29,294 Sekunden, oder auch: das Regen-Wunder von Assen. Beim Sonntagsrennen der DTM auf dem niederländischen TT Circuit gelang Sheldon van der Linde das Kunststück, innerhalb von nur elf Runden fast eine halbe Minute zum Führenden Robin Frijns aufzuholen.

Der Monster-Stint des BMW-Fahrers führte schließlich zum ersten Sieg in der DTM. Ein Triumph, den während der 31 Runden in Assen kaum jemand auf dem Schirm hatte, denn: Van der Linde fuhr über weite Strecken völlig unter dem Radar.

Große Augen machten auch viele Experten, als der junge Südafrikaner nach Frijns' Boxenstopp plötzlich mit 7,2 Sekunden das Feld anführte. Im aufregenden Regenrennen von Assen bekam kaum jemand mit, dass van der Linde nach seinem frühen Boxenstopp in Runde 10 eine 'Qualifying-Runde' nach der anderen raushämmerte und im Schnitt fast 2,5 Sekunden auf den lange Zeit führenden Lokalmatador und Samstagssieger Frijns gutmachte.

"Eine ganze Weile war mir nicht klar, was auf der Strecke abgeht", räumte van der Linde ein. "Auf meinem zweiten Satz Regenreifen bin ich mein eigenes Rennen gefahren und hatte keine Referenz. Es kam ziemlich unerwartet, dass nach den Boxenstopps von Robin und Nico plötzlich P1 auf meinem Dashboard aufleuchtete!"

DTM Assen 2020, Rennen 2: Regen-Krimi als Video-Zusammenfassung (03:29 Min.)

Reifendruck durch frühen Stopp korrigiert

Den Schlüssel zum Sieg vom 14. (!) Startplatz bildete die Strategie. Nach Robert Kubica (Runde 6) und Jamie Green (Runde 8) steuerte van der Linde in der 10. Runde als dritter Fahrer im Feld die Boxengasse an, um einen frischen Satz Hankook-Regenreifen aufziehen zu lassen. Zuvor hing der 21-Jährige hinter seinen BMW-Markenkollegen Marco Wittmann und Philipp Eng auf der 14. Position fest.

Die Strategie, van der Linde aus dem dichten Verkehr rauszuziehen, hatte mehrere Vorteile. Nicht nur konnte er im Anschluss auf freier Strecke und mit besserer Sicht fahren - vor allem eine Anpassung der Reifendrücke spielte in die Karten. Aufgrund der unsteten Wetterbedingungen und in Erwartung stärkeren Regens waren einige Fahrer mit zu hohen Drücken ins Rennen gestartet. Allerdings trocknete die Ideallinie auf dem zu Jahresbeginn neu asphaltierten Streckenbelag schneller auf als angenommen.

"Man kann was riskieren und manchmal klappt es mit hohen Reifendrücken in den Regenreifen. Nach vier bis sechs Runden war aber klar, dass unser Reifendruck zu hoch war", erklärte Wittmann, der in Runde 11 - einen Umlauf nach van der Linde - die Reifen wechseln ließ und die Ziellinie von Startplatz elf als Siebter überquerte.

Trotz ähnlicher Strategie ging es für Wittmann nicht so weit nach vorne wie beim jungen BMW-Markenkollegen: "Wir waren gut im zweiten Stint, aber nicht so schnell wie Sheldon. Er hat den Sweet Spot mit den Reifen gefunden, seine Rundenzeiten waren außergewöhnlich."

