Nachdem sich Valentino Rossi zu Beginn des letzten Jahres so stark präsentierte, stieg die Hoffnung seiner Fans auf einen zehnten WM-Titel ihres Idols ins Unermessliche. Lange Zeit sah es so aus, als würde dieser Traum Realität werden. Der Doktor gab die Führung in der Gesamtwertung nie komplett ab. Konkurrent Jorge Lorenzo schaffte es lediglich, den Punkteunterschied zwischen sich und seinem Teamkollegen auf null herunterzudrücken.

Doch Rossi holte immer wieder auf, bis zum Eklat von Sepang. Ob es nun der Doktor selbst war, der sich mit seinem Verhalten die WM verbaute oder Marquez' Intervention, darüber scheiden sich die Geister. Fakt ist, Rossi verlor den zehnten WM-Titel auf den letzten Metern. Doch wie stehen die Chancen des Doktors für 2016?

Rossi selbst gibt sich natürlich positiv. "Ich bin nicht beunruhigt", sagte der 36-Jährige nach dem Saisonfinale in Valencia. "Nächstes Jahr kann ich noch besser sein, oder zumindest genauso schnell. Viel hängt aber auch auf die Motivation ab, ob die Yamaha mit den Michelin-Reifen funktioniert und von anderen Dingen." Es folgte auch eine Kampfansage Richtung Konkurrenz: "Nächstes Jahr wird es anders laufen, ich werde es wie immer versuchen."

Alle Augen liegen 2016 auf Rossi, Foto: Monster
Alle Augen liegen 2016 auf Rossi, Foto: Monster

Worte an die Konkurrenz

Das diese Drohung vor allem an Lorenzo und Marquez geht, ist klar. Mehrfach beschwerte sich der Rekordweltmeister über das Verhalten der Spanier, lediglich für den wiedererstarkten Pedrosa fand Rossi freundliche Worte. Über das legendäre Duell zwischen den beiden Routiniers in Aragon sagte Rossi: "Ich habe mich auf dieses Duell nur eingelassen, weil ich Dani voll vertrauen kann. Er ist ein harter Kämpfer, aber immer fair und weiß genau, was er tut." Fraglich ist jedoch, ob der Doktor das Duell nicht nur genoss, da Pedrosa ihm nach seinem Armpump-bedingtem Ausfall im Kampf um die WM ohnehin nicht mehr gefährlich werden konnte.

Im nächsten Jahr könnte dies anders aussehen. Die Nummer 26 zeigte sich nach seinem Wiedereinstieg in der zweiten Saisonhälfte stärker denn je, fuhr in Japan und Malaysia souverän aufs Siegertreppchen. Pedrosa, nach zehn Jahren MotoGP-Erfahrung, gilt grundsätzlich als Titelkandidat, scheitert jedoch häufig an Verletzungen. Wenn der Katalane die kommende Saison ohne Zwischenfälle durchsteht, könnte er für Rossi eine echte Gefahr werden.

Rossi wurde trotz seines verpassten Titels von den Fans in Valencia gefeiert, Foto: Tobias Linke
Rossi wurde trotz seines verpassten Titels von den Fans in Valencia gefeiert, Foto: Tobias Linke

Lorenzo und Marquez

Teamkollege Lorenzo wird Rossi das Leben 2016 auch nicht leichter machen. Der Mallorquiner wird seinen insgesamt dritten MotoGP-Titel mit allen Mitteln verteidigen. Unter perfekten Bedingungen ist das Uhrwerk Lorenzo eigentlich kaum zu schlagen, zu versiert und flüssig ist der Fahrstil des 28-Jährigen. Allerdings hatte Lorenzo zu Beginn der Saison 2014 mit mangelnder Fitness zu kämpfen, die ihn zu Beginn ebendieser Saison eher schwächlich dastehen ließ. Sollten sich weder Lorenzo, noch Rossi, solche Fehltritte zur Saison 2016 erlauben, wird der Kampf zwischen den Teamkollegen mit Sicherheit in die nächste Runden gehen.

Jedoch wird Rossis Wunsch, Marquez zu schlagen, am größten sein. In der letzten Saison kämpfte der Doppel-Champ mit eigenen Problemen, vor allem aber mit seiner RC213V. Das Aggregat des Bikes war so aggressiv, dass der 22-Jährige ab Mitte der Saison auf das Vorjahres-Chassis wechseln musste, um die Honda überhaupt bändigen zu können. Dies könnte sich in dieser Saison wiederholen, befürchtet HRC-Vizechef Shuhei Nakamoto gegenüber der 'Marca'. "Wir haben unseren Fokus darauf gelegt, ein weniger aggressives Motorrad zu bauen. Wir versuchen unterschiedlichste Dinge, aber aus irgendeinem Grund gelingt uns keine Verbesserung im Vergleich zum Vorjahr." Sollten die Probleme im Hause Honda bis zum Saisonbeginn nicht gelöst sein, könnte es Marquez schwer sein, denn sicher immer noch auf Rache sinnenden Rossi in Zaum zu halten.

