"Ich werde alle Leute in diesem Paddock vermissen. Sogar euch Journalisten!" So verabschiedet sich Andrea Dovizioso am 4. September im prall gefüllten Pressezentrum des Misano World Circuit Marco Simoncelli aus dem Paddock, das seit 2001 sein sportliches Zuhause war. Medientermine waren dabei nie seine liebste Beschäftigung. Ein Gefühl, das er mit dem Großteil seiner Fahrerkollegen teilt. Und doch war es stets eine Freude, Doviziosos Ausführungen zu lauschen. Präzise, ruhig und ausführlich wie kaum ein anderer Fahrer konnte er erklären, was es bedeutet, ein 300 PS starkes MotoGP-Bike zu fahren. "Mit Dovi verlieren wir den letzten echten Oldschool-Racer", sagt Cal Crutchlow, langjähriger Wegbegleiter und für die letzten sechs Saisonrennen Doviziosos Ersatz im RNF-Yamaha-Team.
Eine treffende Einschätzung, denn Andrea Doviziosos Karriere auf seine sportlichen Erfolge zu reduzieren, wäre zu kurz gegriffen. 24 Grands-Prix-Siege, 103 Podiumsplatzierungen und ein Weltmeistertitel sprechen für sich, doch die Bedeutung Doviziosos für den Motorradsport geht über diese Kennzahlen hinaus. Er war und ist ein Vorbild für viele seiner Kollegen ebenso wie für die nächste Generation an Zweiradpiloten. Mit einer beeindruckenden Arbeitsethik und eisernem Willen schaffte es Dovizioso, der zweifelsohne nicht mit dem natürlichen Talent eines Valentino Rossi oder Marc Marquez gesegnet war, sich jahrelang im Spitzenfeld der MotoGP festzusetzen. Er führte Ducati aus der sportlichen Bedeutungslosigkeit zurück zum Erfolg, von 2017 bis 2019 musste er sich drei Mal in Serie nur dem damals in Überform agierenden Marc Marquez geschlagen geben.
Seine Akribie und sein Verständnis für die Details der Königsklasse brachte ihm den Spitznamen des Professors ein. Wird ein solcher in den Ruhestand versetzt, spricht man von der Emeritierung, dem Entbinden von seiner Lehrtätigkeit. Zuvor gestattet Andrea Dovizioso dem Motorsport-Magazin aber eine letzte Lehrveranstaltung.
MSM: Andrea, wie fühlt es sich an, nach 22 Saisons in der Motorrad-Weltmeisterschaft in seinen 346. und letzten Grand Prix zu gehen? Wie bereitet man sich auf so etwas vor?
ANDREA DOVIZIOSO: Für mich hat es sich eigentlich sehr ähnlich angefühlt wie an einem ganz normalen Rennwochenende. Wie jeder weiß, bin ich ein sehr rationaler Mensch. Eine Entscheidung wie die über das Karriereende, treffe ich ja nicht über Nacht. Ich nehme mir viel Zeit, um über solche Dinge nachzudenken. Meine Entscheidung ist also wohlüberlegt und dann kann man auch das letzte Rennen genießen.
Konntest du die Rennen in dieser Saison wirklich genießen?
Bei meinen Resultaten in diesem Jahr war es natürlich schwierig. Ich konnte nicht so fahren, wie ich das wollte und dann hast du natürlich auch nicht die größtmögliche Freude auf einem MotoGP-Bike. Das ist zweifelsohne sehr schade, aber ich kann damit leben. Für mich ist das kein Problem. Ich wollte in den letzten Rennen einfach nur die Zeit mit den Leuten um mich genießen und noch einmal die Unterstützung der Fans spüren. Das war sehr schön.
Ist es das, was du in 22 Jahren WM am meisten genossen hast? Diese besondere Verbindung mit anderen Menschen?
In diesem Beruf gibt es viele schöne Dinge. Wir alle, die diesen Job ausüben dürfen, können uns sehr, sehr glücklich schätzen. Ich habe es geliebt, um die Welt zu reisen und wenn du ein guter Fahrer bist, dann erhältst du dabei auch noch großartigen Support von deinem Arbeitgeber. Dann kannst du die Flüge, die Hotels und all die Orte, die du bereist noch viel mehr genießen. Dazu kommt noch die unglaubliche Begeisterung der Fans. Es gibt also viele Dinge, die man an der MotoGP lieben kann, aber wenn du nach mehr als zwanzig Jahren nicht mehr konkurrenzfähig bist, dann macht es auch keinen Spaß mehr.
