403 Überholmanöver notierte die Formel E bei der Rennpremiere auf dem IndyCar-Kurs von Portland. Das sind 12,5 Überholmanöver pro Runde bzw. 7,9 pro Rennminute. Oder auch halb so viele in nur einem Rennen wie die Formel 1 in der gesamten Saison 2022 produziert hat: 785 waren es an der Zahl.

Der kleine, aber feine Unterschied: Bei den Angaben der F1 handelte es sich um 'echte' Überholmanöver im klassischen Sinne, während man in der Formel E korrekterweise von Positionsveränderungen sprechen müsste, was die Elektro-Rennserie aber nur zu gerne unkommentiert lässt...

Pace 17 Sekunden langsamer als im Qualifying

Nur die wenigsten der 403 "Überholmanöver" in Portland können als ebenjene bezeichnet werden. Bei der extremsten Energiespar-Schlacht des Jahres auf der permanenten US-Rennstrecke taten die Fahrer wieder einmal ihr Bestes, um bloß nicht in Führung zu gehen und damit den Verfolgern den Energie-sparenden Windschatten zu spenden.

Da die Pace des Rennens so extrem langsam war - Jake Dennis fuhr in seiner ersten Runde 17 Sekunden langsamer als bei seiner vorangegangenen Pole-Zeit - staute sich das Feld der 22 Autos enorm zusammen. Ständige Positionswechsel auch in Folge der Attack-Mode-Aktivierungen waren demnach die logische Folge. Kaum einem Fahrer gelang es in den ersten Runden, auch nur einmal das Gaspedal auf der Geraden voll durchzutreten. Es war die große Schleichfahrt im US-Bundesstaat Oregon.

995 "Überholmanöver" in fünf Formel-E-Rennen

Wie einfach es war, mit dem richtigen Auto zu Beginn praktisch kampflos durch das Feld zu marschieren, zeigten etwa Mitch Evans (Jaguar), der vom 20. bis auf den vierten Platz nach vorne fuhr, oder Jean-Eric Vergne (DS Penske), der sich zwischenzeitlich vom 21. Startplatz bis auf die vierte Position nach vorne gearbeitet hatte.

Der spätere Rennsieger Nick Cassidy (Envision-Jaguar) übernahm erstmals in der 3. Runde die Führung, nachdem er das Rennen vom zehnten Platz aufgenommen hatte. Bis zu vier Platzgewinne- oder Verluste innerhalb nur eines Umlaufs waren die Regel auf der einzigen permanenten Rennstrecke im Formel-E-Kalender.

Es ist die neue Art des Racings mit den 350 kW (476 PS) starken Gen3-Autos, die mehr als je zuvor anfällig sind für den sogenannten Drag-Effekt. Derartige Energiespar-Rennen der extremsten Art hatte die Formel E zuvor schon bei den Rennen in Sao Paulo, Berlin und Monaco erlebt. Im Verlauf dieser vier Rennen - Berlin war ein Double-Header - summierte sich die Zahl der "Überholmanöver" auf 592 (3,2 pro Rennminute).

Formel E 2023: Strategie statt Speed

Motorsport-Traditionalisten können dieser sicherlich einzigartigen Form des Rennfahrens nur wenig abgewinnen. Die simple Idee, sein Rennauto über weite Strecken so schnell wie nur möglich durch die Kurven und über die Geraden zu befördern, führt in der Formel E schlichtweg nicht zum Erfolg. Was nicht bedeuten soll, dass das Fahren in der Formel E für die Piloten nicht anspruchsvoll ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die strategische Komponente ist alles entscheidend, es gilt, die Pace zur rechten Zeit einzuschätzen und dann anzugreifen. Und das möglichst kontaktfreie Fahren im unglaublich zusammengestauchten Feld kommt einem wahren Kunststück gleich.

Formel-E-Rennen erinnern - passend zu Portland - an US-amerikanische Ballsportarten. In der NBA erzielen die Teams im Schnitt dreistellige Punktezahlen - es ist eine permanente Aneinanderreihung kleinerer Highlights bis zum Schlusspfiff. Im eher europäisch geprägten Fußball sind es hingegen die wenigen Höhepunkte, die den Reiz ausmachen.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Energiespar-Rennen der Formel E mit schier unzähligen Positionswechseln in der breiten Masse durchaus gut ankommen. Die Bilder von Rennwagen im ständigen Abstand nur weniger Meter wirken in der Tat spektakulär am Bildschirm. Dass kein Fahrer sein Auto im Großteil eines Rennens wirklich bis ans Limit treibt - Stichwort: Halbgas auf der Geraden - ist mit dem bloßen Auge schwer zu erkennen. Und wenn ein Pilot über die Außenbahn innerhalb einer Kurve locker an drei Konkurrenten vorbeifährt, verstehen nur Motorsport-Kenner, dass hier effektiv keine Gegenwehr geleistet wird.

In der Formel E staucht sich das Feld oft dicht zusammen, Foto: DPPI/Hankook
In der Formel E staucht sich das Feld oft dicht zusammen, Foto: DPPI/Hankook

Motorsport-Puristen hassen diese Art des Rennfahrens

Viele Motorsport-Puristen hassen dieses Treiben, sie wollen vielmehr sehen, wie ein Fahrer schwer dafür arbeiten und sich mühsam in Position bringen muss, um überhaupt zum Überholmanöver ansetzen zu können. Das gilt in der Formel 1 mit ihren brutalen Kurvengeschwindigkeiten und dem Dirty-Air-Effekt ebenso wie im GT3-Sport, wo sich die Autos in der (Balance of-)Performance nur wenig unterscheiden und Hilfssysteme wie ABS und Traktionskontrolle die fahrerischen Differenzen minimieren.

