"Vorausgesetzt, dass die folgenden Regeln eingehalten werden, steht es den Herstellern frei, Innovationen im Hinblick auf Design, Materialien und die generelle Konstruktion des Motorrads voranzutreiben." Dieser Satz ist der zweite im Technischen Reglement der MotoGP, auch bekannt als Paragraph 2.1.2. Ihm vorangestellt ist nur der Hinweis, dass es sich um eine Serie für Fahrzeuge mit zwei Rädern handelt, die von einem Verbrennungsmotor angetrieben und einem Fahrer gesteuert werden.

Die Tatsache, dass man diesen fast unbegrenzten Innovationsfreiraum derart früh im Reglement platziert hat, verrät bereits, wofür die MotoGP stehen soll. Die Königsklasse ist Prototypensport. Daran lassen die FIM World Championship Grand Prix Regulations keinen Zweifel aufkommen. Natürlich gibt es Beschränkungen in der Art der Motorisierung, der Form der Verkleidung und dem Einsatz gewisser Technologien. Davon abgesehen sollen aber die exotischsten Materialen, die raffiniertesten Systeme und die besten Ideen hier präsentiert werden. Der Titel der 'Königsklasse' will freilich verdient sein und die MotoGP soll sich klar von der auf den ersten Blick gar nicht so unterunterschiedlichen Superbike-Weltmeisterschaft abheben. Nicht zuletzt, weil diese beiden größten Motorradsportserien des Planeten vom selben Unternehmen gemanagt werden - der spanischen 'Dorna' unter der Führung von Carmelo Ezpeleta. Zwei praktisch gleiche Produkte im eigenen Sortiment zu haben, die sich so womöglich gegenseitig kannibalisieren, ist das Letzte, das sich ein Sportpromoter wünscht.

In der Superbike-WM sind die Motorräder sehr seriennah, Foto: LAT Images
In der Superbike-WM sind die Motorräder sehr seriennah, Foto: LAT Images

Manche MotoGP-Innovationen sind gekommen, um zu bleiben. Pneumatische Ventilsteuerungen oder Seamless-Getriebe etwa sind seit vielen Jahren fester Bestandteil der Maschinen und es gibt keinerlei Bestrebungen, dies zu ändern. Andere geniale Ingenieursleistungen wiederum verschwinden früher oder später. Meist, weil sie durch Reglementänderungen verboten werden, wie zuletzt die Front-Ride-Height-Devices, die ab 2023 nicht mehr erlaubt sind. Als Begründung für derartige Verbote wird meist eine von oder eine Mischung aus drei Argumentationslinien herangezogen: Zu gefährlich, zu teuer oder ohne jeglichen Nutzen für die Serienfertigung. Heiß diskutiert wird dabei seit jeher der letzte Punkt. Die in der MotoGP engagierten Hersteller müssen die zig Millionen Euro teuren Projekte argumentieren - sowohl in den Vorständen als auch gegenüber Mitarbeitern und der Öffentlichkeit. Vor allem in Zeiten einer wirtschaftlichen Rezession keine leichte Aufgabe. Gerne argumentieren die Hersteller deshalb damit für die kostspieligen Rennsportaktivitäten, dass die Innovationen aus der Königsklasse mit einigen Jahren Verspätung auch in die Serienproduktion einfließen und somit nicht nur Marc Marquez oder Fabio Quartararo, sondern auch Max Mustermann und Erika Musterfrau davon profitieren.

Mehr Performance in der MotoGP wird zu mehr Komfort auf der Straße

Inwiefern dies der Wahrheit entspricht, muss man zumindest hinterfragen dürfen. Motorsport wird zu einem großen Teil zum Zweck von Marketing und Entertainment betrieben. Was aber freilich nicht heißen muss, dass das gern strapazierte 'Versuchslabor MotoGP' parallel nicht auch der Wahrheit entsprechen kann. "Natürlich wird es nicht alles, was wir hier verwenden, in die Serienfertigung schaffen", sagt Aprilia-Speerspitze Aleix Espargaro. "Wenn man die derzeit am Markt käuflichen Superbikes für die Straße mit unseren MotoGP-Maschinen vergleicht, findet man dort aber schon einige Entwicklungen der letzten Jahre wieder. Die Dashboards etwa sind fast identisch und die gesamte Aerodynamik ebenfalls. Ich würde auch nicht ausschließen, dass wir irgendwann in der Serie Karbonbremsen sehen. Natürlich ist das eine Preisfrage, aber funktionieren würde es meiner Meinung nach. Aber dann gibt es Dinge wie die Ride-Height-Devices, die man auf der Straße sicher nicht verwenden wird. Deshalb geht dieses Verbot für mich auch völlig in Ordnung."