Nur wenige Fahrer waren so lange in der Weltmeisterschaft wie du. Valentino Rossi war einer von ihnen. Er hat vor seinem Rücktritt oft erklärt, er fürchte sich vor der Rennfahrer-Rente. Immerhin habe er ja seit seiner Jugend sein ganzes Leben dem Sport gewidmet und kenne keinen normalen Alltag. Wie sieht es in dir aus?
Angst vor dem Rücktritt hatte ich eigentlich nie. Ich spüre schon eine gewisse Emotion in mir, aber die würde ich nicht als Angst bezeichnen. Ich habe zuhause ja immer ein normales Leben geführt und mich nie wie ein VIP oder ein Rockstar verhalten. Deshalb wird sich für mich nicht so viel ändern. Ich habe in der MotoGP gutes Geld verdient und konnte mir mein Leben dadurch erleichtern, aber ich habe diesen Sport im Endeffekt immer aus meiner Leidenschaft für Motorräder heraus gemacht. In Zukunft werde ich dieser Leidenschaft wieder beim Motocross und in ein paar anderen Projekten nachgehen. Die größte Veränderung wird wohl sein, dass mich die Leute nicht mehr als den Motorradstar der letzten zwei Jahrzehnte sehen.
Wir haben jetzt viel über die schönen Seiten der MotoGP gesprochen. Unser Sport kann oft aber auch hart und grausam sein. Rückblickend betrachtet: Bereust du etwas an der Karriere?
Auf jeden Fall! Jeder, der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner. Man kann immer gewisse Dinge besser machen. Das ist doch ganz normal und macht uns alle menschlich. Fehler muss man sich im Nachhinein auch eingestehen, aber sich darüber zu ärgern bringt nichts. Ich versuche immer, in allem etwas Positives zu sehen. Ich kann mit meiner Karriere und meiner Lebenssituation sehr zufrieden sein. Eine Menge Leute haben großen Respekt für mich.
Du sagst, sich im Nachhinein zu ärgern, bringt nichts, aber viele Fahrer würden sich an deiner Stelle wahrscheinlich sehr über eine Entscheidung von Michelin im Jahr 2020 ärgern. Sie haben sich damals als exklusiver Reifenlieferant der MotoGP für die Einführung eines neuen Hinterreifens entschieden, der für dich einen massiven Karriereknick bedeutet hat. Wie schwierig ist es, so etwas zu akzeptieren? Du hattest damals ein wirklich starkes Motorrad, bist super gefahren und dann kommt ein externes Hindernis, das du nicht beeinflussen kannst?
Es war hart. Ich habe einfach nicht herausgefunden, wie ich mit diesem Reifen umgehen muss und das war ein mieses Gefühl. Aber so ist der Rennsport eben manchmal. Gewisse Bauteile ändern sich, Regeln ändern sich. Das gehört dazu. Ich muss aber auch dazu sagen: Die schwächeren Resultate in der Saison 2020 sind nicht nur auf diesen neuen Hinterreifen zurückzuführen. Damals sind auch andere Dinge vorgefallen. Alles zusammen hat dann dafür gesorgt, dass es ein sehr schwieriges Jahr wurde.
Die anderen Dinge waren unter anderem dein zusehends schlechter werdendes Verhältnis mit deinem damaligen Arbeitgeber Ducati?
Es waren viele Dinge.
Deine Geschichte mit Ducati war lange Zeit ein echtes Märchen. Ihr habt ganz unten begonnen und wärt 2017 beinahe gemeinsam Weltmeister geworden. 2020 kam es dann zu dieser unrühmlichen Trennung. Schmerzt dir das noch, wie dieses Verhältnis geendet ist?
Es ist immer schade, wenn eine Beziehung so zu Ende geht - ganz egal von welcher Art Beziehung wir sprechen. Vor allem, weil ich eigentlich eine Person bin, die versucht, mit allen Menschen ein gutes Verhältnis zu haben. In diesem Fall hat es leider dennoch im Bösen geendet. Ich möchte aber festhalten, dass ich mit Ducati an sich kein schlechtes Verhältnis habe. Ich habe ein schlechtes Verhältnis mit manchen Leuten bei Ducati. Das ist ein Unterschied.
Zurück zum Sport: Ist es richtig, zu sagen, dass du in dieser Saison 2020 nicht nur deinen Fahrstil ändern musstest, sondern eigentlich deinen kompletten Charakter als Rennfahrer?
Ja, dieser neue Hinterreifen hat zu zwei großen Veränderungen geführt. Was meinen Fahrstil betrifft, war ich immer extrem stark auf der Bremse. Diese Stärke konnte ich aber plötzlich nicht mehr ausspielen. Und was die Taktik im Rennen angeht, hat sich das Reifenmanagement völlig geändert. Man musste nun deutlich weniger darauf achten, aber genau dieses Verwalten der Reifen war zuvor auch eine meiner Stärken. Diese zwei Dinge waren für mich entscheidend.
