Auf den ersten Blick ist ein kreisrundes Stück Gummi, das um eine Felge gewickelt wird. Doch ein moderner MotoGP-Reifen ist ein Meisterstück der Ingenieurskunst. Unzählige Stunden an Entwicklungsarbeit stecken in den Pneus, die der exklusive Reifenlieferant Bridgestone an die Teams der Königsklasse ausliefert. Kein Wunder, wollen doch 260 Pferdestärken auf einer Auflagefläche in der Größe einer Kreditkarte bewegt werden. Wir erklären das Fachchinesisch rund um Asymmetrie, Arbeitsfenster und Kantengrip.

Reifenarten

Grundsätzlich werden in der MotoGP-Weltmeisterschaft zwei Arten von Reifen gefahren. Slicks für trockene Verhältnisse und Regenreifen für nassen Untergrund. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die Typen dadurch, dass der Regenreifen im Gegensatz zum Slick ein Profil aufweist. Doch die Unterschiede gehen wesentlich tiefer. Einen entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Optionen stellt das Arbeitsfenster, also die Temperatur bei der ein Reifen richtig funktioniert, dar.

Die Slicks werden vor dem Einsatz durch die Verwendung von Reifenwärmern auf eine Temperatur von rund 80 Grad Celsius gebracht. Auf der Strecke erhitzt sich die Oberfläche auf mehr als 100 Grad, weshalb der Reifen bei der Rückkehr an die Box nur noch mit Handschuhen berührt werden kann. Der Slick funktioniert aber auch bei Temperaturen hinunter bis zu 50 Grad. Er bietet also ein relativ großes Arbeitsfenster von ungefähr 50 Grad, in dem er ohne Bedenken verwendet werden kann.

Ein Regenreifen oder Wet-Tyre besteht aus einer deutlich weicheren Gummimischung, weshalb er auch nicht dieselben hohen Temperaturen wie ein Slick verkraften hat. Er wird auf circa 60 Grad vorgewärmt und kann sich auf der Strecke nur mehr minimal auf etwa 70 Grad erhitzen. Doch auch im Falle eines deutlichen Temperaturabfalls funktioniert ein Regenreifen noch ideal. Eine regennasse Fahrbahn kann auf etwa 10 Grad Celsius abkühlen - immer noch genug für die Wets.

Sieht man sich nun die Arbeitsfenster der beiden Typen an, zeigt sich aber auch, dass es einen Bereich von rund 20 Grad gibt, in dem sowohl Slicks als auch Regenreifen funktionieren. "Es gibt eine gewisse Überschneidung zwischen den zwei Optionen. Deshalb haben wir zum Beispiel beim Saisonfinale in Valencia 2012 manche Fahrer mit Slicks und andere mit Wets auf der Strecke gesehen", erklärt Carmine Moscaritolo von Reifenlieferant Bridgestone.

Beim Valencia-GP waren sich die Fahrer bei der Reifenwahl nicht einig, Foto: Milagro
Beim Valencia-GP waren sich die Fahrer bei der Reifenwahl nicht einig, Foto: Milagro

Mischungen

Den MotoGP-Piloten stehen vier unterschiedlich harte Reifenmischungen oder Compunds mit den Bezeichnungen Extra-Soft, Soft, Medium und Hard zur Verfügung, die Fahrer der neu geschaffenen Open-Klasse dürfen zusätzlich einen noch weicheren Reifen verwenden. Ob sich dieser Pneu über eine Renndistanz durchsetzen wird, bleibt allerdings abzuwarten, da die Open-Bikes aufgrund ihrer weniger ausgefeilten Elektronik die Reifen mehr beanspruchen dürften und so eine Verwendung wenig Sinn machen würde.

