz nun endgültig verloren.

Der Jungle Boy zog sich nach seinem Fehler in den Busch zurück., Foto: Sutton
Der Jungle Boy zog sich nach seinem Fehler in den Busch zurück., Foto: Sutton

Williams Wie ein britisches F1-Auto aus der Asche erstanden die Weiß-Blauen im Rennen auf. Während Antonio Pizzonia bei seinem ersten Auftritt auf der Acht von Suzuka nur durch Dreher auffiel, konnte Mark Webber mit einer beherzten Fahrt Rang vier belegen. Woher der Leistungssprung der britisch-deutschen Allianz in ihrem vorletzten gemeinsamen Grand Prix aber kam, scheint das Team selbst nicht so genau zu wissen. Möglicherweise spielte das teilweise verregnete Wochenende und die dadurch beschränkte Abstimmungszeit für das trockene Rennen eine Rolle.

B·A·R Honda Nach dem ersten Saisondrittel hätte Jenson Button einen Luftsprung vollzogen, wenn er auch nur einen einzigen fünften Platz belegen hätte können. Doch zwei Rennen vor dem Saisonende und lange nach dem frustrierenden Saisonbeginn reicht Rang 5 für die Weißen nicht mehr aus. Besonders da Button aus der ersten Reihe ins Honda-Heimrennen gegangen war. Noch schlimmer verlief der Tag für Takuma Sato. Dieser konnte bislang in seinem Heimrennen immer über sich hinauswachsen. Bei seinem letzten Suzuka GP für British American Racing fiel er allerdings nur durch Ausrutscher und Unfälle auf. Die Achterbahnfahrt der Truppe aus Brackley setzt sich also weiter fort.

Red Bull Racing Ebenso wie Williams überraschte Red Bull Racing nach einigen eher wenig berauschenden Rennwochenenden in Japan mit einer starken Leistung. Im Rennen blieb den Bullenreitern aber das erwünschte Ergebnis verwährt. David Coulthard konnte zwar mit Platz 6 einige Zähler einfahren, aber nach den Startplätzen 4 und 6 für Klien und Coulthard hatten sich beide mehr versprochen. Schließlich sah man sich nicht zu unrecht auf einem Performance-Level mit Williams und British American Racing.

Felipe Massa fehlte in Suzuka die Pace., Foto: Sutton
Felipe Massa fehlte in Suzuka die Pace., Foto: Sutton

Sauber Nicht auf dem gleichen Level fuhr hingegen Sauber: Beide Fahrer beklagten sich über fehlenden Speed. Für die Schweizer bleibt somit nur noch ein Rennen, um sich gebührend in die weiß-blaue Zukunft als BMW-Werksteam zu verabschieden. In Japan hatten die Hinwiler jedenfalls keine Chance auf WM-Punkte. Da fiel dann auch die Zeitstrafe für Jacques Villeneuve nicht mehr ins Gewicht. Kein Wunder also, dass der Kanadier von einem alles andere als "glorreichen Tag" sprach.

Jordan In Brasilien riss die Zielankunftsserie von Tiago Monteiro, der zuvor in allen 16 Rennen die Zielflagge gesehen hatte. In Suzuka kehrte die Zuverlässigkeit in den Jordan Toyota des Portugiesen zurück. Mehr als Platz 13 war für ihn aber dennoch nicht drin. Wie Sauber steuern auch die Gelben, die einst von Namensgeber Eddie Jordan in den erlauchten Kreis der Top-3 geführt worden waren, am nächsten Wochenende in Shanghai auf ihren letzten Grand Prix unter diesem Namen zu.

Minardi Der dritte Abschied des China GP 2005 betrifft nach Sauber und Jordan das sympathischste Team der Boxengasse: Auch Minardi wird in Shanghai seinen letzten Grand Prix bestreiten, bevor ab 1. November die roten Bullen das Sagen in Faenza übernehmen werden. In Suzuka hätten sie beinahe die Möglichkeit für ein abschließendes Minardi-Wunder erhalten. Aber der starke Regen bescherte ihnen nur am Samstagmorgen im Freien Training einen kurzen Glücksmoment.

Die WM-Wertung: Showdown im Reich der Mitte

Bis wenige Runden vor dem Ende sah Giancarlo Fisichella wie der sichere Sieger des vorletzten Saisonlaufs aus. Doch dann kam der Ice Man und nutzte seine Chance seinem Spitznamen getreu eiskalt aus. Trotz der dadurch verlorenen Punkte, geht Fisichellas Renault-Team optimistisch in das Saisonfinale in Shanghai.

Noch steht eine Runde im Duell Silber gegen Gelb-Blau aus., Foto: Sutton
Noch steht eine Runde im Duell Silber gegen Gelb-Blau aus., Foto: Sutton

"Wir haben die Führung in der Team-WM wieder übernommen", freut sich Flavio Briatore über den 2-Punkte-Vorsprung. "In China gehen wir mit frischen Motoren einer brandneuen Evolutionsstufe an den Start. Noch ist alles möglich."

Auf dem Shanghai International Circuit möchte auch der amtierende Weltmeister Fernando Alonso wieder ganz vorne mitmischen. "Nach meinem 14. Podiumsresultat in 2005 möchte ich in China nun das 15. folgen lassen", kündigte der Spanier an.

Noch nicht klar ist, ob es in China erneut zu einer Sternstunde des Motorsports kommen wird, die für Ron Dennis ähnlich "lebendig und eindrucksvoll" sein wird wie Mika Häkkinens Manöver in Belgien. Ein einfaches "strategisches Manöver" während des Rennens würde dem Boss der Silbernen dazu aber nicht ausreichen. "Denn es ist etwas völlig anderes die einzige verbleibende Überholchance auf der letzten Runde eines Rennens zu nutzen."