Du hast dir dann 2021 eine Auszeit genommen, bist durch den Rauswurf von Maverick Vinales bei Yamaha im Herbst zu einem Comeback gekommen und hast für 2022 beim RNF-Team unterschrieben. Deine Ziele hast du klar formuliert. "Ich sitze auf einem Factory-Bike, also will ich um den Weltmeistertitel kämpfen", waren damals deine Worte. Davon warst du leider weit entfernt. Wann wurde dir klar, dass dieses Projekt nicht funktionieren wird?
Ich hatte auf dem Motorrad von Anfang an ein Feeling, das ich nicht erwartet hatte. Das Motorrad hat sich eigenartig angefühlt. Wenn du in deiner Karriere aber so erfolgreich warst wie ich, dann bedeutet das, dass du eine Menge wichtiger Erfahrungen vorweisen kannst. Es zeigt, dass du über viele Rennwochenenden und all die Jahre zusammen mit deinen Teams Lösungen erkannt hast. Du hast richtig gearbeitet und immer einen Weg gefunden.
Dementsprechend denkst du, dass du auch in diesem Fall eine Lösung finden kannst, obwohl deine Erwartungen zunächst nicht erfüllt werden. Du glaubst, dass es mit der nötigen Ruhe und viel harter Arbeit schon funktionieren wird. Das war mein Zugang, aber dass es dem Motorrad an Grip fehlt, habe ich sofort erkannt.
Generell gesprochen: Ist es überhaupt möglich, von einem V4-Bike wie der Ducati auf einen Reihenvierzylinder wie bei Yamaha zu wechseln - oder auch in die Gegenrichtung - und dabei sofort schnell zu sein? Mit dieser Umstellung hatten ja in den letzten Jahren auch andere Spitzenfahrer große Probleme. Jorge Lorenzo etwa bei seinem Transfer von Yamaha zu Ducati oder Maverick Vinales, als er von Yamaha zu Aprilia gewechselt ist.
Ich denke nicht, dass das möglich ist. Sofort schnell zu sein ist zumindest sehr schwierig, deshalb hatten damit zuletzt auch große Champions ihre Probleme. Eine klare Antwort kann ich dir auf diese Frage aber nicht geben. Ich glaube, dass beispielsweise niemand wirklich weiß, wieso es der Yamaha an Grip fehlt. Gäbe es dieses Problem nicht, hätte ich meiner Meinung nach sehr konkurrenzfähig sein können. Diese Frage kann ich also unmöglich richtig beantworten. Jetzt habe ich dir eine tolle Antwort gegeben, ohne wirklich zu antworten (lacht).
Denkst du, deine Pause zu Saisonbeginn 2021 hat die Umstellung auf die Yamaha zusätzlich erschwert?
Wenn ich an den letzten fünf Rennen gegen Ende 2021 nicht teilgenommen hätte, wäre es auf jeden Fall noch schwieriger geworden. Insgesamt hätte sich aber wohl nicht viel geändert.
Du hattest auch die Chance, 2022 für Aprilia zu fahren. Während deiner Auszeit als MotoGP-Fahrer hast du die RS-GP mehrmals getestet. In diesem Jahr ist das Motorrad sehr konkurrenzfähig. Denkst du, ein Comeback mit Aprilia wäre erfolgreich verlaufen?
Ich weiß es nicht. Und wir werden es auch nie herausfinden. Der aktuelle Charakter der Yamaha M1 passt sicher nicht gut zu meinem Fahrstil. Wenn ich auf einem Motorrad sitzen würde, dass seine Stärken eher im Stop-And-Go-Bereich hat, wäre ich sicher etwas stärker. Ich glaube aber, dass die jüngsten Entwicklungen sehr gut sind für Aprilia. Sie brauchten einen Fahrer wie Maverick Vinales, der nicht nur sehr talentiert, sondern auch extrem motiviert ist. Aprilia hat tolle Arbeit geleistet und ich freue mich für sie und Maverick gleichermaßen. Ich durfte das Projekt bei unseren gemeinsamen Testfahrten etwas kennenlernen. Die Stimmung dort ist wirklich gut. Massimo Rivola hat ein großartiges Teamgefüge aufgebaut.
Deine MotoGP-Karriere ist nun zu Ende. Viele deiner ehemaligen Kollegen sind anschließend in die Superbike-WM gewechselt, zuletzt etwa Alvaro Bautista, Scott Redding, Iker Lecuona oder Hafizh Syahrin. War das für dich nie eine Option?
