Im Sonntagsrennen der DTM in Imola ging es wild zu in der Boxengasse: Grund für den Trubel war eine neue Regel, die in dieser Form erstmals in der deutschen Traditionsserie zum Einsatz kommt. So ist es laut Sportlichem Reglement 2022 erlaubt, den Pflicht-Boxenstopp während einer Safety-Car- oder Full-Course-Yellow-Phase zu absolvieren. In früheren Zeiten durften während einer solchen Neutralisationsphase zwar die Reifen gewechselt werden, das galt jedoch nicht als verpflichtender Pitstop.

Beim sechsten Saisonrennen in Imola kam die neue Regel erstmals richtig zur Geltung - und sorgte für Wirbel an unterschiedlichen Stellen, nachdem die Rennleitung in Folge des Ineichen/Preinings-Unfalls (Runde 4) das Safety Car auf die Strecke geschickt hatte. Nach dem Rennen in Italien ist klar: Vor dem nächsten Event auf dem Norisring (01.-03. Juli 2022) herrscht Gesprächsbedarf in der DTM.

Bortolotti/Auer-Kollision sorgt für Diskussionen

Viel diskutiert wurde etwa die Boxengassen-Kollision zwischen Mirko Bortolotti (GRT-Lamborghini) und Lucas Auer (Winward-Mercedes) in Runde 6. Nach der Abfahrt vom Boxenplatz traf der Lamborghini-Werksfahrer mit seiner linken Fahrzeugseite die Front von Auers Mercedes. Der Österreicher befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit vollem Fahrzeugumfang in der Fast Lane.

Deutlich zu sehen: Auer wurde vom aus der Working Lane ausscherenden Bortolotti leicht in die Mauer auf Höhe der Kommandostände gedrückt und verlor durch den Lambo-Kontakt ein Teil des Frontsplitters. Bortolotti, der nach Auer in die Boxengasse gefahren war, gewann eine Position gegen seinen Mercedes-Kontrahenten. Noch während der anhaltenden Safety-Car-Phase ordnete die Rennleitung einen Platztausch zwischen Bortolotti und Auer an.

Im Fahrerlager fragten sich einige Beobachter im Anschluss, ob Bortolotti bzw. sein Team nicht härter für die Boxengassen-Kollision hätten bestraft werden müssen. Es handele sich immerhin um ein Sicherheits-Thema, hieß es. Im Reglement sind keine konkreten Strafen für ein Unsafe Release - oder andere Vergehen - genannt. Es liegt in der Macht des Rennleiters oder der Stewards, gegebenenfalls eine Strafe auszusprechen.

Auer-Teamchef: "Das Thema kommt auf den Tisch"

"Natürlich waren wir darüber nicht erfreut", sagte Auers Winward-Teamchef Christian Hohenadel zu Motorsport-Magazib.com mit Blick auf den Crash. "Aber was bringt es, wenn wir ein Fass aufmachen und ich mich oder wir uns über die Entscheidung des Renndirektors aufregen. Er hat eine Entscheidung getroffen, die wir - ob sie uns gefällt oder nicht - akzeptieren müssen."

Gleichzeitig merkte Hohenadel vor dem nächsten Lauf am Nürnberger Norisring mit seiner aus Platzgründen traditionell eng angelegten Boxengasse an: "Ich habe bei der ITR angekündigt, dass dieses Thema beim nächsten Teammanager-Meeting auf den Tisch kommt."

Feller/Fraga: Kein Unsafe Release laut Regelbuch

Es dürfte nicht der einzige Punkt auf der Agenda bleiben. So beschwerte sich Rennsieger Ricardo Feller (Abt-Audi) im Gespräch mit Motorsport-Magazin.com über das Vorgehen von Felipe Fraga (AF-Corse-Ferrari) während der hektischen Boxenstopp-Phase, als in der 6. Runde 13 Fahrer ihren Pflicht-Reifenwechsel absolvierten, um unter dem Safety Car möglichst wenig Zeit zu verlieren.

DTM-Neueinsteiger Feller: "In meinen Augen war das von Fraga ein Unsafe Release. Sobald ich in der Fast Lane bin und wegen eines anderen Autos bremsen muss, ist das meiner Meinung nach ein Unsafe release. Er war zwar ein Stück vor mir, ich musste aber bremsen, weil er langsamer war - ich musste voll in die Eisen. Das sollen aber die Teamchefs unter sich und mit dem Renndirektor ausmachen."

