Seit 21 Jahren gab es in der Formel 1 keinen Todesfall mehr, doch dass die Gefahr stets mitfährt, zeigte sich im Oktober vergangenen Jahres, als Jules Bianchi in Suzuka verunglückte. Seit diesem Tag liegt er im Koma. Die Formel-1-Welt war geschockt, beim folgenden Rennen in Russland gab es eine Schweigeminute. Sir Jackie Stewart, Weltmeister 1969, 1971 und 1973, erlebte ganz andere Zeiten. Regelmäßig gab es Unfälle mit tödlichem Ausgang. "Wir haben das niemals gemacht, wir standen nicht beim nächsten Rennen in einem Kreis und hielten eine Schweigeminute. Weil so lange kein Fahrer mehr gestorben ist, haben die heutigen Piloten keinen blassen Schimmer davon, was es bedeutet, sich mit dem Thema Tod auseinanderzusetzen", erklärt Stewart im Interview mit dem Tagesspiegel die Gründe für die Betroffenheit.

Stewart selbst erlebte viele solcher Momente. Dementsprechend rät er den aktuellen Piloten, derartige Unfälle nicht an sich heranzulassen. "Irgendwie musst du weitermachen. Bei dem fürchterlichen Feuerunfall von Piers Courage 1970 in Zandvoort fuhren wir durch Feuer und Rauch, Runde für Runde, denn das Rennen wurde nicht gestoppt. Manche Leute nannten es gefühllos, dass wir weiterfuhren, manche nannten uns Fahrer einfach dumm", erinnert sich der Schotte. Es sei vor allem eine Frage des Kopfes, den Verstand abzuschotten, sowohl während des Rennens, als auch danach, wenn man die traurigen Nachrichten bekommt, so Stewart weiter.

Ayrton Senna ist das bislang letzte Todesopfer der Formel 1, Foto: Sutton
Ayrton Senna ist das bislang letzte Todesopfer der Formel 1, Foto: Sutton

Ihm selbst sei das immer gelungen - bis auf ein einziges Mal, als sein guter Freund Jochen Rindt in Monza tödlich verunglückte. "Ich ging nach dem Unfall zu dem kleinen Ambulanzwagen, in dem er lag, und mir war sofort klar, dass er tot ist. Er hatte viele Bein- und Fußverletzungen, aber er blutete nicht. Das Herz pumpte kein Blut mehr. Er war ein sehr guter Freund, und ich wusste nicht, was ich in diesem Moment tun sollte", berichtet er über das damalige Erlebnis.

Doch er setzte sich wieder ins Auto und schaffte es, dieses Erlebnis zu verdrängen. "Ich fuhr dann die sauberste Runde, die ich je in Monza gefahren bin, und qualifizierte mich als Zweiter. Ich fuhr nicht wild, ich ging nicht über das Limit, und es war auch keine Todessehnsucht dabei, wie die Journalisten später behaupteten. Mein Verstand hat meine Trauer einfach überschrieben", erklärt er die mentale Situation. Insgesamt habe er 59 Freunde durch den Rennsport verloren.

Angesichts seiner Erinnerungen hat der 76-Jährige kein Verständnis, wenn sich die heutigen Fahrer über Banalitäten aufregen. Es fehle da an mentaler Stärke. "Wenn ich sehe, dass sich Fahrer im Auto ärgern, dann denke ich: Die brauchen einen Nachhilfekurs in Kopfmanagement", so Stewart. "Als Lewis Hamilton wegen des Teamfehlers den Monaco-Grand-Prix verlor, war er sehr verärgert. Er wusste nicht, wie er seine Gefühle kontrollieren soll. Ansonsten hätte er die ganze Angelegenheit völlig anders geregelt. Die heutigen Fahrer haben einfach keine Erfahrungen mit extremen Verhältnissen", ist er sich sicher.

Jackie Stewart galt stets als Verfechter gehobener Sicherheitsstandards, ausgelöst auch durch seinen eigenen Unfall 1966 in Spa. "Es gab keine Streckenposten, keine medizinische Hilfe", erinnert er sich. Ich musste eine weitere halbe Stunde auf den Krankenwagen warten, auf dem Weg ins Krankenhaus nach Lüttich verfuhr sich der Fahrer. All das hat sich geändert", zeigt er sich zufrieden. Jedoch habe diese Entwicklung auch dazu beigetragen, dass die heutigen Fahrer teils viel zu sorglos mit ihrem Leben umgehen. Jackie Stewart sind einige Dinge aufgefallen. "Zum Beispiel (...), dass sie keine feuerfeste Unterwäsche mehr tragen. Sie tragen nur ihre feuerfesten Overalls. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, trotz der modernen Tanks, ist ein Feuer nicht ausgeschlossen. Erst in dem Moment, in dem es wieder ein großes Feuer gibt, werden sie umdenken. Aber dann ist es zu spät", klagt er.

Kein Bezug mehr zur Gefahr des Sports

Generell habe sich das gesamte Verhalten der Fahrer verändert, die Priorität liege nicht mehr darauf, zu überleben. "Die Fahrer fühlen sich zu sicher. Ein Beispiel: In meiner Zeit hatten wir nicht annähernd so viele Interviews in der Startaufstellung. Da rennen unglaublich viele Journalisten herum und versuchen Statements von den Fahrern zu kriegen. Wir waren so kurz vor dem Rennen in einem völlig anderen mentalen Modus als die aktuellen Fahrer", stellt er fest.

Bianchis Unfall löste eine neue Sicherheitsdebatte aus, Foto: Youtube
Bianchis Unfall löste eine neue Sicherheitsdebatte aus, Foto: Youtube

Ihren Teil dazu beigetragen hätten die hypermodernen und absolut sicheren Strecken. "Wenn sie in Abu Dhabi oder auf irgendeinem anderen der neuen Kurse fahren, dann können sie zwanzig Meter neben der Strecke fahren, ohne gegen etwas zu fahren, und manchmal verlieren sie dabei nicht einmal Zeit", zeigt sich Stewart nahezu erschüttert. "Michael Schumacher ist bei jedem Grand Prix von der Strecke abgekommen, er fuhr sein Auto stets über dem Limit. Er wusste, dass er das Gelände neben der Strecke mitbenutzen konnte. Aber er tat es nur in Kurven, die genügend große Auslaufzonen an der Außenseite hatten, so dass es bei einem Unfall kein Desaster geben würde. So etwas hättest du in unserer Zeit niemals getan, niemals tun können."

Die Tatsache, dass die Fahrer beim diesjährigen Formel-1-Rennen in Monaco Jules Bianchi keinen Besuch abgestattet haben, passe laut Stewart in dieses Bild. "Es ist eine Art Blindheit, beinahe ein Widerstand, der Realität ins Auge zu sehen. Ich will das nicht wissen, ich will das nicht sehen, ich will nicht darüber nachdenken, dass mir das auch passieren könnte. Wenn du ins Krankenhaus oder zu einem Begräbnis gehst, dann stellst du dir die Frage: Mein Gott, kann das auch mir passieren? Doch wenn du die Risiken und Gefahren nicht kennst, dann weißt du auch nicht, wie du sie vermeiden kannst", gibt er zu Bedenken.