Nur einen Grand Prix hat es gebraucht, bis die Track Limits in der Formel 1 2021 zum ganz heißen Thema wurden. Nachdem Max Verstappen Lewis Hamilton im Kampf um den Sieg überholte, dabei aber über den Kerb und die weiße Linie hinausfuhr und die Position auf Anweisung der Rennleitung zurückgeben musste, entbrannte die Diskussion.
Erst recht, weil Mercedes' Piloten davor rundenlang dort die gleiche Linie gefahren waren. Die FIA und Rennleiter Michael Masi wurden von Teams und Fans gleichermaßen mit Kritik überhäuft. Die schlechte Stimmung überrascht nicht, wenn man die Formel 1 der letzten Monate verfolgt hat. Jedes Rennen und jede Kurve scheinen eigene Regeln zum Streckenrand zu haben. Was macht da noch Sinn? Motorsport-Magazin.com dröselt die Konfusion ohne jede Konstanz auf.
Formel-1-Rennleitung folgt nicht immer den FIA-Reglements
Zuerst einmal sei gesagt: Eigentlich sind die Track Limits in den Regelwerken der Formel 1 klar definiert. Zuerst einmal im International Sporting Code (ISC) der FIA, jenem Kodex, der für alle FIA-Rennserien gilt. Im Appendix L, Kapitel IV, Punkt 2: "Überholen, Fahrzeugkontrolle und Track Limits". Unterpunkt b) hält ohne Zweifel fest: Bei einem Überholmanöver darf der Fahrer ohne guten Grund nicht von der Strecke. Unterpunkt c) unterstreicht: Auch sonst müssen Fahrer immer die Strecke verwenden. Die Strecke wird hier eindeutig als der Bereich von weißer Linie zu weißer Linie definiert. Die Kerbs sind nicht mehr Teil der Strecke.
Der Passus des ISC wurde außerdem fast Verbatim als Artikel 27.3 in das Sportliche Reglement der Formel 1 übertragen. Die F1-Regeln fügen nur einen Satz hinzu: Der Rennleiter darf einem Fahrer, der gegen diese Vorschreibung verstoßen hat, die Chance geben, den errungenen Vorteil vollständig zurückzugeben.
Damit tun sich für F1-Fans natürlich schon die ersten großen Fragen auf: Warum fahren die Piloten dann regelmäßig mit allen vier Rädern über die weiße Linie? Das gilt schließlich nicht nur für die Bahrain-Kontroverse, sondern ist seit Monaten bei allen möglichen Grands Prix der Fall.
Die Antwort ist: Artikel 27.3 wird einfach nicht angewendet. Unter F1-Rennleiter Michael Masi, der 2019 von Charlie Whiting übernahm, bürgerte sich eine neue Track-Limit-Konvention ein. In Kurven, wo es Kerbs gibt, gilt ein Auto erst dann als "abseits der Strecke", wenn es mit allen vier Rädern auch hinter den Kerb fährt.
Genauer definiert wird es von Kurve zu Kurve - in einem zusätzlichen Dokument, das die Beschränkungen des ISC und des Sportlichen Reglements überschreibt. Das sind die Event-Notizen des Rennleiters. In diesen werden grundsätzlich streckenspezifische Fragen geklärt, die in allgemeinen Regelbüchern nicht definiert werden können.
In der Formel 1 unter Masi heißt es: Kritische Kurven werden in den Event-Notizen abgehandelt. Alle anderen Kurven nicht. Werden sie kritisch, finden sie im Laufe des Wochenendes ihren Weg in die upgedateten Event-Notizen.
Rennleitung ändert von GP zu GP - und von Training zu Qualifying
Das zeigt schon die ersten Unklarheiten auf: Die Anweisungen der Event-Notizen hebeln das relativ klar formulierte Sportliche Reglement und den ISC aus, und daraus resultieren Situationen, in denen Track Limits an einem Wochenende nur in bestimmten Kurven angewandt werden. Oder von Kurve zu Kurve verschieden angewandt werden. Für Teams noch nachvollziehbar, für Fans weniger: Die Event-Notizen sind zwar öffentlich verfügbar, müssen aber etwa von TV-Kommentatoren erst thematisiert werden.
Alle offiziellen FIA-Dokumente hier
Die Unklarheiten werden durch die regelmäßigen Änderungen von GP zu GP noch unklarer. Fehlen Kurven, nehmen Fahrer und Teams das als Einladung an, um die undeutliche Auslegung auszunutzen und dort einfach irgendwo zu fahren. Das zieht meist keine Strafen, aber Änderungen für das Qualifying und das Rennen nach sich. Ungeschriebene Implikation: Wenn's nicht in den Notizen steht, gibt's keine Beschränkung.
Unstimmigkeiten zwischen Rennleiter und Fahrer machen es noch komplizierter. Beim Portugal-GP von 2020 zog man die Daumenschrauben an und deklarierte vor den Trainings die weiße Linie als Track Limit. 125 gestrichene Rundenzeiten später saßen Masi und die Fahrer im freitagabendlichen Fahrerbriefing zusammen - und die FIA gab nach.