DTM Assen: Stint-Analyse (Top-5)

PositionFahrerStint 1Stint 2
1Sheldon van der Linde10 Rd. (137.420 km/h)21 Rd. (107.121 km/h)
2Robin Frijns22 Rd. (152.794 km/h)9 Rd. (72.009 km/h)
3Nico Müller21 Rd. (151.537 km/h)10 Rd. (76.656 km/h)
4Loic Duval16 Rd. (147.053 km/h)15 Rd. (93.412 km/h)
5Rene Rast22 Rd. (151.499 km/h)9 Rd. (72.481 km/h)

Spitzengruppe verzichtet auf Risiko

Bei den durchweg regnerischen Bedingungen und auf Wet-Reifen hielten sich die sonst eklatanten Performance-Unterschiede zwischen Audi und BMW in Grenzen. Das zeigte zunächst vor allem Timo Glock, der als einziger BMW-Pilot die Audi-Armada aufmischte und zum Ende des 1. Stints den zweiten Platz belegte.

Glock wählte die gleiche Strategie wie die meisten Fahrer in der Spitzengruppe: ein möglichst langer erster Stint, um auf Wetterveränderungen reagieren zu können. Der frühere Formel-1-Fahrer wechselte in Runde 22 auf einen neuen Satz Regenreifen, ebenso wie Rene Rast und Spitzenreiter Robin Frijns. Nico Müller hatte seinen Pflicht-Boxenstopp im 21. Umlauf absolviert.

Müller: Wir haben nichts falsch gemacht

"Wir haben nichts falsch gemacht", war der Drittplatzierte Müller im Anschluss überzeugt. "Bei Sheldon haben sie mehr riskiert mit dem frühen Wechsel auf Regenreifen. Aus unserer Position heraus war die Strategie richtig."

Gemeint war die Zeit des BMW-Stopps, als sich eine Verbesserung der Streckenverhältnisse andeutete. Sechs Runden nach van der Lindes Reifenwechsel kam Audi-Fahrer Loic Duval an die Box und bettelte förmlich um Slick-Reifen. Seine Bitte wurde nicht erhört, der Franzose erhielt einen neuen Satz Regenreifen - zum Glück, denn wenig später nahm der Regen erneut zu. Das bekam Phoenix-Teamkollege Mike Rockenfeller zu spüren, der tatsächlich Slicks erhielt, wenig später aber auf Regen-Reifen zurückwechseln musste.

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Van der Linde knapp 3 Sekunden schneller

In einem Rennen mit vielen Unbekannten fuhr van der Linde seinen eigenen Stiefel runter. Obwohl Frijns als Führender wesentlich bessere Sicht und grundsätzlich die stärkere Auto-Basis hatte, rauschte van der Linde Runde für Runde heran. In den Runden 15 und 16 knöpfte er dem Audi-Piloten jeweils 2,7 Sekunden ab, in Runde 20 waren es sogar knapp 2,9 Sekunden.

Bis zu Frijns' Boxenstopp in Runde 22 hatte sich van der Linde auf den vierten Platz bei einem Rückstand von 30,5 Sekunden nach vorne gekämpft. Der Lokalmatador verbrachte die solide Zeit von 43,565 Sekunden in der Boxengasse und musste bei der Rückkehr auf die Strecke mitansehen, wie van der Linde locker die Führung übernahm. Seine 7 Sekunden Vorsprung sollten jedoch nur von kurzer Dauer sein.

Stint-Vergleich: Van der Linde gegen Frijns

RundeVan der LindeFrijnsZeitgewinn van der Linde
121:38.1081:37.632+ 0,476
131:36.4221:37.875- 1,453
141:36.2761:38.242- 1,966
151:35.8541:38.547- 2,693
161:36.1101:38.878- 2,768
171:36.7461:38.869- 2,123
181:37.1171:39.044- 1,927
191:36.3261:38.920- 2,594
201:37.4861:40.359- 2,873
211:38.4961:39.913- 1,417
221:37.8621:47.297 (Pit)- 9,435
231:40.2302:17.971 (Outlap)- 37,741

Scherer-Unfall kostet van der Linde 7 Sekunden

In Runde 23 flog DTM-Rookie Fabio Scherer auf weiterhin regennasser Fahrbahn mit seinem WRT-Audi - mit Slicks bereift - von der Strecke ab und knallte in die Reifenstapel. Die anschließende Safety-Car-Phase sowie der nachfolgende Rennabbruch kosteten van der Linde acht Runden vor dem Zieleinlauf den komfortablen Vorsprung auf die Audi-Verfolger Frijns und Müller.