Wie auf den Bildern gut zu sehen war, lief Feller mit deutlich höherem Tempo - in der Boxengasse herrschen 60 km/h Höchstgeschwindigkeit - auf den Ferrari von AF-Corse-Pilot Fraga auf. Zu einer Kollision kam es nicht. Tatsächlich gibt es für dieses Vorgehen keine eindeutige Erklärung im DTM-Reglement 2022. In Artikel 15.2 heißt es nur: "Es liegt in der Verantwortung der Fahrer, die Box und/oder die Working Lane ohne Gefährdung anderer zu verlassen."

Dazu sei gesagt: Schon unter den Regeln 2021 galt Fragas Aktion nicht unbedingt als Unsafe Release. In einem Passus, der 2022 gar nicht mehr im Regelbuch auftaucht, hieß es letztes Jahr: "Allein die Tatsache, dass ein Fahrzeug auf der Fast Lane abbremsen muss, um eine Kollision mit einem Fahrzeug zu vermeiden, das von der Working Lane kommt, gilt nicht als Gefährdung."

Ebenfalls im Gegensatz 2021 nicht mehr im Sportlichen Reglement 2022 vorhanden ist dieser Absatz, der bei der Bortolotti/Auer-Aktion theoretisch zur Anwendung hätte kommen können: "In jedem Fall ist es aber unzulässig von der Working Lane auf die Fast Lane zu wechseln, wenn es im Moment des Wechselns eine Überdeckung mit einem Fahrzeug auf der Fast Lane gibt."

Götz: "Potenzial schon sehr hoch, dass etwas passiert"

Der amtierende DTM-Champion Maximilian Götz (Winward-Mercedes) sagte zu Motorsport-Magazin.com: "In der Box war Riesen-Action, weil alle so dicht beieinander waren. Es war einiges los, wie bei Lucas und Bortolotti. Da ist das Potenzial schon sehr hoch, dass etwas passiert. An sich finde ich die neue Boxenstopp-Regel aber okay."

Neben Bortolotti/Auer und Fraga/Feller ereignete sich ein weiterer Vorfall während der Boxenstopp-Phase in Runde 6: Zwischen dem Schubert-BMW von Sheldon van der Linde und dem GRT-Lamborghini von Clemens Schmid kam es zu einem leichten Kontakt, der ohne Folgen blieb. Auslöser hierfür war die Bortolotti/Auer-Aktion, denn: Schmid musste hinter Auer kurz lupfen, wodurch van der Linde geradeso vorbeikam. Dadurch und durch den vergleichsweise langsamen Reifenwechsel verlor Schmid in der Box drei Positionen.

Glock-Team bestraft: "Einfach völliges Chaos"

Weitere Positionswechsel in der Boxengasse: Luca Stolz überholte Marco Wittmann und Maximilian Götz kam an Timo Glock vorbei. Dabei zeigte der Reifenwechsel von Glocks BMW-Gaststarter-Team Ceccato Racing eindrucksvoll, was bei mangelnder Erfahrung mit den Performance-Boxenstopps ohne Mindeststandzeit so alles schiefgehen kann. Das Team kassierte später eine Geldstrafe in Höhe von 2.500 Euro, weil sich der Luftschlauch eines Schlagschraubers an Glocks Heckflügel verfangen hatte und der BMW-Fahrer dadurch die Anlage mitnahm.

Glock zu Motorsport-Magazin.com: "Wir hatten einen chaotischen Boxenstopp, da haben wir acht Sekunden verloren. Wir hatten ein Problem mit dem Schlagschrauber und dem Aufbocksystem - das Auto ging nicht richtig hoch. Dann ist das Auto runtergefallen, obwohl das Rad noch nicht drauf war. Dadurch musste das Auto wieder hoch. Einfach völliges Chaos."

Boxenstopp-Regel: Vorteil für Titelkandidaten

Eine weitere Regel sorgte für zusätzliche Hektik unter den Teams. Laut Artikel 23.1 dürfen während einer SC- oder FCY-Phase nicht zwei Autos ihren Boxenstopp an der selben Station in der selben Runde absolvieren. Das könnte noch spannend werden, wenn sich der Titelkampf zuspitzt, denn: Die Teams müssen im Zweifelsfall entscheiden, welchen ihrer Fahrer sie zuerst an die Box beordern und ihm dadurch einen Vorteil im Vergleich zum Teamkollegen verschaffen.