Die Fahrer hatten argumentiert, dass es schlichtweg unmöglich sei, in den kritischen Kurven innerhalb der weißen Linie zu bleiben. Das Tempo sei zu hoch, und die Sichtbarkeit von Linie und Kerb aus dem Cockpit nicht gegeben. Um 19:42 Uhr am Freitag kam V3 der Event-Notizen: Die Kerbs waren wieder das äußerste Limit, nicht die Linien.
Beim nächsten Rennen in Imola wurde es noch absurder. In den Event-Notizen vor dem Training wurde plötzlich nicht mehr explizit definiert, ob in den Kurven 9 und 15 nun die weiße Linie oder der Kerb galt. Auch, weil der Kerb in 9 kein echter Kerb ist, sondern eine gemalte italienische Flagge, mit einem flachen Kerb dahinter. Kimi Räikkönen wurde im Qualifying Opfer des Unverständnisses. Er oder sein Team Alfa mussten übersehen haben, dass die weiße Linie hier als Grenze hergenommen wurde.
Track Limits in Bahrain: Zu wenig & zu unklar
Spätestens an dem Punkt war jedwede Rest-Konstanz beim Teufel. Bahrain 2020 begann das Spiel von vorne. Für Kurve 4 wurde in V1 der Event-Notizen wieder die weiße Linie angegeben. In V3 wurden sämtliche Beschränkungen wieder gestrichen. In Abu Dhabi wurden Regelungen für das Rennen erst nachträglich ergänzt.
Mit diesem Stand maximaler Unklarheit kam die Formel 1 zum 2021-Auftakt zurück nach Bahrain. Zusammengefasst: FP1 & FP2 2020 galt die weiße Linie. FP3, Q und R 2020 gab es nur einen Verweis, dass man sich keinen Vorteil verschaffen dürfe. FP1 2021 begann mit diesen Regeln. FP2, FP3 und Q galt ein neu aufgemalter (!) Kerb. Im Rennen galt wieder nur die Ansage, dass man sich keinen Vorteil verschaffen dürfe.
Die Unklarheit war mit einem schwammigen Verweis perfekt: "In allen Fällen im Rennen seien die Fahrer an die Provisionen des Artikels 27.3 der Sportlichen Regeln erinnert." Wo - wie hier eingangs thematisiert - eigentlich überhaupt die weiße Linie als Limit gilt.
Welche Provisionen sind damit also gemeint? Die Logik diktiert, dass es folgende sein müssten: Der Fahrer darf, wenn er von der Strecke fährt, keinen dauerhaften Vorteil erzielen. Auf Anweisung des Rennleiters muss er ihn zurückgeben. Was aber ist ein dauerhafter Vorteil? Wohl basierend auf allen vorangestellten Ereignissen beschloss Mercedes, dass damit nur Überholmanöver gemeint seien, und instruierte die Fahrer entsprechend. Auch das ist logisch, schließlich hieß es explizit, dass Track Limits nicht unter Beobachtung stehen.
Aber wie nach dem Rennen alle einstimmig klarstellten: Dort weit zu fahren und sich die enge Kurve aufzumachen spart Rundenzeit, und kann bis zu zwei Zehntel pro Runde bringen. Ist das nicht auch ein "dauerhafter Vorteil"? Eine Erkenntnis, die nach Red Bulls Nachfrage mitten im Rennen offenbar auch die Rennleitung traf, worauf man Mercedes instruierte, das dauernde Rausfahren einzustellen. Gewissermaßen ein neuer Tiefpunkt: Anpassungen während des laufenden Rennens.
Wie kann die Formel 1 ihr Track-Limit-Problem lösen?
Bestrafen aber konnte man sie schlecht - hatte man sich doch selbst nicht deutlich ausgedrückt. In diesem Sinne hat Mercedes-Teamchef Toto Wolff dann sowohl Recht und Unrecht, wenn er sich nach dem Rennen beklagt: "Wir müssen konstant sein, welche Anweisungen ausgegeben werden, sie müssen klar sein, und kein Shakespare-Roman." Ja, die Anweisungen müssen klar und konstant sein. Aber Bahrain hätte es gut getan, wenn sie in mehr als nur ein paar schwammigen Absätzen abgehandelt worden wären.
Sicherlich aber muss die Formel 1 dieses Problem lösen. Nur wie? Eine von Wochenende zu Wochenende konstante, dem F1-Reglement folgende Definition ohne Widerrede durchzusetzen ist schwierig, wie der Fall Portugal 2020 zeigt. Die sinnvollste Lösung: Echte Hindernisse direkt hinter der weißen Linie - Kiesbetten oder höhere Kerbs.
Doch auch das gestaltet sich schwierig. Kiesbetten sind nicht mehr der Standard. Moderne Kerbs sind flach, oft weil die Strecken mit Motorrad-Rennen im Hinterkopf gestaltet werden. Und extra montierte hohe Zusatz-Kerbs - wie die berühmten "Sausage-Kerbs" vom Red Bull Ring - bestrafen unbestreitbar das Rausfahren, werden aber schnell kritisiert, weil das Überfahren die filigranen modernen F1-Autos leicht beschädigen kann.
Die Debatte geht also weiter. Die in diesem Artikel bereits thematisierten Strecken Imola und Portimao sind die nächsten Grands Prix.
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