Die Meinungen gingen stark auseinander, wer mehr von der Rotphase profitierte. Van der Linde ärgerte sich vor allem über den verlorenen Vorsprung. Aber: Die Unterbrechung bot ihm die Gelegenheit, ganz ohne Zeitverlust einen frischen Satz Regen-Reifen aufziehen zu lassen. "Wir brauchten bei dem starken Regen möglichst viel Grip, haben ein paar Setupänderungen vorgenommen und neue Reifen aufgezogen", erklärte van der Linde.

Dadurch glich van der Linde den Nachteil der älteren Reifen gegenüber Frijns (12 Runden frischere Reifen) und Müller (11 Runden frischere Reifen) 'kostenlos' aus. Allerdings war der 21-Jährige sicher, dass er auch mit seinem alten Reifensatz eine Chance gehabt hätte: "Ich war weit vor Robin und die Reifen waren noch gut. Sie hätten die Lücke sicherlich geschlossen, wären aber nicht nah genug rangekommen, um anzugreifen."

Van der Linde merkte zudem an, dass er seine Reifen kontrollierte und bei Bedarf schneller hätte fahren können. In den Runden 13 bis 19 fuhr das BMW-Juwel mit einer Ausnahme mittlere 1:36er-Rundenzeiten. In den Runden 20 bis 23 (bis zum Scherer-Unfall) war eine 1:37.486 in der 20. Runde seine beste Zeit.

DTM Assen: Bestzeiten-Vergleich (Top-5)

PositionFahrerPersönliche BestzeitAbstandin Runde
1Sheldon van der Linde1:35.85415
2Loic Duval1:36.7230.86920
3Marco Wittmann1:36.9381.08416
4Lucas Auer1:37.1501.29616
5Robin Frijns1:37.4291.57511

Müller: Ohne rote Flaggen hätten wir überholt

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir ihn ohne die roten Flaggen überholt hätte", sprach Müller für seinen Abt-Teamkollegen Frijns. "Bei einem normalen Verlauf hätten Robin und ich den Sieg unter uns ausgemacht. Aber Sheldon hat einen sehr guten Job gemacht und musste seine neuen Reifen nach dem Re-Start erst mal ans Laufen bekommen. Das ist ihm perfekt gelungen."

Da Müller und Frijns ihre Reifen gerade erst gewechselt hatten, sparten sie sich einen weiteren Reifentausch während der Unterbrechung - und hofften auf einen Vorteil beim Re-Start gegenüber van der Linde, der seine brandneuen und ungeheizten Reifen erst einmal ins richtige Arbeitsfenster bringen musste und dafür zwei Runden Zeit hinter dem Safety Car hatte.

Heikler Re-Start

Woran Glock scheiterte und nach dem Re-Start zwei Plätze verlor ("Ich bekam die Reifen nicht auf Temperaturen"), das gelang van der Linde mit Bravour. "Ich musste mich wirklich reinhängen, um einen guten Re-Start hinzubekommen", sagte er nach seinem 26. DTM-Rennen. Dass Hintermann Frijns mit Blick auf die Meisterschaft eher in die Rückspiegel und damit auf Müller schaute, schadete sicherlich auch nicht.

Nach einer mutigen Meisterleistung in Assen hatte van der Linde beim Zieleinlauf 2,6 Sekunden Vorsprung auf Frijns und eroberte seinen ersten Sieg in der DTM. Es war der zweite für BMW seit dem Risiko-Doppelsieg auf dem Lausitzring sowie der 40. für die Münchner seit dem Tourenwagen-Comeback 2012.