Plötzlich stand der WM-Anwärter ohne rechten Hinterreifen da. Es war die 22. Runde des Großen Preises von Europa auf dem, wie immer, regnerischen Nürburgring. Eddie Irvine kam zu einem unplanmäßigen Boxenstopp an die Ferrari-Box und erlebte sein rotes Wunder: es standen nur drei Reifen für ihn parat. Für schier endlose 28,2 Sekunden irrten die Mechaniker durch die Box, auf der Suche nach dem verschollenen Gummiprodukt. Die Scuderia Chaos war geboren.

Nürburgring, 1999: Eddie Irvine fehlte ein Reifen., Foto: Sutton
Nürburgring, 1999: Eddie Irvine fehlte ein Reifen., Foto: Sutton

Neun Jahre später sind alle vier Reifen da, doch die beiden WM-Anwärter erleben beim Großen Preis von Europa in Valencia trotzdem ein rotes Wunder: Felipe Massa wird zu früh losgeschickt und kollidiert beinahe mit Adrian Sutil. Das Team erhält hinterher eine Geldstrafe. Noch schlimmer erwischt es Kimi Räikkönen. Er fährt beim Boxenstopp los, als die Ampelanlage noch Rot zeigt und reißt den Tankmann um. Szenen, wie sie von den perfektionistischen Serienweltmeistern in den Jahren dazwischen nur selten zu sehen waren - zum Beispiel, wenn Flammen hochschlugen oder Mechaniker durch die Luft flogen. Beide Male saß ein gewisser Michael Schumacher am Steuer.

Kostspieliger Fehler

Bei der Nachtpremiere in Singapur waren es wieder Massa und Räikkönen, die mitten im Chaos steckten. Beim zweiten neuen Stadtrennen in dieser Saison verpatzte Ferrari zum zweiten Mal einen Boxenstopp. Diesmal wurden jedoch die separaten Fehler von Valencia in einen Vorfall kombiniert: Massa wurde zu früh in den Verkehr losgelassen und riss gleichzeitig den Tankschlauch aus der Anlage, da das System ihm Grün anzeigte, obwohl der Tankvorgang noch gar nicht abgeschlossen war. Umso ärgerlicher: Massa lag zu diesem Zeitpunkt in Führung und hätte mit einem Sieg die WM-Führung übernommen.

"Felipe hat Grün, gibt volle Pulle und fährt los. Er hat alles richtig gemacht", analysiert Christian Danner. "Massa ist völlig schuldlos." Auch Niki Lauda stellt fest: "Das Team hat Massa wertvolle Punkte gekostet. Rot hat richtig verloren." Diese Sicht bestätigt Keke Rosberg: "Für Ferrari war es natürlich ein riesiger Reinfall. Sie gehen mit leeren Händen nach Hause."

Das könnte Ferrari teuer zu stehen kommen. "Das Auto rauszulassen, so lange der Tankschlauch noch dran war, und danach so lange zu warten, bis jemand hinunter geht, um ihn zu entfernen, das könnte sie den Titel gekostet haben", sagt Jackie Stewart.

Schwarzer Sonntag

Es sollte nicht der einzige Fehler bleiben. Während Massa schuldlos war, sah das bei Kimi Räikkönens Mauerkontakt anders aus. "Das war vollkommen unnötig", kritisiert Lauda. "So ein Anfängerfehler für einen 15-Millionen-Dollarmann, einen amtierenden Weltmeister!", wettert Danner, der Konditionsprobleme und deshalb Konzentrationsschwächen vermutet. Es war nicht der erste Fehler des Finnen in den Schlussrunden eines Stadtrennens: in Monaco krachte er in einer Safety-Car-Phase Adrian Sutil ins Heck.

Kimi Räikkönen versenkte alle Hoffnungen auf Ferrari-Punkte., Foto: Sutton
Kimi Räikkönen versenkte alle Hoffnungen auf Ferrari-Punkte., Foto: Sutton

Räikkönen beschrieb die Situation ohne große Worte: "Ich berührte innen den Kerb, prallte ab und traf die Mauer." Für Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali war es ein schwarzer Tag, den das Team mit ein bisschen Glück auch mit einem Doppelsieg hätte beenden können. Denn bis zum Boxenchaos waren Massa und Räikkönen schneller unterwegs als Lewis Hamilton. "wir haben sechs Punkte verloren und sind jetzt sieben Punkte zurück", rechnete Massa vor. "Wir hätten heute WM-Erster sein können, denn wir hatten eine fantastische Pace."

