Das Kanada-Wochenende verläuft bislang komisch. Die Analyse am Freitag war wegen der verregneten zweiten Session arg eingeschränkt. Auch im dritten Freien Training wurde das Bild durch zwei Rot-Phasen verfälscht. Und im Qualifying ließ die Ferrari-Technik Sebastian Vettel im Stich - und verbaute uns einen näheren Blick auf das Kräfteverhältnis an der Spitze.

Natürlich sitzt Kimi Räikkönen im gleichen Auto - aber das Qualifying ist bekanntlich nicht seine Paradedisziplin. Motorsport-Magazin.com wirft dennoch alle Erkenntnisse des Wochenende in einen Topf und präsentiert die Favoriten-Analyse für den Kanada GP.

Reifen-Rätsel im Qualifying

Sebastian Vettel war nach seinem Qualifying verständlicherweise schlecht gelaunt. Der Ferrari-Pilot war aber noch ein bisschen schlechter gelaunt, als er das bei einem anderen Rennen mit diesem Defekt gewesen wäre. Warum? Weil Vettel in Kanada eine Chance witterte. "Wir wären ein bisschen näher dran gewesen, aber wir werden nicht herausfinden, wie nahe", ärgerte er sich.

Kimi Räikkönen fehlten auf Lewis Hamilton sechs Zehntel. Das klingt nicht nach näher dran. Zumal auf dem Circuit Gilles Villeneuve die zweitkürzesten Rundenzeiten des gesamten Jahres gefahren werden und die Abstände hier generell etwas enger sind. Allerdings gibt es bei diesem Abstand drei Faktoren zu bedenken.

Faktor 1: Räikkönen
Wie eingangs erwähnt: Räikkönens Spezialdisziplin ist nicht das Qualifying. In diesem Jahr verlor er auf Sebastian Vettel durchschnittlich 0,43 Sekunden - das ist eine Menge Holz. Oder anders ausgedrückt: Im Quali-Duell stand es vor Kanada 6:0 für Vettel. Vielleicht wäre der Abstand etwas kleiner ausgefallen, wäre Vettel mit um die Pole gefahren.

Faktor 2: Mercedes' Qualifying-Modus
Kanada ist das siebte Rennen der Saison. Sechsmal stand Lewis Hamilton auf Pole, einmal Nico Rosberg. Im Qualifying ist die Konkurrenz chancenlos. Mercedes fährt im Zeittraining mit einer aggressiveren Motoren-Einstellung. Deshalb ist der Vorsprung da übermäßig groß. Auf der Power-Strecke von Montreal wirkt sich das noch stärker aus.

Faktor 3: Reifen-Strategie
Zwar liefert Pirelli die Supersoftreifen, trotzdem ist das Aufwärmen nicht ganz leicht - wie auch Felipe Nasr schon gezeigt hat. Die lateralen Kräfte sind eher gering, so dass die Reifen strukturell nur schwer auf Temperatur kommen. Mercedes' Trick: Hamilton und Rosberg fuhren vor ihren gezeiteten Runden jeweils eine zusätzliche Aufwärmrunde. Kein anderes Team machte das so. "Das Ergebnis lässt vermuten, dass unsere Herangehensweise heute gut für uns funktioniert hat", formuliert es Paddy Lowe vorsichtig. Dabei hat Mercedes prinzipiell am wenigsten Probleme, um die Reifen auf Temperatur zu bringen - Downforce sei Dank.

Arrivabene fordert Platz zwei

Ferrari ist vor dem Rennen ungewöhnlich optimistisch und offensiv. Teamchef Maurizio Arrivabene fordert von Kimi Räikkönen mindestens Platz zwei: "Im Qualifying ist Mercedes wesentlich besser als wir. Im Rennen werden wir sehen. Ich hoffe, wir kommen weiter vor." Weiter vor als Platz drei ist eine Ansage. Das Mercedes-Duo soll gesprengt werden.

Eigentlich spielen die Reifen keine große Rolle. Obwohl Soft und Supersoft zum Einsatz kommen, ist eine Einstopp-Strategie wahrscheinlich. Allerdings ist eine Zweistopp-Strategie fast identisch schnell. Die kurze Boxendurchfahrtszeit macht sich bezahlt. Ferrari dürfte bei Räikkönen eher auf eine Einstopp-Strategie setzen. Ferrari geht mit den Hinterreifen besser um, Kimi Räikkönen ist bekannt dafür, das umsetzen zu können.

Auch bei Mercedes ist eine Einstopp-Strategie durchaus denkbar, allerdings könnten Rosberg und Hamilton auch auf unterschiedliche Strategien gehen. Beispielsweise, wenn Rosberg keinen Weg an Hamilton vorbeifindet. Dann könnte Räikkönens Stunde schlagen. Vettel siegte in Malaysia, weil er einen Stopp weniger machte. Ganz unrealistisch ist das in Kanada für Räikkönen nicht.

Räikkönens Longrun am Freitag war sensationell stark, das ist auch Lewis Hamilton nicht entgangen: "Es sieht so aus, als ob Ferrari eine gute Rennpace hat und sie steigern sich stetig. Aus diesem Grund müssen wir weiter angreifen." Fraglich ist nur, ob Ferrari die Longruns mit den üblichen Spritmengen fuhr, oder ob wegen des kleinen trockenen Zeitfensters etwas abgetankt wurde.

Spannend ist auch die Frage nach dem Benzin. Bei keinem Rennen müssen die Piloten so viel Benzin sparen wie in Kanada. Ferrari setzt bereits einen um drei Token überarbeiteten Verbrennungsmotor ein. Der Verbrennungsmotor ist das Herzstück der Power Unit. Mehr Leistung heißt hier gleichzeitig eine Steigerung der Effizienz. Ferrari schien schon zuvor beim Verbrauch auf einem Niveau mit Mercedes gewesen zu sein. Ein weiterer Hoffnungsschimmer für Ferrari.