Sebastian Risse, technischer Leiter von KTMs MotoGP-Projekt sieht ebenfalls zahlreiche Bereiche, in denen die Serienfertigung von den Erfahrungen aus der Königsklasse profitiert. "In der Elektronik und den dort angewandten Strategien kann viel abgeleitet werden", erklärt er im Gespräch mit dem Motorsport-Magazin. "Der Anwendungsfall ist natürlich nicht genau derselbe. Bei einem Straßenmotorrad geht es eher darum, es durch elektronische Fahrhilfen sicherer zu machen. In der MotoGP versuchen wir meistens, es schneller zu machen. Wir haben hier aber einen regelmäßigen Austausch mit der Serienentwicklung. Auch die Aerodynamik wirkt auf den ersten Blick wie ein Thema, das für die Serie nicht sonderlich angebracht ist. Auch hier können wir aber fahrdynamische Effekte erzeugen, die sehr nützlich sind, etwa was Stabilität und Komfort bei hohen Geschwindigkeiten betrifft. Da sind wir im Motorsport bereits sehr weit gekommen und dementsprechend viel kann die Serie hier lernen. Bei KTM fertigen wir auch unser Fahrwerk im eigenen Haus bei WP Suspension. Da haben wir in letzter Zeit viel mit neuen Materialien experimentiert, um Gewicht einzusparen. Auch in der konventionellen Entwicklung der Dämpfung ist viel passiert. Natürlich sind das dann nicht die Teile, die man am Ende in der Serie fährt, aber die Philosophie und die Lernkurve ist am Ende genau dieselbe. In der Getriebe- und Kupplungsentwicklung wird die Serie in den nächsten Jahren sicherlich auch massiv profitieren. Das ist aktuell noch nicht so zu sehen, aber ich kann versichern, dass sich da viel Know-how übertragen lässt und da bei allen Herstellern über verschiedenste Dinge nachgedacht wird."

Sebastian Risse ist Technikchef bei KTM, Foto: LAT Images
Sebastian Risse ist Technikchef bei KTM, Foto: LAT Images

Nachhaltigkeit auch in der MotoGP immer mehr im Fokus

Was auffällt, ist, dass in erster Linie performancerelevante Teile und Sicherheitsüberlegungen angesprochen werden, wenn es um Lehren aus der MotoGP für die Serienfertigung geht. Das ist gut und richtig, allerdings ist in den letzten Jahren vor allem für im Motorsport engagierte Hersteller ein Thema von immer größer werdender Bedeutung: Nachhaltigkeit. Dass es niemals klimafreundlich sein wird, Motorräder, Material und Personal für 20 und mehr Rennen rund um den Erdball zu transportieren liegt auf der Hand. Der Motorsport sieht sich daher immer wieder in der Kritik von Umweltinitiativen, was ein Projekt etwa in der MotoGP für die Werke immer schwieriger argumentierbar macht. Blickt man über die etwas eindimensionale Einordnung des Motorsports als Klimasünder hinweg, entdeckt man aber durchaus positive Aspekte, die der Rennsport zu einer klimafreundlichen Mobilität der Zukunft beitragen kann. Entwicklungen, die zu Treibstoffeinsparungen und damit auch vermindertem CO2-Ausstoß führen, sind nicht zuletzt durch das Testfeld Motorsport heute auch in der Serie anwend- und leistbar, etwa Direkteinspritzung oder Hybridtechnik. Im Motorradbereich machte man einen großen Schritt mit der Umstellung von Zweitakt- auf Viertakttriebwerke. Während die letzten 500ccm-Zweitakter Anfang der 2000er Jahre noch bis zu 34 Liter Treibstoff über eine Renndistanz verbrannten, müssen die 1.000ccm-MotoGP-Maschinen heute mit 22 Litern auskommen - und leisten dabei rund 100 Pferdestärken mehr. Dass der Motorsport immer seine Feinde haben wird, lässt sich nicht ändern. Mit derartigen Entwicklungen nimmt man den Gegnern aber zumindest Wind aus den Segeln. Führt eine Erkenntnis aus der MotoGP auch nur zu geringen Einsparungen, bedeutet das in der Serie aufgrund der Menge an verkauften Motorrädern doch einen großen Schritt.

