Spektakulär oder gefährlich? Bei der Rennpremiere der Formel E in Sao Paulo hat eine enorme Bodenwelle auf der Strecke - mehr ein Sprunghügel - für Diskussionen über die Sicherheit gesorgt. Und die waren ganz offenbar berechtigt: Nach der Fahrerbesprechung am Freitagabend wurde dieser heikle Bereich vor der Kurve 4 mit weißen Streifen farbig gekennzeichnet, um ihn für die Fahrer aus dem Cockpit heraus besser sichtbar zu gestalten.

Das hielt im Rennen am Samstag den später Zweitplatzierten Nick Cassidy (Envision) jedoch nicht davon ab, frühzeitig voll über die Bodenwelle zu brettern. Der Neuseeländer produzierte spektakuläre Aufnahmen, als er in seinem grünen Rennwagen kurzzeitig den Bodenkontakt verlor und mit allen vier Rädern abhob. Der Vorfall ereignete sich in der 5. Rennrunde, als sich Cassidy an vierter Position das in dieser Analyse erklärte 'Vorbei-Lass-Spielchen' mit der Konkurrenz lieferte.

Abflug-Porsche als warnendes Beispiel

Cassidys Envision versetzte bei der Landung sogar kurzzeitig, doch er konnte die Kontrolle über den Rennwagen bewahren. Andernfalls hätte der 'Abflug' inklusive eines möglichen Querstehers angesichts des nachfolgenden Verkehrs böse Folgen haben können.

In den Freien Trainings und dem Qualifying hatten die meisten Fahrer akribisch darauf geachtet, die Bodenwelle am rechten Streckenrand kurz vor der Schikane auf der Gegengeraden weiträumig zu umschiffen. Sie waren schließlich gewarnt, nachdem Antonio Felix da Costa (Porsche) bereits im Shakedown am Freitag mit reduzierter Leistung an dieser Stelle mit seinem Porsche abgehoben war.

Bodenwelle beschädigt NIO

Dass die Bodenwelle durchaus in der Lage war, Autos zu beschädigen, bewies im Qualifying Sergio Sette Camara (NIO 333). Der Brasilianer sorgte am Samstagmorgen während der Gruppenphase für rote Flaggen, weil er auf der Strecke liegengeblieben war. Dem kurzzeitigen Ausfall - er konnte das Auto wenig später aus eigener Kraft an die Box zurückbefördern - war ein Überfahren eben jener Bodenwelle vorausgegangen. Auf Onboard-Aufnahmen waren sofort 'ungesunde' Geräusche aus dem Antriebsstrang seines NIO zu hören, die ihn wenig später zum Stopp zwangen.

Formel E: Bodenwellen gehören zum Standard

Bodenwellen sind absolut gewöhnlich in der Formel E, die meist auf temporären Kursen in Innenstädten gastiert und sich nach den jeweiligen Bedingungen des Straßenbelages richten muss. Auf der ursprünglichen Strecke in Rom waren die Fahrer früher ebenfalls mit einer kleinen Sprungkuppe konfrontiert, die sie später mittels geschicktem Diagonal-Anfahren nutzten, um sich einen Zeitvorteil zu verschaffen.

Nicht umsonst sind die einheitlichen Chassis entsprechend robust konstruiert und in der Fahrzeughöhe ausreichend hoch, um sich beim Aufsetzen nicht den Unterboden zu zerstören, wie es gelegentlich in der Formel 1 vorkommt.

Mitch Evans gewinnt den Sao Paulo ePrix 2023, Foto: LAT Images
Mitch Evans gewinnt den Sao Paulo ePrix 2023, Foto: LAT Images

Bodenwellen drohten Querlenker zu zerstören

Die Streckenbeschaffenheit war schon vor vier Wochen bei der Rennpremiere in Kapstadt ein ganz großes Thema - zumindest aus Sicht von Mahindra. Der indische Automobilgigant nahm vor dem Qualifying seine beiden Werksautos wegen Sicherheitsbedenken aus dem Wettbewerb und veranlasste auch Kundenteam Abt-Cupra zum sofortigen Rückzug. Während der Trainings hatten sich die hinteren Querlenker der Autos verbogen; Teile, die die Hersteller selbst entwickeln dürfen.

In Sao Paulo räumte Mahindra-Teamchef Frederic Bertrand "anscheinend einen Konstruktionsfehler bei der Entwicklung" ein: "Die Teile drohten zu brechen. Wir haben das Problem gelöst, indem wir die Querlenker verstärkt haben." Abt-Teamchef Thomas Biermaier: "Sie waren um 30 Prozent verbogen und wären bei der nächsten Bodenwelle vielleicht gebrochen. Das Risiko konnten wir nicht eingehen."

In Kapstadt ereilte nur die Mahindra-Autos dieses selbstverschuldete Problem, während die anderen Hersteller keine Schwierigkeiten mit den Streckengegebenheiten meldeten. Jetzt in Sao Paulo haben die Verantwortlichen zwar reagiert und die heftige Bodenwelle nachträglich farblich gekennzeichnet, trotzdem kam es zu mindestens einem Zwischenfall mit Konsequenzen. Hätte den Fahrern aus Sicherheitsgründen sogar verboten werden müssen, über diesen Bereich zu fahren?