Einen Rückfall in alte Chaoszeiten sieht Domenicali allerdings nicht, nur weil bei zwei Rennen Boxenstopps verpatzt wurden. "In den vergangenen zehn oder zwölf Jahren gab es immer Probleme", erinnert er. "Ich kann mich auch an Probleme bei Michael [Schumacher] und Rubens [Barrichello] erinnern. Es stimmt also nicht, dass wir jetzt mehr Fehler als in der Vergangenheit machen. Allerdings sollten wir gar keine machen."

Inelligenter Nichtangriffspakt

Vor einem Jahr waren es McLaren und Lewis Hamilton, die wegen diverser Fehler und Unkonzentriertheiten in die Kritik gerieten und so den WM-Titel verspielten. "Das Wichtigste ist, uns aus Problemen raus zu halten. Man muss die Rennen beenden, man muss alle Rennen in den Top Drei beenden", kündigte Ron Dennis noch vor dem Singapur GP die Herangehensweise für den WM-Endspurt an. Man habe aus dem Vorjahr gelernt, nicht nur Hamilton, der jetzt reifer sei, auch das Team, betonte Martin Whitmarsh.

Angesichts seiner aggressiven Fahrweise, seines unbedingten Siegeswillens hätten es Hamilton nicht viele zugetraut, dass er in der Schlussphase des Rennens zurücksteckt und sich mit sechs Punkten für Rang 3 zufrieden geben würde. "Nach dem zweiten Neustart habe ich versucht, so nahe wie möglich hinter Nico Rosberg zu bleiben", verriet er. "Allerdings wollte ich kein Risiko eingehen, besonders, da die Ferrari-Fahrer außerhalb der Punkteränge lagen."

Diese Ansage erhielt er auch vom Team: "Nach Kimis Unfall haben wir Lewis gebeten, als Dritter rein zu fahren, es locker anzugehen, Punkte nach Hause zu bringen", sagt Dennis. Realistisch betrachtet könnten die sechs Punkte jedoch süßer sein als ein Sieg - denn die Konkurrenten im Titelkampf punkteten alle drei nicht. "Das sagt einem das logische Denken, doch das Herz möchte immer Rennen gewinnen", rückt Whitmarsh zurecht. "Ein Rennsieg ist ein Adrenalinstoß, aber für die WM ist so ein Ergebnis vielleicht wichtiger." Eine Sieben-Punkte-Führung sei drei Rennen vor Ende dennoch unbezahlbar, betont Dennis. "Von den 30 ausstehenden Punkten hätten wir gerne 24."

Der Kampf geht weiter

Während Ferrari auf dem Schlauch stand, fuhr Hamilton in Richtung WM-Titel., Foto: Sutton
Während Ferrari auf dem Schlauch stand, fuhr Hamilton in Richtung WM-Titel., Foto: Sutton

Die clevere Fahrweise des WM-Führenden brachte Lob von erstaunten Experten. Er sei intelligent gefahren, lobte Niki Lauda. "Lewis hat es immer angekündigt und es jetzt auch tatsächlich getan", gestand Danner. "Wenn er das so weiter macht, wird er Weltmeister."

Für Lauda war es eine Vorentscheidung in Richtung Hamilton, obwohl er gesteht, dass noch viel passieren könne. "Er hat so viel Vorsprung, dass er nur noch zu Ende fahren muss", meinte Danner. "Das schnellere Auto hat aber Ferrari." Das schätzt Jackie Stewart ähnlich ein. "Im Trockenen ist der Ferrari noch immer das bessere Auto als der McLaren." Im Regen sei jedoch der McLaren dem Ferrari überlegen.

Noch gebe es 30 Punkte zu gewinnen und zu verlieren. Um die WM zu gewinnen, dürfe man keine Fehler machen und schon gar keine Unfälle bauen, so Stewart. Mario Theissen sieht nach der Nullrunde für Ferrari alles offen: "In der WM hat sich dadurch nur verändert, dass es ein Rennen weniger ist bis zum Finale."