In den kommenden Jahren will die MotoGP weiter an einem zunehmend nachhaltigeren Rennbetrieb arbeiten. Nicht unbedingt durch eine weitere Reduzierung des Verbrauchs, sondern durch eine Änderung des verbrannten Treibstoffs. 60 Millionen Motorräder werden jährlich verkauft, über zwei Milliarden Maschinen sind auf den Straßen dieser Welt unterwegs. Fast alle von ihnen verwenden Verbrennermotoren und fossile Kraftstoffe. Das will die Industrie in Zukunft ändern. Die MotoGP als globales Aushängeschild der Motorradbranche soll dabei wieder einmal die Vorreiterrolle übernehmen. Der Plan: Bis 2024 wird der Kraftstoff in allen Klassen der Motorrad-Weltmeisterschaft zu mindestens 40 Prozent nicht-fossilen Ursprungs sein. Bis 2027 will man sich vollständig von fossilen Rohstoffen verabschieden. In der Moto2 und Moto3 wird es weiterhin einen Einheitslieferanten geben. In der MotoGP wird jeder Hersteller mit seinem Treibstofflieferanten zusammenarbeiten und einen eigenen Kraftstoff entwickeln. Durch diesen Konkurrenzkampf sollen Treibstoffe entstehen, die in der Folge - zumindest in abgewandelter Form - auch von normalen Verbrauchern an der Tankstelle erworben werden können. Entwickeln will man diese Treibstoffe entweder im Labor oder unter Verwendung von Abfällen beziehungsweise Biomasse. Erhebliche Einsparungen bei den Treibhausgasemissionen im Vergleich zu fossilem Benzin will man dadurch erzielen, auch durch den schrittweisen Umstieg auf erneuerbare Energien bei der Herstellung der Kraftstoffe. "Ich bin wirklich stolz auf diese Ankündigung, denn nach vielen Monaten und sogar Jahren der Verhandlungen mit den Benzinfirmen und Herstellern haben wir eine Einigung erzielt", sagte FIM-Präsident Jorge Viegas im vergangenen November bei der Vorstellung dieses Zeitplans. "Dies wird es der MotoGP ermöglichen, bei dieser echten Revolution für Nachhaltigkeit führend zu sein." Viegas sieht ein wichtiges Zeichen für die gesamte Zweiradindustrie: "Wir wollen allen Motorradherstellern zeigen, dass es möglich ist, den Spaß zu haben, den wir alle mögen, aber mit nachhaltigen Kraftstoffen. Wir hoffen, dass wir bis 2027 völlig kohlenstofffreie Kraftstoffe in unseren Wettbewerben haben werden, um den Weg zu weisen und zu zeigen, dass wir, auch wenn der Rennsport nur einen kleinen Teil der Emissionen ausmacht, die Führenden dieses Wandels sein und den Weg weisen müssen."

Die MotoGP will fossile Brennstoffe durch nachhaltigen Sprit ersetzen, Foto: Repsol Honda
Die MotoGP will fossile Brennstoffe durch nachhaltigen Sprit ersetzen, Foto: Repsol Honda

KTM-Technikchef Sebastian Risse zeigt sich angetan von der bevorstehenden Entwicklung: "Das, was man im Motosport durch die Motoräder einspart, macht praktisch nichts aus. Was man da aber lernt und auf die Serie übertragen kann, das macht sehr viel aus. Wenn wir Pferdesport betreiben würden, dann würden wir ja trotzdem mit Lastwagen durch die Gegend fahren. Die Tatsache, dass wir diese Entwicklungsrichtung jetzt einschlagen, hat es aber für viele Hersteller wirklich interessanter gemacht, in der Klasse zu bleiben. Es ist für jedes Werk von großem Wert, sich das auf die Fahnen schreiben zu können, vor allem wenn wir dadurch aller Voraussicht nach nicht oder kaum weniger Performance haben werden. Wir als MotoGP-Hersteller haben uns einen straffen, aber realistischen Zeitplan aufgestellt. Der macht die Serie für das Publikum und für die Hersteller gleichermaßen attraktiv."