Ein weicher Reifen verfügt über eine kürzere Lebensdauer, Foto: Milagro
Ein weicher Reifen verfügt über eine kürzere Lebensdauer, Foto: Milagro

Grundsätzlich gilt, dass ein Reifen umso mehr Grip bietet je weicher er ist und umso länger hält je härter die Mischung ausfällt. Das Arbeitsfenster der verschiedenen Mischungen fällt in etwa gleich aus. Die Unterschiede liegen im Bereich weniger Grade und die verschiedenen Compounds werden mit den Reifenwärmern auf dieselbe Temperatur erhitzt.

Asymmetrische Reifen

Ein gewöhnlicher Motorradreifen verfügt über eine symmetrische Laufläche, die linke und rechte Schulter weisen also dieselbe Reifenmischung auf. Den hohen Ansprüchen der MotoGP genügt ein solcher Pneu aber meist nicht und so wird auf allen Grand-Prix-Strecken mit Ausnahme von Jerez ein asymmetrischer Reifen verwendet. Die meisten Kurse besitzen ein Übergewicht an Links- oder Rechtskurven, wodurch eine Seite der Gummis stärker beansprucht wird als die andere. Durch die Verwendung unterschiedlich harter Mischungen auf den beiden Schultern ist es möglich, den gesamten Reifen stets auf optimaler Betriebstemperatur zu halten. In vereinzelten Fällen gelingt dies trotz einer asymmetrischen Konstruktion nicht oder nur teilweise, wie beispielsweise 2013 am Sachsenring, als es in Kurve elf aufgrund der zu kühlen rechten Reifenschulter zu zahlreichen Stürzen kam.

Andrea Dovizioso war eines der vielen Opfer von Kurve elf, Foto: Milagro
Andrea Dovizioso war eines der vielen Opfer von Kurve elf, Foto: Milagro

Ein asymmetrischer Aufbau wird nur bei Trockenreifen verwendet, da das Arbeitsfenster der Regenreifen groß genug ist um auch bei geringerer Beanspruchung eine ausreichende Performance zu bieten. Bei den Slicks wiederum wird auch nur am Hinterrad ein asymmetrischer Reifen verwendet. Der Vorderreifen muss lediglich Kurvenkräfte sowie Bremsenergie absorbieren, während der hintere Slick die gesamte Leistung von gut 260 Pferdestärken auf den Asphalt übertragen muss, was zu sehr hohen Temperaturen führt und die Reifen daher besonders stark beansprucht.

Das taktische Element

Im Vergleich zu Rennserien, in denen Boxenstopps durchgeführt werden, wie zum Beispiel der Formel 1, spielt die Reifentaktik in der MotoGP ein geringeres, aber dennoch nicht unbedeutendes Element. Der Fahrer muss sich vor dem Rennen entscheiden. Wählt er eine weichere Mischung um schon zu Beginn des Rennens über optimalen Grip zu verfügen, riskiert aber gleichzeitig einen rapiden, durch Überbeanspruchung herbeigeführten Leistungsabbau oder geht er auf Nummer sicher und entscheidet sich für einen härteren Slick, der die Renndistanz ohne Probleme überstehen sollte.

In der vergangenen Saison wählten die Piloten praktisch ausschließlich die weichere Mischung, was mit der Entwicklung der MotoGP-Maschinen und damit einhergehend einem neuen Fahrstil zu tun hat. Durch die immer extremeren Schräglagen bis hin zu 64 Grad Neigungswinkel ist der Kantengrip, also der Halt den der Reifen an seinem äußersten linken und rechten Ende produziert, durch nichts zu ersetzen. Daher hat sich Reifenlieferant Bridgestone für eine Neuentwicklung des härteren Pneus entschieden. Die Konstruktion der Kante wurde verwendet, während der restliche Aufbau praktisch unverändert blieb. Man bediente sich also praktisch der besten Eigenschaften aus beiden Varianten, um den Fahrern eine ernsthafte Option zu bieten und dem taktischen Element in der MotoGP wieder mehr Bedeutung zukommen zu lassen.