"Ich bin schon viele unterschiedliche Rennwagen gefahren, vom LMP2 oder GT bis hin zur Formel 1. Und dann setze ich mich in dieses Auto und alles fühlt sich komplett anders an. Ich hatte erwartet, dass es schwierig werden würde, aber es wurde um noch einiges härter!"
Es benötigt schon eine ganze Menge, um einen höchst erfahrenen Rennfahrer wie Antonio Giovinazzi zu verblüffen. Sein erstes Aufeinandertreffen mit dem aktuellen Gen2-Rennfahrzeug der Formel E bei den Vorsaison-Testfahrten in Valencia war offenbar ein derartiger Aha-Moment. Nach zuletzt 62 Formel-1-Rennen erwartet Formel-E-Neueinsteiger Giovinazzi mit dem Team DRAGON / PENSKE AUTOSPORT in der ersten rein elektrischen Rennserie der Welt nun eine gänzlich neue Herausforderung.
Sicherlich verfügen die Formel-E-Autos mit ihren 250 kW bzw. 335 PS nicht über die brachiale Leistung eines rund 1.000 PS starken Formel-1-Boliden, doch der optimale Umgang mit dem äußerst speziellen Fahrzeug verlangt dem Piloten ähnlich viel Talent und Geschick ab. Das Zauberwort zum Erfolg in der Elektro-Rennserie lautet seit jeher 'Energiemanagement', also die Verwaltung der zur Verfügung stehenden Leistung während eines Rennens.
Video: So funktioniert Energie-Management in der Formel E
Wie Energie-Management Rennen gewinnt
Nur ein Beispiel, wie sehr der Fahrer in diese Prozesse involviert ist: Die Energierückgewinnung kann sowohl über die manuelle Bremse als auch mittels einer speziellen Wippe am Lenkrad erfolgen. Zusätzliche Drehschalter am Lenkrad ermöglichen unterschiedliche Rekuperationsstufen, um während einer Lift-and-Coast-Phase - einfach ausgedrückt: dem Heranrollen an eine Kurve - bis zu 75 Prozent der aufgenommenen Energie in die Batterie zurückzuführen.
Im Idealfall steht dem Fahrer während eines 45-minütigen Rennens damit bis zu einem Drittel mehr Energie zur Verfügung als zum Rennstart mit einer fast vollständig aufgeladenen Batterie samt ihrer reglementierten Leistung von 52 kWh. Vorteile beim Umgang mit der Energie helfen bei Überholmanövern, beim Verteidigen sowie beim Verwalten eines Vorsprungs.
Formel-E-Teams vertrauen auf Bosch Motorsport
Unerlässlich bei diesen Vorgängen ist die im Formel-E-Fahrzeug integrierte Software, die den Fahrer beim Energiemanagement unterstützt. Mehrere Teams vertrauen dabei auf die Expertise von Bosch Motorsport, Teil der Bosch Engineering GmbH, einem 100-prozentigen Tochterunternehmen des international führenden Technologiegiganten Robert Bosch GmbH mit Hauptsitz in Abstatt bei Heilbronn.
Das 'Gehirn' in den Autos bildet die von Bosch für den Rennsport entwickelte Fahrzeugsteuerung namens MS 50.4P, wobei das 'P' wenig überraschend für Performance steht. Die Vehicle Control Unit (VCU) steuert neben den Motorfunktionen und dem zentralen Energiemanagement auch weitere Fahrzeugfunktionen wie die Energierückgewinnung und das Display im Fahrercockpit.
Ein Formel-E-Auto, das sei wie "Software mit Reifen", beschrieb es uns einmal ein Fahrer ziemlich treffend. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass den Ingenieuren eines Formel-E-Teams bis zu 9.000 unterschiedliche Parameter zur Verfügung stehen, um die hochkomplexe Software des Autos einzustellen und innerhalb kürzester Zeit auf die unterschiedlichen Gegebenheiten anzupassen.
Balance zwischen Energieeffizienz und Rundenzeit
"Das Ziel in der Optimierung der Steuerungssoftware ist, bei allen Strecken- und Rennbedingungen, immer die optimale Balance zwischen Energieeffizienz und Rundenzeit zu finden, um die Potenziale des Fahrzeugs bestmöglich auszuschöpfen", erklärt Dr. Klaus Böttcher, Leiter von Bosch Motorsport, das Anforderungsprofil in der Formel E.
Und das ändert sich ständig: Auf einem Kurs wie in Mexiko-City mit längeren Geraden und flüssigen Kurvenpassagen spielt das Energie-Management eine noch entscheidendere Rolle als auf einem temporären Stadtkurs mit dem üblichen Stop-And-Go-Charakter. So ist es kein Zufall, dass sich in der letzten Runde eines Mexiko-Rennens schon mehrfach Dramen abgespielt haben, weil einem Fahrer durch falsch kalkuliertes Leistungsmanagement auf den letzten Metern die verfügbare Energie ausging.
So komplex ist die Formel E
Das Zusammenspiel zwischen dem Fahrer, den Ingenieuren und der Software ist derart komplex, dass trotz wechselnder Rennbedingungen - von energiezehrenden Rad-an-Rad-Duellen bis hin zu Safety-Car-Phasen - beim Zieleinlauf häufig die exakt vorhandene Energiemenge verbraucht worden ist.
Um dieses Szenario zu erreichen, sammelt die Bosch-Fahrzeugsteuerung unter anderem Zustandsdaten von Reifen, Batterie und Antriebsstrang. Nach dem Empfang der Daten besteht die Aufgabe der VCU darin, den limitierenden Leistungsfaktor zu identifizieren. Ist es die Temperatur der Einheitsbatterie? Oder der Energieverbrauch des selbst entwickelten Antriebsstrangs? Mit Hilfe dieses Wissens berechnet die Fahrzeugsteuerung dann die optimale Rennstrategie.
Konkret ausgedrückt: Die MS 50.4P empfiehlt nicht nur, wann der Fahrer rekuperieren sollte, sondern sorgt durch die optimale Abstimmung zwischen elektrischer und hydraulischer Bremse auch für maximale Energierückgewinnung. Darüber hinaus passt sie die dem Antriebsstrang zugeführte Leistung an die jeweiligen Rennbedingungen an und optimiert die Rückmeldung an den Fahrer.
Formel-E-Saisonstart mit Giovinazzi und Co.
Mithilfe dieser Technologie wird das Energiemanagement des Fahrzeugs dynamisch angepasst, um bei vorgegebener Energiemenge den Piloten zu unterstützen, die schnellstmögliche Rundenzeit zu erreichen - denn die steht in der Formel E wie auch in jeder anderen Rennserie schließlich über allem. Sein erstes Formel-E-Rennen bestreitet Giovinazzi beim Saisonauftakt im saudi-arabischen Diriyah (28./29. Januar 2022, live im TV auf ProSieben).
Bei der Entwicklung des Fahrzeugmanagementsystems samt Hard- und Softwarebausteinen wie Kabelbäumen, Datenloggern oder der LTE Cloudlösung RaceConnect zur Telemetrie-Datenübertragung im Test-Betrieb setzt Bosch auf 120 Jahre Erfahrung im Motorsport sowie sein Know-how aus der Serienfertigung. Die zur Saison 4 (2017/18) geschlossene Serienpartnerschaft hat Bosch unlängst bis zur Saison 10 verlängert und startet damit ab 2023 mit der Einführung des neuen Gen3-Rennwagens in die nächste technologische Ära der Formel E.
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