Sicherheits-Standards bei Formel-E-Rennstrecken

Für die FIA passten die Streckenverhältnisse in Sao Paulo offensichtlich. Der Automobil-Weltverband legt bei der Sicherheit bekanntermaßen ein äußerst hohes Maß an und war in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich daran beteiligt, die Sicherheit immer weiter zu erhöhen. Auch die Konstruktion einer Formel-E-Rennstrecke durchläuft einen haargenauen Prozess, noch bevor sich das erste Rad dreht.

Bereits neun Monate vor einer Veranstaltung sendet die nationale Sportbehörde (ASN) einen formellen Antrag auf Homologation an die FIA-Sicherheitsabteilung, die wiederum einen FIA-Streckeninspektor ernennt und Simulationen auf der Grundlage der vom Streckendesigner bereitgestellten Zeichnung durchführt, um die verschiedenen Sicherheitsmerkmale der Rennstrecke zu validieren.

Die FIA Circuits Commission - eine Organisation, die sich aus Streckensicherheitsexperten von ASNs auf der ganzen Welt zusammensetzt - wertet das von der Sicherheitsabteilung erstellte Dokument weiter aus. Vier Monate vor einem Rennwochenende besuchen der offizielle FIA Circuit Inspector, FIA-Experten und Formel-E-Mitarbeiter den Austragungsort, um das Streckenlayout und alle peripheren Strukturen, einschließlich der Standorte der Boxengaragen, der Rennleitung und des Medical Center, zu genehmigen.

Sobald das endgültige Strecken-Layout von allen Parteien validiert wurde, teilt die FIA-Sportabteilung es einen Monat vor der Veranstaltung mit den Teams, die anschließend mit ihren eigenen Simulator-Vorbereitungen beginnen und die Möglichkeit haben, alle wesentlichen Bedenken zu melden.

Formel E gastiert erstmals in Brasilien, Foto: LAT Images
Formel E gastiert erstmals in Brasilien, Foto: LAT Images

Sao Paulo: Streckenänderungen in letzter Minute

Zwei Wochen vor dem Rennen und unter der Aufsicht der Formel E beginnt der Streckenbau, wobei FIA-Experten in der letzten Phase zusammenkommen, um die Sicherheitsmerkmale der Strecke abzuzeichnen und mögliche Änderungen in letzter Minute vorzunehmen, wie dem Hinzufügen von Sicherheitsbarrieren.

In Sao Paulo wurden neben der Markierung der Bodenwelle auch drei weitere Reifenstapel in der Auslaufzone von Turn 1 errichtet, die Bremsmarkierungen in mehreren Kurven verlegt und eine Mauer in Kurve 4 entfernt.

Elkins: "Formel E erfordert völlig andere Herangehensweise"

Am Donnerstagmorgen vor dem Beginn eines Rennwochenendes findet ein weiterer Streckenrundgang mit allen Beteiligten statt, bevor am Freitag FIA-Streckeninspektor Scot Elkins - der auch die Rolle des Rennleiters einnimmt - bestätigt, dass die Strecke gemäß dem endgültigen Referenzplan gebaut wurde, der von der FIA-Streckenkommission genehmigt wurde. Erst im Anschluss wird die Streckenlizenz ausgestellt.

"Die Formel E ist einzigartig in der Motorsportwelt, da sie überwiegend auf temporären innerstädtischen Rennstrecken fährt", sagt Race Director Elkins. "Das erfordert eine völlig andere Herangehensweise an den Streckenbau und die Genehmigung, die alle in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum stattfinden. Während dieser Zeit muss viel getan werden, um sicherzustellen, dass die betreffende Strecke vor allem sicher ist und den allgemeinen Standards entspricht, die in einer FIA-Weltmeisterschaft erwartet werden."

Formel E: Ergebnis Sao Paulo ePrix 2023

PositionFahrerTeamAbstand
1Mitch EvansJaguar
2Nick CassidyEnvision+0.284
3Sam BirdJaguar+0.507
4Antonio Felix da CostaPorsche+3.487
5Jean-Eric VergneDS Penske+4.042
6Stoffel VandoorneDS Penske+4.576
7Pascal WehrleinPorsche+5.659
8Jake HughesMcLaren+6.141
9Rene RastMcLaren+7.403
10Sebastien BuemiEnvision+7.976
11Maximilian GüntherMaserati+15.192
12Andre LottererAvalanche Andretti+15.345
13Lucas di GrassiMahindra+19.247
14Robin FrijnsAbt-Cupra+20.751
15Oliver RowlandMahindra+21.465
16Sergio Sette CamaraNIO 333+31.514
17Dan TicktumNIO 333+34.398
DNFNico MüllerAbt-CupraAusfall
DNFEdoardo MortaraMaserati Ausfall
DNFJake DennisAndretti Ausfall
DNFSacha FenestrazNissan Ausfall
DNFNorman NatoNissan Ausfall