Nein. Es ist aber nicht so, dass ich etwas an der Superbike-WM auszusetzen hätte. Das Level dort ist großartig. Ich bin ganz einfach nie ein Superbike gefahren, abgesehen vom Grand-Prix-Sport war ich nur auf Stock-Maschinen oder modifizierten Straßenbikes unterwegs. Der Umstieg wäre für mich deshalb zu groß. Du musst diese Motorräder ganz anders fahren. Ich habe meine gesamte Karriere von den 125ern über die 250er bis in die MotoGP auf Prototypen bestritten. Da bist du mit ganz anderem Material konfrontiert und das macht einen großen Unterschied. Von den Superbikes bin ich zu weit entfernt.
Derartige Überlegungen sind typisch für dich. Viele andere Fahrer machen sich über solche Dinge wohl kaum Gedanken. Du bist im MotoGP-Paddock daher auch als 'Der Professor' bekannt. Dein ehemaliger Crewchief Alberto Giribuola hat einmal gesagt, du seist manchmal mehr Ingenieur als Fahrer. Remy Gardner ist ein ähnlicher Typ wie du und hat uns vor kurzem verraten, dass er vielleicht etwas zu sehr wie ein Ingenieur und zu wenig wie ein Fahrer denkt. Glaubst du, dass dieser Charakterzug manchmal auch für dich mehr Nach- als Vorteil war?
Nein. Die Leute nennen mich ja nicht Professor, weil ich so viel von der Technik der Motorräder verstehe. Ich spüre einfach nur Dinge, die andere Fahrer nicht wahrnehmen. Ich bin sehr klar in meinen Aussagen und kann gut erklären, was ich auf dem Motorrad fühle. Das ist für die Ingenieure wichtig und macht ihre Arbeit einfacher. Ich sage ihnen aber nicht, dass sie dieses oder jenes Teil verändern müssen.
Eine Zukunft in der Superbike-WM wird es für dich also nicht geben. Was wirst du stattdessen machen? Wie wird in den nächsten Jahren ein typischer Tag im Leben von Andrea Dovizioso aussehen?
Ich werde auf jeden Fall wieder mehr Motocross trainieren und werde am Ende dieses Jahres ein paar Rennen fahren, aber nur im absoluten Amateurbereich. Im Winter will ich mich dann vorbereiten, um 2023 ein richtig gutes Motocross-Jahr zu haben. Ich möchte ein paar regionale Rennen bestreiten und die gesamte Saison in der italienischen Meisterschaft. Ich bin schon gespannt, wie konkurrenzfähig ich da sein kann. Außerdem habe ich noch ein anderes großes Projekt im Kopf, von dem ich schon lange Träume und an dem ich intensiv arbeite. Hoffentlich wird daraus etwas.
Kannst du uns etwas mehr darüber verraten?
In einem Monat wissen wir mehr (lacht).
Es hat mit Motocross zu tun?
Es hat mit einem bestimmten Ort zu tun. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Meine Tür steht immer offen, denn ich weiß, dass sich innerhalb kürzester Zeit die eigenen Pläne völlig ändern können. Ich habe schon einige Angebote für unterschiedlichste Aufgaben bekommen. Viele Leute in diesem Paddock respektieren mich und ich habe eine Menge Erfahrung, die ich teilen kann. Irgendetwas werde ich sicherlich weiterhin in der MotoGP machen. Wie und was, weiß ich aber noch nicht.
Die MotoGP hat in Spielberg bekanntgegeben, dass ab 2023 zusätzliche Sprintrennen gefahren werden. Die Fahrer waren in den Entscheidungsprozess nicht involviert. Deine Kollegen waren verärgert und haben einmal mehr eine Fahrergewerkschaft nach Vorbild der GPDA in der Formel 1 gefordert. Du wurdest als möglicher Vorsitzender ins Spiel gebracht. Hättest du Interesse an dieser Aufgabe?
Wir haben bereits darüber gesprochen. Es freut mich, dass die Leute an mich gedacht haben. Eine Idee zu haben und diese dann auch im Detail umzusetzen, sind jedoch zwei Paar Schuhe. Grundsätzlich wäre ich dazu aber bereit.
Danke für das Gespräch Andrea! Und herzliche Gratulation zu einer großartigen Karriere.
Vielen Dank.
Das Abschiedsinterview mit Andrea Dovizioso erschien erstmals in Ausgabe 87 unseres Print-Magazins. Dort gibt es nicht nur Interviews mit den Stars der MotoGP, sondern auch Einblicke in die Formel 1, DTM & Co. Auf den Geschmack gekommen? Das Motorsport-Magazin könnt ihr seit neuestem nicht nur abonnieren, sondern auch an eure motorsportbegeisterten Liebsten verschenken.
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