Rossi ist auch heute noch der beste Verkäufer der MotoGP, Foto: Yamaha
Rossi ist auch heute noch der beste Verkäufer der MotoGP, Foto: Yamaha

Pro: Das spricht für den zehnten Rossi-Titel

Eine Menge Dinge sprechen dafür, dass Rossi 2016 seine Revanche feiern kann. Die Statistik ist auf jeden Fall auf der Seite des Doktors. Rossi hat die meisten Rennstarts, die meisten Punkte, die meisten Podiumsplätze, hinter Giacomo Agostini sogar die meisten Siege und WM-Titel. Man könnte diese Liste gefühlt ewig weiterführen. Doch was viel wichtiger als die Rekorde an sich ist, ist die Erfahrung, die aus ihnen spricht. Rossi ist zwar nach dem Abtritt Colin Edwards' der älteste Fahrer im Feld, aber damit auch der erfahrenste. Vor allem bei Rennen mit schwierigen Bedingungen, beispielsweise Silverstone im vergangenen Jahr, zeigen, dass die jugendliche Ungestümtheit eines Marc Marquez in Zwangslagen nicht helfen kann. Rossis Hassobjekt Nummer eins stürzte nämlich bei besagtem Grand Prix, während Fuchs Rossi siegte.

Und auch ein weiterer, wesentlicher Faktor darf in der Akte "Rossi 2016" nicht unterschlagen werden: die Motivation. Erfahrung und Talent en masse helfen einem Fahrer herzlich wenig, wenn es ihm an Motivation mangelt. Nachdem der Doktor letztes Jahr so kurz vor dem Ziel aufgeben musste, wird seine Motivation, seinen Teamkollegen, mit dem ihn schon immer eine besondere Rivalität verband, und sein neues Hassobjekt Marquez zu besiegen, noch viel größer sein. Wenn all diese Dinge, gepaart mit ausreichender körperlicher Fitness, auf der Strecke zusammenkommen, ist ein zehnter Rossi-Titel im Jahr 2016 alles andere als unwahrscheinlich. (Sophie Riga)

Während die Zahl der Marquez-Fans ausdünnt, bleiben die Fans Rossi treu, Foto: Tobias Linke
Während die Zahl der Marquez-Fans ausdünnt, bleiben die Fans Rossi treu, Foto: Tobias Linke

Contra: Das spricht gegen den zehnten Rossi-Titel

So ehrlich muss man sein: Es spielten 2015 lange Zeit sehr viele Faktoren in Rossis Hände. Da wäre einerseits Jorge Lorenzos Pechsträhne zu Beginn der Saison, als ihm in Katar das Inlay seines Helms verrutschte und er in Argentinien krank ins Rennen startete. Andererseits kurz nach der Sommerpause Wetterkapriolen bei einigen Rennen (man erinnere sich etwa an Misano oder Silverstone), die der alte Fuchs Rossi ebenfalls perfekt für sich zu nutzen wusste. Und dann wäre da noch der selbstverschuldete Knockout von Honda. Die Japaner verloren Dani Pedrosa schon nach einem Rennen aus dem Titelkampf und nahmen mit dem verbockten 2015er-Rahmen auch Marc Marquez früh aus dem Rennen um die Krone.

Es müsste also erneut viel in Rossis Richtung laufen, damit er 2016 über weite Strecken der Saison die Gesamtwertung anführt und bis zum letzten Rennen im Titelkampf mitmischen kann. Mit einem fitten Dani Pedrosa, einem Marc Marquez auf einem funktionierenden Bike und einem Jorge Lorenzo mit fest sitzendem Helm wird es für den Doktor sehr schwer. Klar, es könnte in 50 Prozent der Rennen regnen, Pedrosa könnte sich (wie leider schon so oft) erneut verletzen und Marquez in den Nachwehen des Sepang-Clash und des anschließenden Shitstorms gegen seine Person endgültig zum Nervenbündel werden. Es müssten aber wohl all diese Faktoren eintreten, damit Rossi noch einmal die Chance auf WM-Titel Nummer zehn bekommt. Sehr wahrscheinlich ist das nicht. (Michael Höller)