'Wer vorne fährt, verliert', hatte Motorsport-Magazin.com am Donnerstag vor dem Sao Paulo ePrix getitelt und sollte mit dieser Prognose vor dem denkwürdigen Formel-E-Rennen in Brasilien Recht behalten. Ein Rennen, in dem die Fahrer die Führung mehrfach freiwillig herschenkten!

Der Gedanke des Motorsports wurde ad absurdum geführt, würden Kritiker behaupten. Eine Strategie-Schlacht, die das cleverste Team und die effizienteste Fahrer-Auto-Kombination mit dem Sieg belohnte, könnte man ebenso argumentieren. Das Renndebüt in Brasilien mit Sieger Mitch Evans (Jaguar) wird so oder so in die Geschichtsbücher der Formel E eingehen.

Formel E Sao Paulo 2023: Highlights und Zusammenfassung (05:41 Min.)

Vandoorne: "Wir haben zu viele Runden geführt"

"Wir haben zu viele Runden im Rennen geführt", sprach Pole-Setter und Weltmeister Stoffel Vandoorne (DS Penske) Worte aus, die man so nur selten zuvor im Rennsport vernommen hatte. Ebenso Porsche-Werksfahrer Antonio Felix da Costa, der einen möglichen zweiten Sieg in Folge durch einen späten Fahrfehler wegwarf: "Meine Strategie war es, immer auf Position zwei zu sein."

Warum kein Fahrer das Rennen auf dem 2,399 Kilometer langen Stadtkurs anführen wollte, ist klar: Die bis zu 350 kW (476 PS) starken und 780 Kilogramm schweren Gen3-Autos erzeugen einen enorm hohen Luftwiderstand, auch 'Drag' genannt. Von Spark Technologies entwickelt, kämpfen die Boliden mit ihren hohen Nasen und der breit auslaufenden Heckpartie am Ende des keilförmigen Einheitschassis stark mit dem Fahrtwind.

Da der Führende dem maximalen Luftwiderstand ausgesetzt ist, verbraucht er deutlich mehr Energie als seine Verfolger, die dahinter vom Windschatten profitieren können. Dieses Phänomen war seit dem Saisonbeginn bekannt, wurde in Sao Paulo mit seinen vier langen Geraden - auf denen die Fahrer keine Energie zurückgewinnen können - aber auf die absolute Spitze getrieben.

Verrückt: Fahrer winken sich gegenseitig vorbei

"Wir wussten, dass es auf dieser Strecke nicht wirklich gut ist, das Rennen anzuführen, weil sie so energieempfindlich ist und die nachfolgenden Fahrer so massiv vom Windschatten profitieren", sagte der Sechstplatzierte Vandoorne. Gerade in der ersten Rennhälfte des durch zwei Safety-Car-Phasen unterbrochenen Rennens spielten sich absurde Szenen ab, als die Fahrer an der Spitze sich gegenseitig vorbeiwinkten!

Wie in Runde 14, als Envision-Ass Cassidy innerhalb weniger Kurven vom vierten bis auf den ersten Platz kampflos durchgereicht wurde und dann direkt seinen Attack Mode aktivierte, um wieder zurückzufallen und der Konkurrenz bloß keinen Windschatten liefern zu müssen. So lief das Spiel beim Nicht-Kampf um die Führung eine ganze Weile. Wenig überraschend notierte die Formel E laut eigener Berechnung 114 Überholmanöver im Rennen.

Das absichtliche Vorbeilassen anderer Fahrer und vorsätzliche Vom-Gas-Gehen schlug sich auch auf die Pace im Rennen nieder: Porsche-Pilot Felix da Costa fuhr in Runde 5 auf dem Weg zur Führung die bis dato beste Rundenzeit in 1:16.182 Minuten. Zum Vergleich: Sam Bird schnappte sich fünf Runden vor Schluss den Extra-Punkt für die schnellste Rennrunde mit einer Zeit von 1:13.684 Minuten - also lockere 3,5 Sekunden schneller als Felix da Costa...

Brasilien-Sieger Evans: "Das war völlig bizarr"

"Es war ziemlich extrem", sagte Rennsieger Evans. "Manchmal wollte man gar nicht führen, das war völlig bizarr! Aber das wussten wir, und wir haben es richtig ausgespielt." Und sicherlich war es kein Zufall, dass ausgerechnet drei von einem Jaguar-Motor angetriebene Autos alle Plätze auf dem Podium einnahmen. Werkspilot Evans eroberte den ersten Saisonsieg und den siebten seiner Karriere in der Formel E, gefolgt von Nick Cassidy im Kunden-Jaguar von Envision sowie Evans' Teamkollege Sam Bird. Beim Zieleinlauf trennte das Trio nur eine halbe Sekunde.