Am Sonntag in Imola hatte etwa der von P6 gestartete Nick Cassidy (AF-Corse-Ferrari) Pech, weil das Team in Runde 6 zunächst den von P2 gestarteten Fraga an der Box abfertigte. Cassidy hätte erst in Runde 7 reinkommen können, blieb aber deutlich länger draußen in der Hoffnung auf ein weiteres Safety Car. Das kam nicht, und so musste sich der Neuseeländer mit Platz 17 begnügen.

Philipp Eng, Kelvin van der Linde, Mikael Grenier, David Schumacher und Alessio Deledda verloren ebenfalls Plätze, weil sie eine Runde später als ihre Teamkollegen stoppten - die allerdings allesamt im Rennen bereits besser positioniert waren. Schubert-BMW-Pilot Eng, der auf der Strecke durch die Boxenstopp-Phasen einige Positionen verlor, zu Motorsport-Magazin.com: "Es hieß, dass ich draußen bleiben soll. Das ging alles so schnell."

DTM Imola 2022: Highligths zum Sonntags-Rennen (04:00 Min.)

Ein-Mann-Team-Rast: "Riesenvorteil in solchen Momenten"

Wohl dem dritten Fahrer eines Rennstalls, der ein eigenes Team bildet, weil ein Team (Wettbewerber) aus maximal zwei Fahrern bestehen darf. So wie bei Samstags-Sieger Rene Rast ('Team ABT') und DTM-Champion Maximilian Götz ('Mercedes-AMG Team Winward Racing'), die bei Boxenstopps ihren eigenen Boxenplatz haben und sich nicht mit Teamkollegen in die Quere kommen können.

"Da haben wir ein bisschen Glück", räumte Götz ein, und Rast bestätigte bei Motorsport-Magazin.com: " Ich bin der einzige Fahrer in unserem Team und habe einen Riesenvorteil in solchen Momenten." Pech hatte der dreifache DTM-Champion allerdings am Sonntag, als er kurz vor den Boxenstopps wegen eines Reifenschadens ausfiel - und vor allem nicht die Möglichkeit hatte, mit seinem Audi an die Box zu schleichen, um möglicherweise in Anlehnung an einen bekannten Simspons-Spruch 'einen Gore zu bauen'.

'Einen Gore bauen': Rast im Pech

Rast erklärte: "Theoretisch hätte ich mich mit dem Reifenschaden an die Box schleppen können und wäre dann vielleicht mit Dev Gore zusammen reingekommen. Leider hat es aber auch einen Sensor beschädigt und das Auto hat kein Gas mehr angenommen. Sonst hätten wir vielleicht richtig Glück gehabt!"

Das hatte stattdessen Dev Gore (Rosberg-Audi) auf seiner Seite bei seinem ersten DTM-Podest und seinen ersten Punkten überhaupt im 19. Rennen. Wegen eines ungeplanten Boxenstopps in Folge eines Reifenschadens nach dem Start, fuhr der US-Amerikaner dem Feld hinterher, als das Safety Car auf die Strecke abbog und sich pünktlich zur zehnten Rennminute das Boxenstoppfenster öffnete.

Das Boxenstoppfenster dürfte maximal 10 Sekunden offen gewesen sein, als Gore in Runde 5 abbog und einen neuen Satz der Michelin-Reifen aufziehen ließ. Verrückt: Wenige Meter vor ihm steuerte auch Arjun Maini (HRT-Mercedes) die Box an. Nach Informationen von Motorsport-Magazin.com war der Inder aber 6 (sechs!) Sekunden zu früh dran - sein Reifenwechsel zählte deshalb nicht als Pflicht-Stopp, er musste später noch einmal durch die Boxengasse.

Fazit: Galten die vorigen fünf Rennen der DTM-Saison 2022 als eher langweilig, sorgten die neuen Boxenstopp-Regeln in Verbindung mit dem Safety Car für einen packenden Imola-Thriller, der mit Blick auf die Sicherheit in der Boxengasse aber noch ein Thema in der DTM bleiben dürfte.