Die Formel E begann das vorletzte Rennwochenende der Saison 2022 auf dem verrückten Messehallen-Kurs in London mit einer dringend benötigten Erprobungsfahrt. Im 1. Freien Training am Freitagabend wollten die Fahrer unter realen Bedingungen ausprobieren, was zuvor für einige Kritik gesorgt hatte.
Namentlich: die im Vergleich zu 2021 umgebaute Passage in den Kurven 10 und 11, die zuvor zwei aufeinanderfolgende Haarnadel-Kurven waren. An ihre Stelle ist nun eine Schikane getreten, auf die nach einer kurzen Geraden in den unveränderten Kurven 12 und 13 eine weitere Schikane folgt.
Nach Meinung einiger Piloten ist die Konstruktion der neuen Schikanen-Passage auf dem 2,141 Kilometer langen Kurs, der zu 35 Prozent durch die überdachten ExCeL-Messehallen führt, zu flüssig bzw. zu schnell geraten. Auch fehle eine härtere Bremszone, um vor der Kurve reinstechen zu können. Damit fühlten sich mehrere Fahrer einer wichtigen Überholmöglichkeit beraubt, die in London ohnehin höchst rar gesät sind.
Formel E in London deutlich schneller als im Vorjahr
Den besseren Flow auf dem nun rund 100 Meter kürzeren Streckenverlauf mit seinen 22 Kurven sah man schon an den Rundenzeiten: Sergio Sette Camara (Dragon/Penske) erzielte die Bestzeit in 1:14.487 Minuten - mehr als fünfeinhalb Sekunden schneller als die 2021 von Stoffel Vandoorne aufgestellte Pole-Zeit (1:20.181 Minuten).
Im 1. Training ohne größere Zwischenfälle belegten hinter Sette Camara der Titelanwärter Mitch Evans (Jaguar), New-York-Sieger Nick Cassidy (Envision), Antonio Giovinazzi im zweiten Dragon-Penske, der amtierende Weltmister Nyck de Vries (Mercedes), Sebastien Buemi (Nissan), Pascal Wehrlein (Porsche) und der Meisterschaftsführende Stoffel Vandoorne die Plätze zwei bis acht.
Fahrer-Kritik: "Die Schikane ist zu schnell"
"Die Schikane ist zu schnell", beschwerte sich Jaguar-Ass Evans am Freitagnachmittag auf der Formel-E-Pressekonferenz. "Da hätte man mehr machen können, dann wäre die Strecke besser gewesen." 2021 war dieser Bereich eine beliebte Anlaufstelle für Überholmanöver - auch, wenn es sich in der engen Doppel-Haarnadel zwischenzeitlich derart aufstaute, dass Autos sogar kurzzeitig zum Stillstand kamen.
"Um sich reinzubremsen, brauchst du eigentlich eine gute Anbremszone", sagt Nissan-Pilot Maximilian Günther zu Motorsport-Magazin.com. "Da diese Schikane aber so schnell ist, bremst du nur ganz kurz. Da so nah dranzukommen, um einen Move zu machen, ist sehr schwierig. Ich bin mir trotzdem sicher, dass es einige Leute probieren werden. Ich bin mir aber auch ziemlich sicher, dass es da einige Karbon-Schäden geben wird!"
"Da fahren auf jeden Fall keine zwei Autos durch, das ist klar", bestätigt Porsche-Werksfahrer Andre Lotterer gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Wir haben jetzt einen Überholpunkt, der vergangenes Jahr markant war, weniger. Wir fahren jetzt schneller rein, deshalb wird es schwierig mit dem Überholen." Kein Geheimnis: Die Qualifyings zu den beiden Rennen in London sind entscheidender als auf jeder anderen Strecke im Formel-E-Rennkalender.
Wehrlein: "Man muss ja nicht immer einfach überholen können"
Das müsse nicht zwingend ein Nachteil für die Strecke sein, meinte unterdessen Pascal Wehrlein. Der Porsche-Werksfahrer zu Motorsport-Magazin.com: "Man muss ja nicht immer auf jeder Strecke einfach überholen können. Es ist auch mal interessant, wenn es mehr aufs Qualifying ankommt. Für mich ist das kein Problem, das kennt man aus anderen Rennserien. In der Formel E hat man oft den Luxus, dass Überholmanöver recht einfach sind, weil wir Energie sparen müssen im Rennen."
Das Energie-Management spielt in London eine sehr untergeordnete Rolle: Der Kurs bietet aufgrund des Stop-And-Go-Layouts viele Möglichkeiten zur Energierückgewinnung, jedoch einen besonders niedrigen Vollgasanteil. Es drohen Prozessionsfahrten mit hohem Crash-Potenzial, weil die Fahrer gezwungen sind, die 'Brechstange' auszupacken. "Mit der Energie ist es hier zu leicht", meint Mercedes-Titelaspirant Stoffel Vandoorne. "Letztes Jahr mussten wir 38 oder 39 kWh sparen, da sind 46 immer noch ganz schön viel." Wehrlein ergänzt: "Auf anderen Strecken müssen wir 30 bis 40 Prozent Energie pro Runde sparen, hier sind es nur 20 bis 25 Prozent."
In den beiden Rennen wird eine Renndistanz von rund 37 Runden erwartet, der Vollgasanteil liegt bei 18 Sekunden. Den Topspeed erreichen die Autos mit 194 km/h vor Kurve 1, was gleichzeitig als die beste Überholstelle angesehen wird. Die Aktivierungszone für den Attack-Mode befindet sich außen in Kurve 16.
Vergne: "Rennfahrer sind doch nie happy, oder?"
Der zweifache Formel-E-Champion Jean-Eric Vergne sieht die Überhol-Problematik ganz pragmatisch und meint in seiner typischen Art zu Motorsport-Magazin.com: "Rennfahrer sind doch nie happy, oder? Sicherlich ist die Stelle jetzt keine Überholmöglichkeit mehr. Das ist aber kein Problem, wenn du auf Pole startest. In anderen Rennserien ist es auf Strecken wie Monaco oder Budapest auch nicht leicht, zu überholen. Du musst halt einfach im Qualifying besser sein."
Ein Überhol-Spektakel ist also nicht zu erwarten beim London ePrix - langweilig dürfte den Fahrern aber nicht werden. Künstliche Flutlichter im Innenbereich sorgen für knifflige Sichtverhältnisse. Der Betonboden in der Halle wurde mit einer speziellen Substanz behandelt, um den Grip zu verbessern. Die Höhenunterschiede zwischen Indoor- und Outdoor-Bereich werden mit Rampen überbrückt und sind deutlich steiler als auf dem TV-Bildschirm zu erkennen.
Und zwar so steil, dass beim Runterfahren manche Autos in der Senke sogar mit dem Frontflügel auf dem Asphalt aufsetzen! Da werden Erinnerungen wach an Spa-Francorchamps mit seiner Senke in Eau Rouge - wenn in London auch andersherum. "Für eine schnelle Runde ist das hier die beste Strecke in der Formel E", findet Maximilian Günther. "Eine perfekte Strecke mit einem guten Flow, da musst du richtig präzise sein."
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