"Das war unterhaltsamste Rennen, das ich jemals in der Formel E gefahren bin", meinte Cassidy nach seinem dritten aufeinanderfolgenden Podestplatz. "Es hat sehr viel Spaß gemacht. Es gab aber auch Zeiten, in denen man versuchen musste, eine Lücke herauszufahren, das Auto wirklich bis an die Grenze zu treiben und alles zu maximieren, um so effizient wie möglich zu sein. Das ist alles andere als einfach umzusetzen."

Dass der Ausgang des Rennens nicht aus dem Zufall heraus geboren wurde, ist eindeutig: Beim Zieleinlauf nach 35 Runden hatten Evans und Cassidy exakt 0,0 Prozent Restenergie in den Batterien ihrer Autos übrig - eine fahrerische wie taktische Meisterleistung der Beteiligten, die die Energie-Ziele mit jeder Runde neu berechnen und trotzdem so schnell wie möglich um die Kurven fahren müssen, um keine Zeit auf den Geraden zu verlieren. "Es war toll, Kopf an Kopf mit diesen Weltklasse-Piloten zu fahren und zu versuchen, sich gegenseitig zu überlisten", sagte Evans. "Das war wie ein Schachspiel."

Mitch Evans gewinnt das Formel-E-Rennen in Sao Paulo, Foto: Hankook
Mitch Evans gewinnt das Formel-E-Rennen in Sao Paulo, Foto: Hankook

Bird verzichtet nach Team-Crash auf Angriff

Die Schlussphase hätte sich womöglich noch epischer gestalten können, wenn nicht ausgerechnet drei Piloten mit einem Jaguar-Antriebsstrang das Rennen angeführt hätten. "Nach dem, was in Indien passiert ist, gab es keinen Grund reinzuhalten", sagte der Drittplatzierte Bird und spielte auf den teaminternen, desaströsen Crash mit Evans beim Hyderabad ePrix an.

Der Brite hatte das Rennen nach einer Strafe vom zehnten Startplatz aufgenommen, sich früh bis in die Top-5 vorgekämpft und den Schlussspurt sogar mit einem ordentlichen Energie-Vorteil eingeleitet. Zu einem Angriffsversuch auf die Führenden Evans und Cassidy kam es jedoch nicht. Bird: "Leider waren die Energie-Ziele am Ende so, dass es riskant gewesen wäre, reinzuhalten. Das war es nicht wert."

Ähnlich sah es Cassidy im Kundenauto von Envision, der in den letzten Runden nur einmal bei Spitzenreiter Evans 'anklopfte', dann aber lieber auf einen Fahrfehler seines neuseeländischen Landsmannes hoffte: "Von hinten kam Sam mit einem Energie-Vorteil an. Ich sagte mir, dass ich mit Platz zwei sicher bin, und vielleicht würde sich noch die Chance bieten, um den Sieg zu kämpfen. Dazu kam es nicht, aber ich bin zufrieden mit meiner Entscheidung."

Formel E: Ergebnis Sao Paulo ePrix 2023

PositionFahrerTeamAbstand
1Mitch EvansJaguar
2Nick CassidyEnvision+0.284
3Sam BirdJaguar+0.507
4Antonio Felix da CostaPorsche+3.487
5Jean-Eric VergneDS Penske+4.042
6Stoffel VandoorneDS Penske+4.576
7Pascal WehrleinPorsche+5.659
8Jake HughesMcLaren+6.141
9Rene RastMcLaren+7.403
10Sebastien BuemiEnvision+7.976
11Maximilian GüntherMaserati+15.192
12Andre LottererAvalanche Andretti+15.345
13Lucas di GrassiMahindra+19.247
14Robin FrijnsAbt-Cupra+20.751
15Oliver RowlandMahindra+21.465
16Sergio Sette CamaraNIO 333+31.514
17Dan TicktumNIO 333+34.398
DNFNico MüllerAbt-CupraAusfall
DNFEdoardo MortaraMaserati Ausfall
DNFJake DennisAndretti Ausfall
DNFSacha FenestrazNissan Ausfall
DNFNorman NatoNissan Ausfall