Mit Ducati geht einer der großen Hersteller sogar noch einen Schritt weiter. Ab 2023 liefert die Traditionsmarke die Motorräder für die MotoE. Die Überlegungen dahinter führte bei der Bekanntgabe vor knapp einem Jahr Ducati-Geschäftsführer Claudio Domenicali aus: "Die Zukunft der Motorradbranche ist momentan alles andere als klar. Nachhaltige Kraftstoffe können eine große Rolle spielen, denn damit würden Verbrennungsmotoren bei richtiger Herstellung praktisch über Nacht CO2-neutral werden. Dieser Treibstoff könnte aber sehr teuer sein. Die MotoGP wollen wir ja auch in ihrer aktuellen, großartigen Art weiterführen. Wir halten uns aber alle Optionen offen und möchten in allen Bereichen konkurrenzfähig sein." Ducati baut noch keine Elektromotorräder für die Straße. Bislang beschränkt man sich auf exklusive Rennräder und Mountainbikes mit E-Motor. Auch hier zeigt sich klar: Das Motorsportengagement soll die nötigen Erfahrungswerte für die Serie schaffen. Bereits mit seinem Prototypen V21L zeigt Ducati im Vergleich zur trägen Energica Ego Corsa, die seit Beginn der MotoE 2019 verwendet wird, was im Bereich Elektromotorrad bereits möglich ist: Bei einem Gesamtgewicht von 225 Kilogramm beträgt die Motorleistung 150 PS und das maximale Drehmoment liegt bei 140 Newtonmeter. Auf einer Strecke wie Mugello sind damit Geschwindigkeiten von 275 km/h möglich.

Ingenieure lernen im Rennsport, bevor es zur Serienentwicklung geht

Um zu garantierten, dass die besten Ideen und Konzepte auch tatsächlich Anwendung in der Massenproduktion finden, verpflichtet etwa Honda als größter Motorradbauer der Welt seit Jahrzehnten alle seine Ingenieure, zunächst für einen gewissen Zeitraum in der Rennsportabteilung, der Honda Racing Corporation zu arbeiten, ehe sie einen Job in der Serienentwicklung übernehmen dürfen. Auch bei anderen Herstellern finden sich Beispiele von führenden Ingenieuren, die in beiden Feldern ihre Erfahrungen gesammelt haben. Suzukis ehemaliger MotoGP-Projektleiter Shinichi Sahara etwa war in der Vergangenheit auch für die Serienmaschinen des japanischen Werks zuständig. "Wir haben damals viele Technologien aus der MotoGP in die Serie transferiert. Die GSX-R 1000 hat damals etwa das gleiche System für variable Ventilsteuerzeiten verwendet, das auch in der MotoGP zum Einsatz kam. Auch der Quick-Shifter zum Hoch- und Runterschalten war ähnlich. Es gab noch einige andere Dinge, die ich aber mittlerweile vergessen habe", schmunzelt er.

Bei Suzuki kamen viele Technologien aus der MotoGP in die Serie, Foto: LAT Images
Bei Suzuki kamen viele Technologien aus der MotoGP in die Serie, Foto: LAT Images

Das Beispiel von Sahara san zeigt, dass Motorsportentwicklungen zwar immer wieder die Marschrichtung für die Serienfertigung vorgeben, dieser Austausch aber keine Einbahnstraße ist. "Ich denke, es geht in beide Richtungen", sagt Sebastian Riss. "Wir haben beispielsweise in unserem MotoGP-Projekt sehr davon profitiert, was wir schon an Rahmenfertigungstechnologien hatten. Das ist ja etwas, das wir auch wirklich komplett selbst machen und wo nichts outgesourct wird. Durch die große Erfahrung in diesem Bereich haben wir im Fall von Änderungswünschen eine sehr schnelle Reaktionszeit, die aber dennoch zu keinen Abstrichen bei der Qualität führt."

Es zeigt sich also: Ohne Serienproduktion gibt es keinen Motorsport in der Form, wie wir ihn kennen. Kleine Unternehmen, die sich vollumfänglich auf Rennsportaktivitäten fokussieren, können einzelne Serien am Leben halten. Für Kassenschlager wie die MotoGP oder ihr Vierradpendant Formel 1 wird es aber immer große Hersteller brauchen. Und die betreiben Motorsport nicht ausschließlich, aber vor allem auch, um so ihren zahlenden Kunden bessere Motorräder und Automobile für den täglichen Gebrauch zur Verfügung zu stellen.

Dieser Artikel erschien erstmals in Ausgabe 86 unseres Print-Magazins. Dort blicken wir natürlich nicht nur auf die Technik der MotoGP, sondern auch auf die Formel 1, DTM & Co. Auf den Geschmack gekommen? Das Motorsport-Magazin könnt ihr seit neuestem nicht nur abonnieren, sondern auch an eure motorsportbegeisterten Liebsten verschenken.