Hamilton oder Rosberg?

Es bleibt aber dabei: Es sind Hoffnungsschimmer. Mercedes ist trotz allen aufgezählten Faktoren im Normalfall in der Lage, einen Doppelsieg einzufahren. Bleibt die Frage, ob Hamilton oder Rosberg. Auf kaum einer Strecke ist die Pole Position statistisch gesehen so wertlos wie in Montreal. Von den letzten 16 Rennen in Montreal wurden nur 5 von der Pole Position aus gewonnen. Es passiert viel, es kann gut überholt werden.

Hamiltons Wochenende verlief alles andere als perfekt, Foto: Sutton
Hamiltons Wochenende verlief alles andere als perfekt, Foto: Sutton

Beide Piloten hatten bislang kein perfektes Wochenende. Meistens war Hamilton der schnellere, allerdings schoss der Brite auch oftmals über das Ziel hinaus. Am Freitag drehte er sich zweimal, crashte später und für die Schikane vor der Wall of Champions hat er ebenfalls schon eigenwillige Linien gefunden. Rosberg hingegen machte weniger Fehler, war aber meistens langsamer. Ähnlich wie im vergangenen Jahr - und da lieferten sich die beiden Mercedes-Piloten einen Kampf, bis die Technik versagte.

Wie weit geht es für Sebastian Vettel nach vorne? "Wir haben ein schnelles Auto, deswegen sollten wir viel Boden gutmachen können", meint Vettel selbst. Am Freitag war der Ferrari das schnellste Auto auf der Geraden. Eine gute Voraussetzung also für eine Aufholjagd. Außerdem hat Vettel noch jede Menge frische Reifensätze. "Ich habe wahrscheinlich mehr Reifen übrig, als ich brauche", scherzt er.

Topspeeds beim zweiten Freien Training in Kanada

Fahrer Team Motor Topspeed
Kimi Räikkönen Ferrari Ferrari 336,2 km/h
Sebastian Vettel Ferrari Ferrari 335,8 km/h
Nico Hülkenberg Force India Mercedes 333,6 km/h
Pastor Maldonado Lotus Mercedes 333,5 km/h
Sergio Perez Force India Mercedes 332,9 km/h
Marcus Ericsson Sauber Ferrari 332,5 km/h
Max Verstappen Toro Rosso Renault 332,2 km/h
Romain Grosjean Lotus Mercedes 331,3 km/h
Daniil Kvyat Red Bull Renault 331,1 km/h
Carlos Sainz Toro Rosso Renault 330,4 km/h
Lewis Hamilton Mercedes Mercedes 329,8 km/h
Felipe Massa Williams Mercedes 329,4 km/h
Felipe Nasr Sauber Ferrari 329,4 km/h
Valtteri Bottas Williams Mercedes 329,2 km/h
Nico Rosberg Mercedes Mercedes 328,3 km/h
Daniel Ricciardo Red Bull Renault 326,3 km/h
Roberto Merhi Manor Ferrari (2014) 322,7 km/h
Fernando Alonso McLaren Honda 322,1 km/h
Will Stevens Manor Ferrari (2014) 318,3 km/h
Jenson Button McLaren Honda 317,5 km/h

Damit ist Ferrari variabel. Stoppen die meisten Konkurrenten zweimal, kann Vettel draußen bleiben und auf einen Stopp gehen. Zeichnet sich generell ein Einstopp-Rennen ab und Vettel hängt im Verkehr fest, kann er zweimal auf frische Supersofts gehen. Punkte sollten auch von Startplatz 18 noch locker möglich sein.

Massa hatte im vergangenen Jahr Probleme beim Überholen, Foto: Sutton
Massa hatte im vergangenen Jahr Probleme beim Überholen, Foto: Sutton

Ähnlich weit hinten startet Felipe Massa, der ebenfalls Probleme mit seinem Antrieb hatte. Auch der Williams hat einen guten Topspeed, allerdings hatte Massa schon im vergangenen Jahr Probleme damit, den Speed in Überholmanöver umzusetzen. Außerdem geht der Williams mit den Reifen nicht besonders schonend um, erst recht nicht im Verkehr.

Deshalb wird es hinter der Spitze auch spannend. Lotus ist an Williams dran. Und der E23 geht mit dem schwarzen Gold schonender um als der FW37. Allerdings hat sich Valtteri Bottas wie die beiden Mercedes-Piloten und Kimi Räikkönen noch einen frischen Satz Supersofts aufgehoben. Diesen Vorteil kann er allerdings nur ausspielen, wenn er zweimal zum Stopp kommt.

Dahinter muss Nico Hülkenberg wohl etwas abreißen lassen. Der Force India funktioniert zwar in Montreal ebenfalls gut, allerdings klafft schon eine kleine Lücke auf Lotus. Außerdem ist der Reifenverschleiß noch ein wenig höher als bei Williams. Spannend wird eher das Duell zwischen Force India und Red Bull.

Red Bull hat die bessere Longrun-Pace, wird aber vom Spritsparen deutlich mehr getroffen als Force India. Auch wenn Force India noch nicht die letzte Ausbaustufe der Mercedes Power Unit im Heck hat, dürfte das Pendel in Richtung der Inder ausschlagen. Red Bull muss sich möglicherweise eher nach hinten umschauen - denn auch Sauber hat mit dem Ferrari-Triebwerk einen Verbrauchsvorteil.