So ist es auch kein Wunder, dass die Rennstarts zu den beliebtesten und spannendsten Szenen im 'normalen' Motorsport zählen - zu keinem anderen Zeitpunkt lassen sich leichter Plätze gewinnen. Und nirgendwo anders kracht es häufiger... In der Formel E hingegen sind die Startphasen fast schon egal - führen will ja sowieso niemand. Die Startpositionen im Qualifying bleiben zwar wichtig, um die Pace an der Spitze mitdiktieren zu können. Aber nie zuvor in der Geschichte der Sprintrennen dürfte die Pole Position irrelevanter gewesen sein.

Eigentlich schade, schließlich gehörte das Qualifying in Portland zu den besten der Saison. Auf dem flüssigen Kurs konnten die Gen3-Autos ihrer Power freien Lauf lassen. Jake Dennis errang mit seiner Runde im Halbfinale gegen Rene Rast einen neuen Durchschnittsrunden-Rekord (168,2 km/h, 1:08.919 Minuten). Mitch Evans erzielte bereits im 1. Training mit einem beeindruckenden Topspeed von 276,6 km/h einen neuen Höchstgeschwindigkeitsbestwert in der Formel E.

Portland-StatistikWertFahrer
Runden-Rekord168,2 km/hJake Dennis
Topspeed-Rekord276,6 km/hMitch Evans

Formel E vs. Traditions-Motorsport: Nur am Ende ähnlich

Während in der Formel 1 und Co. die wenigen Überholmanöver den Fans noch lange in Erinnerung bleiben, verstehen bei Formel-E-Rennen nur die wenigsten Zuschauer im Detail, warum ein Fahrer das Rennen gewonnen hat. Wie schwierig es ist, einen Rennverlauf mit den Schlüsselszenen in wenigen Minuten zusammenzufassen, zeigen die oft wirren Video-Zusammenfassungen auf YouTube, in denen ein roter Faden kaum zu erkennen ist.

Was Formel E und traditionelle Rennsportarten eint, sind die oftmals packenden Schlussphasen beim Kampf um den Sieg. Durch die Einblendung der verbliebenen Energiestände können Zuschauer verstehen, warum ein Fahrer in den letzten Minuten nach vorne stürmen kann oder ein anderer seine Position herschenkt, um nicht noch mehr Plätze zu riskieren. In kaum einem der bisherigen zwölf Saisonrennen ließ sich mehr als maximal zwei Runden vor dem Zieleinlauf der Sieger festmachen.

Formel E 2023 Portland: Highlights und Zusammenfassung (04:54 Min.)

Formel-E-Rennen: Hier entscheidet nicht der Zufall

Dabei wichtig zu erwähnen: Die Rennausgänge in der Formel E sind keinesfalls dem Zufall geschuldet. Während die Saison 2021 mit ihrem wirren Qualifying-Format elf unterschiedliche Sieger und 20 verschiedene Podest-Fahrer zu Tage förderte, ist die Hierarchie in der laufenden Saison 2023 ganz klar aufgeteilt. Die Werks- und Kundenteams von Porsche (mit Andretti) und Jaguar (mit Envision) vereinen zehn der zwölf Siege und 28 von 36 Podestplätzen auf sich.

Jaguar-Antriebsstränge gewannen alle fünf Rennen (Sao Paulo, Berlin, Monaco, Portland), in denen das Energie-Management auf die absolute Spitze getrieben werden musste, wobei Nick Cassidy (3 Siege) und Mitch Evans (2 Siege) ihren jeweiligen Teamkollegen meist deutlich überlegen waren.

Es ist also eine Fehlannahme, zu glauben, dass die Formel-E-Autos angesichts baugleicher Chassis, Batterien und Frontmotoren kaum Performance-Unterschiede aufzeigen. Die selbstentwickelten Heckmotoren und Brake-by-Wire-Systeme in Kombination mit entwicklungsoffener Software von Porsche und Jaguar sind gegenüber der Konkurrenz von DS, Nissan und Mahindra deutlich im Vorteil. Dadurch lässt sich auch erklären, wie Envision-Jaguar-Pilot Cassidy seine Rennen in Berlin, Monaco und Portland von den Startplätzen acht, neun und zehn gewinnen konnte.

Bei den ausstehenden vier Saisonrennen in Rom und London auf klassischen Formel-E-Stadtkursen mit verstärktem Stop-And-Go-Charakter sowie wenigen Geraden dürfte es nicht mehr zu den bisher erlebten Energiespar-Schlachten kommen. Hier gibt es genügend Gelegenheiten, um die während der Rennen verbrauchte Energie ausreichend in die Batterie zurückzuführen. Hört man sich im Fahrerlager der Formel E um, herrscht größtenteils Einigkeit: zwei bis drei Rennen auf Energie-sensitiven Kursen wären in Ordnung, Überhand nehmen solle diese Art des Rennfahrens aber bitte nicht.